Steve Silberman: Geniale Störung. Die geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken
Übersetzt von Harald Stadler und Barbara Schaden
Dumont Verlag, Köln 2016
608 Seiten, 28 Euro
Dieser Kopf ist anders als der Durchschnitt
Der amerikanische Autor Steve Silberman fordert, autistische Kinder und Erwachsene so zu nehmen, wie sie sind – und sich auf ihre gesellschaftliche Teilhabe und Förderung zu konzentrieren. Sein Buch "Geniale Störung" ist in den USA ein Bestseller.
Täglich erhielt die kleine Beth Schläge, wenn sie nicht innerhalb von Sekunden auf Befehle reagierte. Der Fußboden des Labors, in dem Forscher das Kind drillten und konditionierten, wurde unter elektrischen Strom gestellt, so dass man Beth bei Bedarf Schmerzen durch den Körper jagen konnte – mit Erfolg, wie die Forscher stolz verkündeten: Das autistische Kind normalisiere sich mit jedem Tag mehr.
In seinem wuchtigen und in den USA schon zum Bestseller avancierten Buch "Geniale Störung" rollt der amerikanische Wissenschaftsjournalist Steve Silberman die Geschichte der Erforschung von Autismus auf – von ersten Beobachtungen, die Ärzte Anfang des 20. Jahrhunderts notierten, über menschenverachtende Therapien bis hin zu den Fördermöglichkeiten und Interpretationen heutiger Tage. Noch vor wenigen Jahrzehnten, so der Autor, hatten die meisten Kinderärzte den Begriff Autismus nicht einmal gehört. Doch dann schnellten die Zahlen massiv in die Höhe - parallel zum steigenden Bewusstsein für die weite Verbreitung des Syndroms und zu besseren Diagnoseverfahren. Gleichzeitig breiteten sich Panik und Hysterie aus.
Brutale Therapien
War Autismus ansteckend? Lag es an falscher Ernährung, Impfstoffen, "eiskalten Müttern"? Ein wildes Potpourri an Wundermethoden, psychoanalytischen Kurzgriffen und brutalen Therapien findet sich in der Geschichte des Autismus, wie der Autor eindringlich schildert: Das Mädchen Beth geriet in den 1960er-Jahren in die Hände des bekannten Psychologen Ole Ivaar Lovaas, der sich an der behavioristischen Hundedressur orientierte – seine Mitarbeiter wussten, wie er seine Erfolgsmeldungen schönte und frisierte.
Auch wenn Steve Silbermans Buch anfangs viel zu breit und ausführlich angelegt ist, nimmt es schnell an Fahrt auf, immer dann, wenn die tiefe Überzeugung des Autors spürbar wird: Eine Heilung kann und wird es nicht geben, denn das Spektrum dieser Störung* reicht weit. Längst weißt die Forschung – wie einige der Pioniere, deren Leben und Arbeit das Buch farbig Revue passieren lässt –, dass ausgeprägte Autisten häufig einen, oft auch zwei Elternteile haben, die ein wenig abseits des durchschnittlichen Spektrums anzusiedeln sind: verschrobene Tüftler oder Computernerds, Sammlerinnen absonderlicher Devotionalien oder 24/7-Science-Fiction-Fans. Schon der erste Steinzeitmensch, der sich mit dem Faustkeil befasste, sagt im Buch eine zitierte "Neurodiversitätsaktivistin", saß nicht gesellig mit den anderen am Feuer, sondern hockte in einer Höhlenecke und brütete über Steinabschlagkanten.
"Neurodiversität" – mit diesem Begriff fordern die Betroffenen heute ihre Akzeptanz ein. Deutlich stellt sich Steve Silberman auf ihre Seite: Das Gezerre um Diätpläne, Impfverweigerung und "eiskalte Mütter" müsse ebenso aufhören wie die Suche nach pharmazeutischen Durchbrüchen oder Gentherapien. Stattdessen gelte es, autistische Kinder und Erwachsene so zu nehmen, wie sie sind – und sich auf ihre gesellschaftliche Teilhabe und Förderung zu konzentrieren.
* Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Text-Fassung haben wir an dieser Stelle Autismus als "Erkrankung" bezeichnet. Da der Begriff eine Vielzahl an Entwicklungsstörungen sammelt, verwenden wir in der neuen Fassung den Begriff "Störung". Auch in der Audio-Fassung des Kollegengesprächs fällt der Begriff, wir bitten dies zu entschuldigen.