Stille statt Gelaber

Von Gerhard Richter |
Früh bekommt sie Kinder, macht Abitur, studiert, gründet eine Journalistenschule. Doch als die 73-jährige Imme de Haen den tibetischen Buddhismus für sich entdeckt, geht es für sie aufs Land: Am Gülper See in Brandenburg eröffnet sie einen Hof der Stille - und lädt Interessierte zu einer Schweigewoche ein.
Imme de Haen: "Und dann schlägt der Gong dreimal und dann beginnt die Schweigewoche. Und der Gong wird dann nach sieben Tagen wieder geschlagen und dann ist die Schweigewoche aufgehoben und zu Ende."

Dazwischen herrscht Stille. Jedenfalls spricht niemand miteinander. Weil es vorher keine Vorstellungsrunde gibt, wissen die Teilnehmer sowieso nichts voneinander, nur den Vornamen.

Imme de Haen: "Das hat sich sehr bewährt, weil manche Leute geradezu erschrecken, dass sie eine ganze Woche lang neben einer Professorin gesessen haben, ohne das zu wissen. Da hat man dann einfach so seine Bilder im Kopf und deswegen ist das auch ganz wichtig, dass das neutral bleibt."

Eine Woche lang ist jeder mit seinen Gedanken allein und kann sie umhertragen: durch das alte Backsteinhaus mit dem Meditationsraum unterm Dach, durch die vier rechteckigen Rasenflächen im Garten, zu den verschwiegenen Sitzecken mit den Buddhafiguren oder durch den Wald aus Ulmen und Kopfweiden hinunter zum Fluss. Ausufernder Raum für das eigene Ich, für Gedanken und Gefühle.

"Es kommt in jeder Woche vor, dass jemand mit Tränen über den Hof läuft und jemand selig lächelnd im Liegestuhl liegt oder so, und natürlich habe ich alle meine Antennen ausgefahren, um das wahrzunehmen."

Imme de Haen trägt ihre dichten grauen Haare in einer jugendlichen Bobfrisur. Mit der randlosen Brille sieht sie deutlich jünger aus als 73 Jahre. Die Teilnehmer der Schweigewochen vertrauen ihr. Wer ein Problem hat, kann einmal am Tag15 Minuten mit ihr reden. Alle anderen Bedürfnisse und Wünsche werden nur über Zettel mitgeteilt. Täglich bietet Imme de Haen eine geführte Meditation an und versorgt die Schweigenden mit vegetarischem Essen und Aufmerksamkeit.

"Das ist ein Fulltimejob in diesen sieben Tagen. Ich mache es, weil es so eine wunderbare Art ist, auf Menschen einzuwirken und einen Anstoß zu geben. Wobei mir immer wieder klar ist, dass bin nicht ich, es ist die Ruhe, die Stille und ganz wichtig, die Natur."

Von guten Mächten behütet
Es ist vielleicht auch ihr unerschütterliches Vertrauen, dass ihr in die Wiege gelegt wurde, wie ein Familienerbstück. An der Wand ihres Arbeitszimmers hängen die Porträts ihrer Ahnen, väterlicherseits vier protestantische Pastoren, mütterlicherseits Großbauern. Imme de Haen wird 1940 geboren, als drittes Kind in einem riskanten Familienkonstrukt. Ihr Vater ist Ingenieur im Luftfahrtministerium, ihre Mutter hat jüdische Wurzeln. Aber schon fühlt sie sich - trotz Krieg - von guten Mächten behütet.

"Meine frühesten Kindheitserinnerungen sind die an die Bombennächte im Keller, und ich durfte dann in der großen Kartoffelkiste schlafen, die Erwachsenen saßen alle um mich rum und redeten leise. Ich hörte zwar manchmal so ein dumpfes Grollen, aber das hat keine weitere Bedeutung gehabt für mich, ich fand es nur wunderschön."

Auch später vertraut sie ihren Gefühlen. Mit 16 lernt sie ihren Mann kennen, schmeißt seinetwegen die Schule und bekommt mit ihm vier Kinder. Als die größer sind, holt sie das Abitur nach und studiert in Frankfurt Pädagogik und Soziologie. Später gründet und leitet sie in Berlin die evangelische Journalistenschule. Währenddessen besucht sie im Schwarzwald einen Kurs für Buddhismus. Fünf Jahre lang übt Imme de Haen den strengen Zen-Buddhismus, dann entdeckt sie die etwas freudvollere tibetische Variante.

"Da wird gesungen und mit Tanzen und Glöckchen und mit Blumen und mit all so schönen farbigen Dingen und da hab ich mich einfach mehr zuhause gefühlt."

Auch räumlich sucht sie ein neues Zuhause. Im Berliner Umland klappert sie mit ihrer Schwester leer stehende Immobilien auf den Dörfern ab - bis in das abgelegene Gülpe am Rande Brandenburgs.

"Und dann fahren wir um den Kirchplatz herum und dann sahen wir da unten das Wasser, und dann fing mein Herz schon an zu schlagen. Und dann haben wir über das Tor in den Innenhof von diesem Vierseithof geschaut und dann hab ich meine Schwester angeguckt und gesagt, das ist es!"

Hier ist jeder bei sich und den irdischen Dingen. Bäume, Blumen, Bücher, warme Decken, Wind und Wellen, und jeden Abend ein Sonnenuntergang vom Feinsten. Stumm und ohne Kommentar genossen. Kein Smalltalk, keine Phrasen, kein Gelaber. Nach einer Woche sehen alle erfrischt aus, erzählt Imme de Haen, die durchaus glaubt, dass höhere Mächte mitwirken. Aber mit Worten kann und will sie das nicht beschreiben.

"”Ich kann nicht genau sagen, wie das funktioniert, aber es ist für mich immer ein kleines Wunder, wie die Leute hier Abschied nehmen und was geschieht, wenn nichts geschieht.""


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