Wenn nur das Püree leise schmatzt
Wie ist es, 90 Minuten mit fremden Menschen an einem Tisch zu sitzen und kein Wort sprechen zu dürfen? Die Künstlerin Nina Backman ist der Stille in Großstädten auf der Spur. Zu Besuch bei einem Experiment in Finnland.
Erst die Sesamstangen, die laut zwischen den Zähnen krachen. Und jetzt der Blumenkohl. Bestimmt ist er Teil der Versuchsanordnung: Es klingt beinahe brutal, wie 22 Löffel taktlos versuchen, die weißen Röschen in der Suppe zu zerteilen.
Aber nach einer Weile klingen die Geräusche versöhnlich, fast wie eine Musikkomposition. Allegro, Presto, Adagio. So oder so: Beim "Silent Dinner" ist es alles andere als still.
Das Experiment: Ein Abend in der "Galleri F15" in Moss, unweit von Oslo. 22 Menschen, die sich nicht kennen. Ein Drei-Gänge-Menü. Und dabei und vor allem: kein Wort. Anderthalb smalltalkfreie Stunden gießen die Gäste glucksend Wein in ihre Gläser, zerteilen Gemüseschnitze. Und schauen, was passiert. Mit ihnen selbst und mit den Menschen um sie herum.
Damit beschäftigt, möglichst leise zu kauen und zu schlucken
Der Löffel eines Mannes, runde Brille, schütteres Haar, rutscht am Blumenkohl ab, Suppe schwappt über den Tellerrand. Er schaut in die Runde, keiner hat ihn ertappt. Die meisten sind damit beschäftigt, möglichst leise zu kauen und zu schlucken und die Gläser behutsam auf dem weißen Tischtuch abzustellen.
Aber es wird nicht still. Es wird immer lauter. Vor allem in der Pause zwischen den Gängen. Wohin nur mit Händen, Blicken, Gedanken? Am Tischende fängt jemand an zu kichern.
Die Unruhe pflanzt sich durch die Reihe fort. Gastgeberin Nina Backman hat sich so etwas schon vorher gedacht:
"Es ist so ein finnischer, vielleicht nordischer Gedanke: Wenn du schweigen kannst, bist du mit dir im Reinen. Es verrät viel über eine Person, wenn sie nicht mit sich still sein kann..."
Es ist ihr drittes Silent Dinner, sie beobachtet die Gäste genau. Backman ist keine Verhaltensforscherin. Sie ist Künstlerin und stammt aus Finnland, einem großen Land mit einer kleinen Bevölkerung - und dem "Jokamiehenoikeus", dem "Jedermannsrecht": Das heißt: Land, Wälder, Seen sind für alle da. Auch deshalb haben die Menschen seit jeher eine enge Bindung zur freien Natur und ihrer Stille.
Das Püree schmatzt leise
Das Abendessen ist Teil eines interdisziplinären "Silence Project", in dem Backman gemeinsam mit anderen Künstlerinnen die Stille ihrer Heimat im Lärm der Großstadt sucht. Und testet, wie groß der Einfluss der jeweiligen Kultur auf so ein Dinner in Berlin, Oslo oder Hongkong ist.
Die Kellnerin mit dem blonden Zopf ist im Anmarsch: Man lernt schnell, wie verschieden die Schuhe auf dem Parkett klingen. Bald sitzen die ersten vor ihrem Rentierfilet an Kartoffelmousse - und wissen nicht recht, ob sie schon anfangen sollen. Schließlich wartet die Gastgeberin noch auf ihren Teller. Und den Nachbarn fragen kann man schließlich nicht.
Dann hört man endlich all das, was sonst untergeht, weil nebenher das Kind schreit, oder das Radio läuft: Das Püree schmatzt leise, die Pastete blättert auseinander wie leises Rascheln im Laub.
Es ist eine Stille, die an John Cages "Silent Piece" von 1952 erinnert: Der Avantgarde-Komponist lieferte das Publikum seinem Hüsteln aus, dem Rauschen im Raum: Der Pianist saß auf der Bühne ohne einen Ton zu spielen. Aber es war nicht still. Absolute Stille gibt es nicht - nicht einmal im schalltoten Raum, wo noch das Blut in den eigenen Adern rauscht und der Herzschlag pulsiert.
"Eine sehr intime Erfahrung"
Was also ist Stille, ein Ort, ein Gefühl? Wo fängt sie an, wo hört sie auf?
Nach anderthalb Stunden beendet Nina Backman das Schweigen. Fast scheint es, als hätten alle seit der ersten Sesamstange die Luft angehalten - und dürften endlich wieder atmen.
"Es war komisch - da war so eine Verbundenheit: Die Leute kommen einem vor wie alte Freunde, obwohl ich sie gar nicht kenne!"
"Das war eine sehr intime Erfahrung, wenn man sich nur mit Gesten und Körpersprache verständigen muss... Das ist sehr speziell."
Essensreste sind jetzt Kunst
"Die meisten sind gefangen in ihren Körpern. Ich habe nach Blickkontakt gesucht, aber alle sind ausgewichen. Und jetzt, wo wir wieder reden, schauen einem plötzlich alle in die Augen! Ich glaube, in so einer Ausnahmesituation lernt man viel über sich selbst - und über zwischenmenschliche Beziehungen."
"Das war fast 'Cage-esk', eine Stille mit einem bestimmten Rhythmus. Zwischendurch war ich auch in meine Kindheit zurückversetzt: Ich wurde zum Haareschneiden immer auf so eine Farm geschickt, wo die Leute auch so schweigsam waren. Und: Eigentlich bin ich so ein 'steak guy', aber das Fleisch schmeckte plötzlich nicht mehr, fast langweilig verglichen mit dem anderen Essen, und es war schwer zu kauen!"
Am nächsten Tag stehen die Weingläser mit den eingetrockneten Resten immer noch auf dem Tisch, Spuren der Erdbeersoße wirken im Tageslicht seltsam entrückt. Die Essensreste sind jetzt Kunst: Als Teil einer Gruppenausstellung zeigen sie, wie besonders Stille geworden ist: Sie braucht jetzt einen Ausstellungsraum, um überhaupt bemerkt zu werden.
Mehr Information finden Sie auf der Webseite des Projekts.