Anlässlich der Europawahl am 26. Mail 2019 haben wir Schriftstellerinnen in der Reihe "Stimmen für Europa" gefragt: Was bedeutet Ihnen Europa? Was gilt es zu schützen und was zu kritisieren? Dabei sind literarische Texte entstanden, die verschiedene kulturelle und sprachliche Hintergründe haben.
Joanna Bator wurde 1968 in Polen geboren. Ihr dritter Roman "Dunkel, fast Nacht" spielt in der schlesischen Stadt Wałbrzych.
Europa und seine vererbten Traumata
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Ihre Familiengeschichte spiegelt die Geschichte Europas. Die polnische Autorin Joanna Bator erzählt vom Konzentrationslager, von Heimatverlust und vererbten traumatischen Erlebnissen. Sie fürchtet um das friedliche Europa.
Drei Generationen - so lange dauert die Schuld, die sich von einem Sünder vererbt, sagt das Alte Testament. Drei Generationen - so lange dauert das Transgenerationstrauma - behaupten zeitgenössische Psychologen. Ich erzähle euch eine kleine polnische Generationsgeschichte, eine Erzählung, die die Geschichte Europas widerspiegelt wie die Scherbe eines Spiegels.
Fangen wir an mit Stefan, dem Holzfäller. Er nahm eine Bäuerin zur Frau, mit ärmlicher Hütte als Mitgift. Aber bald kam der Krieg und Stefan wurde plötzlich Soldat und danach Partisan. Im Herbst '43 hat er ein Kind gezeugt und im Winter ist er im deutschen Konzentrationslager Majdanek ermordet worden. Er wurde 23. Im Juni '44 kam posthum seine Tochter zur Welt: Angewiesen, Halbwaise und arm zu sein.
Sie wuchs im Zentralpolen auf. Zwei Jahre später verließen Antoni, der Kellner, und Anna, die Hausfrau, ihr betagtes Haus in Radom und machten sich in Richtung der neuen polnischen Westgebiete auf.
Haus an der Hitlerstraße
In Wałbrzych, das aufgehört hat, Waldenburg zu sein, an der 22. Juli-Straße, die nicht mehr Hitlerstraße hieß, richteten sie sich in einem Haus ein, dessen deutsche Mieter vertrieben worden waren. Das Paar wurde von Verzweiflung, psychischen Krankheiten und Erinnerungen an den Krieg aufgefressen.
Stefans Tochter und der Sohn von Antoni begegneten sich beim Studium in Wrocław, einer Stadt, die seit 20 Jahren nicht mehr Breslau hieß. Sie kehrten nach Wałbrzych zurück und dort wurden ihre Töchter geboren: Joanna und Magdalena. Die Eltern wühlten nicht in der Vergangenheit - sie wurden dennoch zu "Grab-Menschen", die von nach Gehör schreienden Geistern heimgesucht (aufgesucht) wurden. Als Magdalena 16 wurde, kamen die Erben des Hauses an der Hitlerstraße zu Besuch. Jetzt rühmte die Straße mit ihrem neuen Namen den 11. November, den Tag, an Polen seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte.
Magdalena wurde zur Dolmetscherin der Deutschen, die nach der verlorenen Zeit suchten. Sie war beliebt und wurde immer wieder nach Deutschland eingeladen. Als sie mit dem Germanistikstudium fertig wurde, verließ sie Polen für immer. Sie hat geheiratet. Seit vielen Jahren spricht sie zu Hause Deutsch und unterrichtet diese Sprache für Kinder aus der ganzen Welt in einer schönen hellen Schule. Alles läuft gut.
Aber ihre ältere Schwester, die Schriftstellerin, erinnert sich mit obsessiver Angst immer häufiger an die Worte eines alten jüdischen Professors, mit dem sie sich in New York angefreundet hatte. Er hieß Feliks Gross und war einer der ersten großen Fürsprecher des vereinten Europa. Nach Amerika war er vor den Nazis geflüchtet - aus Krakau, über das litauische Kowno, wo der heldenhafte Konsul Sugihara sein Leben gerettet hat.
Es reicht ein Funke
Der größte Teil der Familie von Gross ist in Auschwitz ums Leben gekommen. Der fast hundertjährige Professor sagte zu Joanna am Anfang dieses Jahrhunderts: Wenn die letzten Augenzeugen gehen, sind die Menschen bereit, den nächsten Krieg auszurufen. Es reicht ein Funke.
Und dann wird wieder ein armer Holzfäller zum Held, ein Kellner zum Feigling, jemand wird sein Haus verlassen müssen, und der Schmerz und die Erinnerung werden drei Generationen lang anhalten. Das alles ist geschehen und kann wieder geschehen in Europa.