Anlässlich der Europawahl am 26. Mail 2019 haben wir Schriftstellerinnen in der Reihe "Stimmen für Europa" gefragt: Was bedeutet Ihnen Europa? Was gilt es zu schützen und was zu kritisieren? Dabei sind literarische Texte entstanden, die verschiedene kulturelle und sprachliche Hintergründe haben.
Marica Bodrožić kam 1973 in Dalmatien zur Welt. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Sie erhielt den Literaturpreis der Europäischen Union und zuletzt für den Band "Mein weißer Frieden" den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2015. Marica Bodrožić lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Im April erschien der Essayband "Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe".
"Der Europäer ist ein Mensch mit Erinnerungen"
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Das 20. Jahrhundert habe "die Barbaren sprechen lassen, weil die anderen geschwiegen haben", stellt die Schriftstellerin Marica Bodrožić fest. Umso mehr sollten Europäerinnen und Europäer miteinander sprechen. Einander verstehen schaffe Versöhnung.
Der Europäer, die Europäerin ist ein Mensch mit Gedächtnis. Ein Einzelwesen. Der einzelne Mensch hat eine Stimme und eine eigene Kraft. Er denkt. Er sieht, er hat Augen und Ohren. Er blüht nicht in der Menge auf, sondern wächst im Verhältnis zu seiner Autonomie. Dieser einzelne Mensch ist heute wieder gefährdet. Nur Einzelwesen können Versöhnung schaffen, einander verstehen und aus diesem Verstehen das Versöhnende herleiten.
Kollektive Geschichte
Der Europäer ist ein Mensch mit Erinnerungen. Er weiß um die Wunden in seiner eigenen Geschichte, hat aber auch die kollektive Geschichte nicht vergessen – er weiß noch, wie es der französische Schriftsteller Robert Antelme in seinem Buch "Das Menschengeschlecht" schreibt, was "die Liebe zum Menschen und die Abscheu vor ihm" im 20. Jahrhundert bedeutet hat. Er weiß, dass die deutsche Sprache einst für das Bellen und für das Böse stand. Denn jeder, der heute lebt, ist auch heute noch Teil davon. Und trägt Verantwortung dafür, dass wir alle miteinander leben und sprechen lernen. Das 20. Jahrhundert hat die Barbaren sprechen lassen, weil die anderen geschwiegen haben. Der heutige europäische Mensch hat die ethische Pflicht, der Barbarei, aber auch den Aufgaben seiner Zeit denkend zu begegnen und das zu gestalten, was er seine Freiheit nennt.
Das Böse transformieren
Wir können das Böse nur transformieren, wir können es nicht bekämpfen. Der Europäer ist ein Mensch, der sich darüber im Klaren ist, dass er das, was er bekämpft, wie es Nietzsche einmal sagt, nur noch stärker macht. Und dennoch muss er kämpfen! Aber so, dass dabei ein neues Muster in seinem eigenen Denken entsteht, das nicht den Anderen zerstört, sondern ihm seinen Platz lässt in der Welt. In diesem Muster offenbart sich das wahre Leben. Die Sichtbarkeit eines einzelnen Lebewesens. Seine Stimme, die nicht monologisiert.
Der europäische Mensch ist sich seiner Menschlichkeit bewusst, weil er sich als verletzliches Wesen kennt. Er sucht das Gespräch, den Austausch mit dem anderen und ist einem anderen Selbstbild, einer anderen Stimme, einer anderen geistigen autonomen Luft innerlich gewachsen. Er fürchtet nicht das Fremde, weil er in sich selbst das Fremde erkennt. Er weiß, er wird nichts verlieren in diesem Austausch, sondern nur an Atem und Wachheit gewinnen. Wer diesen Atem nicht verlieren will, muss wissen, dass es dabei um ihn selbst geht.