Verstehen, was Verlust bedeutet
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Nach langen Querelen eröffnet in wenigen Tagen im Berliner Deutschlandhaus ein Dokumentationszentrum. Die Ausstellung fokussiert sich auf die europäische Geschichte der Zwangsmigration und sucht das Gespräch mit seinen Besuchern.
Seit 2016 leitet Gundula Bavendamm das "Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung" – sie brachte Ruhe in die bis dahin oft mehr als aufgeregte öffentliche Debatte. Deren Kernfrage war: Wie können Flucht und Vertreibung der Deutschen dargestellt werden, ohne, dass die Verbrechen der NS-Diktatur und die deutsche Verantwortung für den Massenmord an den Juden relativiert werden? Gundula Bavendamm hält diese Frage für einen der schwierigsten Balance-Akte unserer Erinnerungskultur.
Weg vom Schwarz-Weiß-Denken
"Deswegen hatte ja auch die Gründungsgeschichte dieser Stiftung und dieses Hauses das eine oder andere etwas stürmischere Kapitel. Ich habe ja auch von dem Opfer-Täter-Schema gesprochen und dass alles, was wir gewohnt sind, normalerweise in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten zu sehen, oftmals doch Grautöne hat. Und sich diesen Grautönen zu widmen, ist brisant. Damit hatten wir hier zu tun.
Wir sind der Auffassung, dass wir es gelöst haben. Insofern, als dass eben diese festen Kontextualisierungen, die ja auch zum Auftrag der Stiftung gehören, die europäische Geschichte der Zwangsmigration und vor allem der Kontext der NS-Geschichte, der 2. Weltkrieg, die verbrecherische Besatzungsherrschaft der Deutschen – das alles ist hier so fest verankert, dass ich glaube, dass es trägt."
Es "trägt" in der Tat. Der Balance-Akt gelingt. Gestützt auf die Arbeit eines international besetzten, wissenschaftlichen Beraterkreises nimmt die Ausstellung tatsächlich eine durchweg europäische Perspektive ein. Der Rundgang beginnt mit sechs "Themeninseln" als Einführung in die europäische Geschichte der Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert: Fotos, Filme, Karten, Objekte.
Der Reisepass einer deutschen Jüdin mit einem aufgestempelten "J", das Tagebuch eines Mädchens aus Ostpreußen über erlittene sexuelle Gewalt, Briefe, Plakate, Behördenerlasse, der mitgenommene Hausschlüssel als Hoffnungsträger für eine gesunde Rückkehr, das Smartphone eines Flüchtlings aus Syrien, die im letzten Moment mitgenommene Puppe eines Kindes aus Bosnien. Flucht und Vertreibung gezeigt als universelles Thema. Jochen Krüger, Kurator und Projektleiter der Ständigen Ausstellung:
"Ein Großteil der Objekte befindet sich in unserer eigenen Sammlung, die seit Beginn der Stiftung mit aufgebaut wurde. Dann gab es diesen großen Aufruf, dass Menschen ihre Fluchtgeschichte mit uns teilen. Über 700 Antworten kamen da – und das waren nicht nur Brief-Antworten, sondern häufig auch ganze Kartons oder mitunter Wagenladungen, und dann tatsächlich über feinteilige wissenschaftliche Recherche."
Versöhnung ist das Ziel
Diese Objekte entfalten auch deshalb große Wirkung, weil das gesamte Ausstellungsdesign nüchtern daherkommt. In hohen Räumen aus Beton werden die Objekte mit großer Zurückhaltung präsentiert, auf und in schmucklosen Regalwänden und flachen Vitrinentischen aus Metall. Es gibt viele Medienstationen, ein Archiv mit Zeitzeugeninterviews, eine Bibliothek. Flucht und Vertreibung geben den thematischen Rahmen ab, Versöhnung ist das Ziel. Direktorin Gundula Bavendamm:
"Versöhnung ist unsere Haltung. Versöhnung hat etwas mit Empathie zu tun, Versöhnung hat etwas mit Klarheit zu tun, bezogen darauf auch, dass wir zum Beispiel die Verursacher von Zwangsmigration benennen. Versöhnung hat etwas mit Ausgewogenheit zu tun. Wir stellen uns hier Polarisierungen und Relativierungen entgegen, wir arbeiten auf dem Boden der Wissenschaft, wir tun es ruhig, wir tun es nüchtern – und vor allem laden wir zum Gespräch ein und respektieren unterschiedliche Meinungen."
In der zweiten Etage geht es vertiefend um Flucht und Vertreibung der Deutschen. NS-Staat und 2. Weltkrieg werden thematisiert, der Holocaust, die Planungen der Alliierten für die Vertreibung der Deutschen während des Krieges, die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz, kriegsbedingte Evakuierungen, die Massenflucht der Deutschen vor der Roten Armee.
Die Siegermächte sahen Vertreibungen als Mittel zur Neuordnung Europas an. Davon betroffen waren etwa 14 Millionen Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und den südosteuropäischen Siedlungsgebieten, aber auch Millionen Menschen aus Polen, der Ukraine oder Weißrussland. Das letzte Kapitel beschreibt, wiederum mit Objekten, Dokumenten, Fotos, Karten die Ankunft und Verteilung von etwa zwölfeinhalb Millionen Menschen in den Besatzungszonen Deutschlands und ihre oft nicht einfache Integration in die Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR."
"Verstehen, was Verlust bedeutet"
"Für uns hier war in den letzten Jahren ein Satz wichtig, der heißt: 'Verstehen, was Verlust bedeutet.' Denn Menschen, die durch Zwangsmigration gehen, fliehen, flüchten, vertrieben werden, haben ja ein Leben danach. Das heißt, sie müssen sich zeit ihres Lebens damit auseinandersetzen, was diese Zäsur in ihrer Biografie bedeutet. Und insofern ist, glaube ich, diese Vieldimensionalität von Verlust und ein Verständnis dafür zu entwickeln, was das alles heißen kann, jenseits von Besitz – hier ist ein Ort, wo man das, glaube ich, sehr gut erfährt", sagt Gundula Bavendamm.
Verstehen, was Verlust bedeutet – die Ausstellung macht es möglich. Nach den Querelen der Anfänge dieses Projektes hat das etwas Unglaubliches.