Das blinde Wunderkind im Rentenalter
Mit zwölf begeisterte der kleine Stevland Morris Motown-Chef Berry Gordy derart, dass dieser ihn fortan nur noch "Little Stevie Wonder" nannte. Und dieses Wunderkind wurde zu dem musikalischen Genie der schwarzen Musik. Heute wird Stevie Wonder 65.
Blind, schwarz und arm – das war die Ausgangssituation für Stevland Hardaway Judkins Morris aus einem Kaff in Michigan.
Als Frühgeburt durch zu viel Sauerstoff im Inkubator erblindet, wuchs er fast so auf wie andere Kids: "Ich spielte, fuhr Fahrrad und kletterte auf Bäume." Dann zog seine Familie nach Detroit, in die Stadt der großen Autofirmen. Keine Bäume zum Klettern, keine Straßen für blinde Radfahrer: Also steckte Stevie seine Ohren tief in schwarze Musik.
In der Kirche sang er im Gospelchor, im Nachbarhaus klimperte er auf dem Klavier, und zuhause trommelte er auf Bongos, Tischen und auf Fensterbänken. Nebenbei saß er dann dauernd mit der Mundharmonika vorm Radio und begleitete die Blues- und Jazzmusiker, die darin spielten.
Und irgendjemand schleppte den äußerst begabten elfjährigen Stevland Morris zum Chef der örtlichen Plattenfirma Tamla Motown, und der sagte ihm: Meine Leute hier meinen, du seist ein Genie. Ich nenne dich: mein Wunder. Mein kleines Wunder: Little - Stevie - Wonder!
Motowns bester Songschreiber
Das war das Wunder mit zwölf. Und als es älter wurde, da haute er die Leute dann mit den Songs vom Hocker, die er für andere schrieb - und schnell einer der besten Songschreiber der Firma wurde: für die Four Tops und die Spinners – und das hier:
Diese Smokey-Robinson-Mega-Hit-Melodie hat Stevie Wonder mit sechzehn geschrieben. Und er setzte dem Studioboss also die Pistole auf die Brust – und handelte einen neuen Vertrag aus mit nie dagewesenen Freiheiten für ihn als Künstler: Und als er dann alles selber schreiben, singen, Instrumente spielen und selbst produzieren durfte, da kam dann eine bis dahin ungehörte, ach was: noch niemals auch nur gedachte Musik heraus!
Stevie Wonder hatte alles: schiere Musikalität, sängerische Größe, verwinkelte Rhythmen, eingängige Melodien, spielte einfühlsam alle möglichen Instrumente - und war ein raffinierter Produzent! Er entwickelte eine völlig eigene Musiksprache: weich wie Butter, blau wie eine Gospelpredigt, süß wie Karamellcreme.
Und dann führte er die Höllenmaschine in den Soul ein: den Synthesizer, der ihm die Kontrolle über alle Töne gab, die er beim fröhlichen Vermischen brauchte von Sozialkritik und Liebesliedern, Jazz mit Gospel, Pop mit Funk, Broadway mit Afrika, Reggae mit klassischen Anleihen: Das mixte er alles, notfalls auch gleichzeitig.
Mit drei Alben hat Stevie Wonder die Latte so hoch gelegt, dass danach – so ziemlich die Luft raus war: Talking Book von '72, Innervisions von '73, und mit den Songs In the Key Of Life von '76 – den Liedern in der Tonart des Lebens – definierte er geradezu die schwarze Musik der Gegenwart – wie ein Kompendium von Duke Ellington über Schmuse-R'n'B bis Funkrock. Und allein auf diesem Album waren mehr Melodien als manche Musiker während ihrer Karriere hinkriegen!
Lieber Papasein statt Produzent
Nach diesem Album hatte er anscheinend seinen kreativen Überdruck rausgepowert, und es kamen noch ein paar Megahits fürs Frühstücksradio und öde Alben mit ein, zwei guten Stücken und viel Synthesizerspielereien: Aber das Plattenmachen scheint ihn auch nicht mehr zu interessieren.
Er lebt inzwischen gut mit seinem Legendenstatus und verbringt seine Zeit lieber mit seinen Kindern: Das älteste ist zwar 29, aber das jüngste gerade frisch vom Dezember, Nummer 9. "Das ist Stevies Methode für sein Glück," sagt ein Freund: Kinder.