Finanzverwaltung verunsichert Bildhauer und Gießereien
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Kunstgießereien machen keine Kunst, sondern Handwerk. So sieht es seit 2014 die Steuergesetzgebung vor. Gießereien müssten die höhere Mehrwertsteuer zahlen. Nicht mal die Finanzämter wussten das. Nun bitten sie die Gießereien rückwirkend zur Kasse.
Eine Hinterhof-Werkstatt mitten in der Fußgängerzone von Mainz-Kastel, einem Stadtteil von Wiesbaden, also Hessen. Eine kleine Tonfigur liegt auf einer Werkbank. Ludwig Theilmann, Co-Inhaber der Firma Kunstguss Kastel, beugt sich gemeinsam mit der Frankfurter Künstlerin Doro Koidl über die Plastik. Koidl hat die Oberfläche nicht ganz so glatt hingekriegt, wie sie es sich gewünscht hätte. Sie beratschlagt sich mit Theilmann.
"Ja, in dem Ton haben Sie schon noch ein paar Möglichkeiten jetzt. Und den Rest können Sie im Wachs noch korrigieren im Wachsstadium." - "Eben - wenn mir das noch wichtig wäre."
Die Künstlerin nickt. Das Wachspositiv als Vorstufe des Gusses nachzubearbeiten, erscheint ihr eine gute Idee.
"Ich glaube, das machen wir." "Das können wir dann ja zusammen machen."
Die Gießerei hat ein eigenes künstlerisches Profil
Nach Weihnachten soll Koidls Figur gegossen werden, im Januar stellt die Künstlerin in einer renommierten Frankfurter Galerie aus. In Koidls Augen ist der Bildgießer kein Handwerker, sondern künstlerisch aktiv.
"Absolut, absolut! Die Gießerei hat ein eigenes künstlerisches Projekt. Man kann sehr viel rausholen oder auch nicht aus einer Figur. Und ich glaube, insofern haben sie eine künstlerische Mitsprache im Prozess des Gießens, durchaus."
Ludwig Theilmann, Bildgießer und studierter Künstler sieht es so:
"Wir sind auch schon oft mit im Spiel, wenn das Kunstwerk, das Original, entsteht, da wird unsere Mitarbeit gefragt oder gebraucht. Wir sind schöpferisch und kreativ mit tätig. Es gibt da durchaus eine gewisse Urheberschaft von unserer Seite."
Kunstgießer - laut Umsatzsteuergesetz 2014 reine Dienstleister
Doch seit knapp sechs Jahren zählt das nicht mehr. Dabei hat sich die Tätigkeit der Kunstgießer gar nicht geändert. Geändert wurde allein das Umsatzsteuergesetz, angepasst an europarechtliche Vorgaben. Seit 2014 gilt, schreibt das Bundesfinanzministerium auf Anfrage:
"Schöpfer des Werkes ist stets nur der Künstler selbst. Eine Kunstgießerei ist dementsprechend grundsätzlich weder Urheber noch Miturheber des eigentlichen Werkes, wenn die Kunstgießerei lediglich die handwerkliche Umsetzung des Werkes durch Anfertigung eines Abgusses auftragsgemäß für den Künstler ausführt, zum Beispiel anhand eines vom Künstler angefertigten Negativs oder sonstigen konkreten Entwurfs. Nur wenn die Kunstgießerei das Werk auch selbständig – ohne eigene Vorlage des Auftraggebers – entworfen hat, kommt folglich eine Steuerermäßigung in Betracht."
Kunstgießer, herabgestuft zu rein handwerklichen Dienstleistern. Mit drastischen finanziellen Konsequenzen: Kunstguss Kastel und alle anderen müssen statt der ermäßigten Umsatzsteuer von 7 % den vollen Satz von 19 % aufschlagen. Die Bildhauerin Doro Koidl wendet sich an Ludwig Theilmann:
"Das ist ein Problem für Sie, und das ist auch ein Problem für den Künstler",
Großer Schaden für Kunstgießer wie Künstler
Die sind oft keine Großverdiener. Doch für die Unternehmen ist der Schaden weit größer. Hätten Kunstguss Kastel und andere deutsche Bildgießer direkt bei Inkrafttreten 2014 von der neuen Rechtslage erfahren, hätte sich das Desaster noch in Grenzen gehalten. Doch die betroffenen Unternehmer, ihre Steuerberater und auch die Betriebsprüfer vieler Finanzämter kannten die neue Regelung lange nicht. Mauritius Korfmann, designierter Nachwuchschef von Kunstguss Kastel, erinnert sich:
"Im Jahr 2017 hatten wir eine Betriebsprüfung über das Jahr 2014. Die Prüferin war mit ihrem Kollegen vor Ort, hat sich die Gießerei angeguckt, hat sich die Arbeitsfelder angeguckt und hat im Jahr 2017 für 2014 entschieden, dass wir weiterhin 7 % berechnen können."
Was Kunstguss Kastel im Vertrauen darauf auch in den Folgejahren tat. Bis 2019 die Ansage des Finanzamts kam: der Betrieb müsse die volle Umsatzsteuer von 19 % berechnen, und zwar auch rückwirkend, zunächst für 2018. Auf einen Bescheid für die Jahre von 2015 bis 2017 wartet Kunstguss Kastel noch. Vertrauensschutz gilt allein für das falsch geprüfte Jahr 2014. Über die Finanzbeamten sagen Korfmann und Theilmann:
"Die beharren darauf, dass wir Glück gehabt hätten mit dem einen Jahr, und die rechtliche Situation sieht nun mal so aus, dass wir 19 Prozent nehmen müssen, das ist ein Bundesgesetz, da gibt es nichts dran zu rütteln."
