Anlässlich der Europawahl am 26. Mail 2019 haben wir Schriftstellerinnen in der Reihe "Stimmen für Europa" gefragt: Was bedeutet Ihnen Europa? Was gilt es zu schützen und was zu kritisieren? Dabei sind literarische Texte entstanden, die verschiedene kulturelle und sprachliche Hintergründe haben.
Dana Grigorcea wurde 1979 in Bukarest geboren. Mit einem Auszug aus ihrem Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit" wurde sie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.
Wir sollten den Hardlinern bei der Europa-Wahl misstrauen
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Die Schriftstellerin Dana Grigorcea erinnert sich noch an Pferdewagen in Bukarest. Heute sie wünscht sich sich, dass wir Europäer "weniger zwanghaft am Tropf der Social-Media-Accounts hängen" und mit Humor gegen Hardliner in der Politik vorgehen.
Ich bin im kommunistischen Osteuropa aufgewachsen, im diktatorischen Rumänien – und nach der Wende fühlte ich mich wie eine Zeitreisende.
Das kam so: Die Freiheiten und mannigfachen, mitunter betrüblichen Konsequenzen des anbrechenden Wohlstands haben das Stadtbild Bukarests sehr stark … sagen wir: geprägt und prägen es weiterhin, in einem Maße, dass man nach längerer Abwesenheit die Stadt kaum noch erkennt.
Schwarz-Weiß-Fernseher mit Farbfolie
Damals in meiner Kindheit fuhren Pferdewagen noch in rauen Mengen durch Bukarest, und die Autos durften nur fahren, wenn ihr Nummernschild das zuließ: An einem Tag die Autos, deren Nummernschild mit einer ungeraden Ziffer endete, am Tag darauf die mit der geraden Ziffer.
Und die Geschichte mit dem Schwarz-Weiß-Fernseher, dessen Bildschirm mit einer dreifarbigen Folie beklebt wurde – die Geschichte, die ich in meinem Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit" erzähle –, die habe ich so erlebt. Der oberste Bereich der dünnen Folie war blau eingefärbt, blau wie der Himmel – und in der Nahaufnahme hatten alle Menschen leuchtend blaue Augen; der mittlere Bereich war rot, rot wie das Feuer oder wie gesunde rote Wangen; der untere Bereich war grün, grün wie das satte Gras ...
Im Roman erzähle ich, wie die Protagonistin als Kind der Diktatorengattin, Elena Ceausescu, einen roten Blumenstrauß überreichen muss, und die Eltern der Protagonistin, die diese inszenierte Festivität im Fernsehen verfolgen, den Blumenstrauß aber stattdessen blau sehen und sich darüber freuen. Eine herrliche Subversion!
Ich habe die Geschichte mit der dreifarbigen Fernsehfolie auch meinen Schweizer Studenten erzählt. Sie haben sehr darüber gelacht. Und je lauter sie gelacht haben, desto besser verstand ich, dass wir heute Lichtjahre von diesen Geschichten entfernt leben: Diese haben bloß noch die Beschaffenheit veritabler Märchen – nicht nur in der Schweiz, wo ich heute lebe, sondern auch in Rumänien.
Den Humorlosen misstrauen
Ich durfte neulich eine weitere Zeitreise unternehmen. Ich weilte in den USA, ich habe herrliche Städte bereist, San Francisco, Seattle, Chicago, Washington, New York, und überall in Parks und Subways und Cafés, hingen die Leute an den Bildschirmen ihrer Handys und Laptops. Sogar in den Museen, in den Gemälde-Galerien!
Zurück in Europa, hoffe ich, dass dieser Trend bei uns noch aufzuhalten ist, dass wir also nicht die ganze Zeit arbeiten und dann zwanghaft am Tropf mehr oder minder seriöser Social-Media-Accounts hängen. Wir sollten zu den dreifarbigen Folien greifen und sie über unsere Bildschirme kleben, wieder humorvoll werden, den Humorlosen misstrauen. Ja, auch hinsichtlich der anstehenden Europawahl den humorlosen Hardlinern misstrauen. Bevorzugen wir bunt!