Anlässlich der Europawahl am 26. Mail 2019 haben wir Schriftstellerinnen in der Reihe "Stimmen für Europa" gefragt: Was bedeutet Ihnen Europa? Was gilt es zu schützen und was zu kritisieren? Dabei sind literarische Texte entstanden, die verschiedene kulturelle und sprachliche Hintergründe haben.
Hatice Akyün wurde 1969 in Anatolien geboren und zog 1972 mit ihrer Familie nach Duisburg. Sie machte zunächst eine Ausbildung zur Justizangestellten und studierte BWL. Seit 2003 ist Hatice Akyün als Journalistin, Schriftstellerin, Drehbuchautorin, Rednerin und Moderatorin tätig. Mit ihrem ersten Buch "Einmal Hans mit scharfer Soße" landete sie einen Bestseller. Es folgten "Ali zum Dessert" und "Ich küss dich, Kismet" und "Verfluchte anatolische Bergziegenkacke".
"Herzlich sein, das ist für mich europäisch"
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Die deutsch-türkische Schriftstellerin Hatice Akyün schätzt an Deutschland, dass sie die Regierung kritisieren kann, ohne im Gefängnis zu verschwinden. Ganz Europa müsse sich wieder auf Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit besinnen.
Man sagt ja immer, der Bauch entscheidet, aber ich entscheide mit dem Herzen. Kopf, das hat immer etwas theoretisches, rationales, technokratisches. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, bin europäisch sozialisiert. Herzlich sein, das ist für mich europäisch, seit ich mit 18 Jahren mit Interrail durch Europa gereist bin.
Meine Eltern kommen aus der Türkei. Wenn ich sie dort besuche, vermisse ich mein europäisches Denken, meine Unabhängigkeit, mein Demokratie- und Toleranzverständnis, eine gewachsene Zivilbevölkerung und Meinungsfreiheit. All die Werte, die ich in Deutschland erfahren habe und die in Europa ganz selbstverständlich sind. Ich kann jetzt sofort die aktuelle Regierung kritisieren, eine Petition starten, eine Demo anmelden, ohne im Gefängnis zu verschwinden. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Meinungsfreiheit. All das ist für mich Europa.
Europa könnte Vorbild sein
Und Europa könnte Stolz empfinden für die Werte, für die es steht. Wenn man sich die Geschichte anschaut, wofür die ersten Mitglieder standen, ist das für mich der Ursprung Europas. Stark ist man nicht durch Größe, stark ist man durch wahre Verbundenheit und gemeinsame Werte. Europa könnte so ein großartiges Vorbild dafür sein, wie man wirtschaftlichen Aufschwung, soziales Miteinander, Demokratie und Freiheit in einer gesunden Umwelt leben kann.
Ich erhoffe mir, dass Europa sich wieder auf diese Werte besinnt, dafür ist es höchste Zeit. Und für meine Tochter wünsche ich mir, dass das Europa der Zukunft wieder zurückfindet zu den Menschen und sich wieder auf jene Basis besinnt, die uns Europäer verbindet: nämlich Solidarität und Gemeinschaft. Wenn ich mir überlege, wie mein Leben im Alter meiner Tochter aussah, hat sie als Europäerin viel mehr Chancen. Mein Leben bestand nur aus Duisburg und dem anatolischen Dorf meiner Eltern – sehr lange, viele Jahre lang. Ich wünsche meiner Tochter, dass sie vielen interessanten, offenen, toleranten Menschen begegnet, dass sie geprägt wird von unterschiedlichen Kulturen, weg von Nationen und Grenzen.
Keine eifersüchtige Nationalstaaterei
Ich möchte keine eifersüchtige Nationalstaaterei, keine Abschiebehaftinsel mit hermetisch abgeriegelten Außengrenzen und keine vor der Marktmacht kuschende Kommission mit abnickendem Ministerrat. Aber dafür müsste man Vorbild sein wollen.
Denjenigen, die vor zu viel Europa warnen, die Grenzen neu errichten wollen und zukünftig stärker die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten suchen wollen, kann ich nur meinen Vater zitieren:
"Zararin neresinden dönülürse ordan kardi." An welchem Punkt eines Irrwegs man auch kehrt macht, es ist immer ein Gewinn.