"Unwissenheit wirft man uns vor, und die schützt bekanntlich vor Strafe nicht. Dass die Prüfung auch irgendwie aufgrund von Unwissenheit so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist, das ist anscheinend völlig egal, dieser schwarze Peter bleibt nichtsdestotrotz bei uns."
Also stellt Kunstguss Kastel 300 Rechnungen neu.
"In der Hoffnung, dass die Kunden die Differenz begleichen, ansonsten bleiben wir auf den Forderungen sitzen. Ganz tolle Gespräche, die Sie da zu führen haben! Da haben Sie die ganze Palette: Verärgerung, Verwunderung, Unverständnis, hin und wieder auch Mitleid und die Bereitschaft, uns da irgendwie zu helfen."
Existenz der Betriebe gefährdet wegen Nachzahlungen
Geholfen hätte gern Uli Röhm, Ehemann der rheinhessischen Bildhauerin Rosi Röhm. Ihr flatterte eine korrigierte Rechnung ins Haus. Uli Röhm ist pensionierter Mitgründer der ZDF-Wirtschaftsredaktion WISO und findet das Agieren des Finanzamts Wiesbaden gegenüber Kunstguss Kastel absurd. Seine Frau kann die nachgeforderte Steuer schließlich absetzen.
"In dem Fall wird eine Mehrwertsteuer erhoben, die aber unterm Strich wieder dem nächsten erstattet wird. So dass in der Staatskasse nichts übrig bleibt, und es ist ein reines Nullsummenspiel. Was dazu kommt, ist ein enormer Aufwand auf Seiten der Finanzverwaltung, der natürlich Geld kostet. Damit wird diese Aktion sogar teurer sein, als was man je erhoffen könnte einzunehmen."
Röhm schrieb der Oberfinanzdirektion Hessen. Die schickte ihm auf die Frage, wie ein kleiner Betrieb solch eine Rückforderung stemmen soll, als Antwort nur die Paragrafensammlung, auf der die Neuregelung fußt. Und:
"Vor dem Hintergrund, dass in Hessen eine sehr begrenzte Anzahl an Kunstgießereien existieren, sind uns weiterführende Aussagen, die Rückschlüsse auf einen konkreten Einzelfall zulassen, im Hinblick auf die Wahrung des Steuergeheimnisses leider nicht möglich."
Fazit: Kein Nutzen für die Staatskasse, aber Not in den Kunstgießereien. Isabell Kneip, Archäologin und Kunstgießerin, bearbeitet ein Wachsmodell in der Wiesbadener Werkstatt.
"Das ist ein ganz großes Thema, wir sind hier alle ein bisschen angespannt. Wir fürchten um die Existenz."
"Rückwirkend kann ich nicht zahlen, dann wäre ich pleite"
Nicht nur Kunstguss Kastel hängt in der Luft. Betriebe in mindesten drei weiteren Bundesländern haben ähnliche Probleme, zeigt eine Zufallsumfrage. Seit Juni wartet eine bayrische Kunstgießerei auf den Bescheid ihres Finanzamts. Auch dieser Behörde war die Neuregelung von 2014 erst mit großer Verspätung aufgefallen. Jetzt erwägt sie Rückforderungen für die Jahre zwischen 2016 und 2018, die das Unternehmen seinen Kunden mit neuen Rechnungen zustellen müsste.
"Sollten 6 % Vollzugszinsen dazu kommen, würden wir klagen", sagt am Telefon die Co-Chefin des Familienbetriebs. Der bleibt wie Kunstguss Kastel auf mindestens einigen Tausend Euro sitzen, die bei den Künstlern nicht mehr zu holen sind. 20 Kunden sind verprellt und damit verloren, schätzt die Chefin. Den bayrischen Finanzbehörden sei das egal, klagt sie.
Ähnliches berichtet eine Kollegin aus dem Nachbarland Baden-Württemberg. In einem weitern Bundesland erfuhr ein Kunstgießer erst Anfang des Jahres von dem geänderten Steuersatz.
"Sofort habe ich alle Rechnungen 2019 nur noch mit 19 % Mehrwertsteuer veranschlagt. Rückwirkend kann ich nicht zahlen - ich wäre dann einfach pleite",
…schreibt er auf Mail-Anfrage. Mit der Bitte, weder Namen noch Ort zu nennen. Unwissende Steuerbehörden, die Kunstgießer mit rückwirkenden Forderungen an den Rand des Ruins treiben. Was sagt das Bundesfinanzministerium dazu? Die Einzelfälle könnten nur die Behörden vor Ort kommentieren, konstatiert ein Ministeriumssprecher. Wie die Richtlinie umgesetzt werde, falle nicht in sein Ressort.
Kurios: In mindestens einem Bundesland wissen Kunstgießer noch nichts von der Neuregelung. Offen, ob dort die Finanzverwaltung ebenfalls ahnungslos ist. Oder die Neuregelung einfach ignoriert, um die kleine Branche zu schützen. Nur: für Betriebe, die Künstlern jetzt den vollen Satz berechnen müssen, stellen die Unwissenden eine Dumping-Konkurrenz dar.