Warum geben wir Trinkgeld und was sagt das über uns?
Es ist gar nicht so einfach, das richtige Trinkgeld zu geben. Und warum machen wir das überhaupt – fürs Haareschneiden oder die Bedienung? Der Autor Günter Rohleder hat nach Antworten gesucht.
"Trinkgeld gehört sich einfach. Also wenn man im Service arbeitet, ist das so n stressiger Job. Ich finde, das gehört sich einfach, die leben ja irgendwie auch davon."
"Wir haben in Deutschland die Situation, dass in den Speisekarten drinne steht, dass der Preis inklusive Mehrwertsteuer und Bediengeld ist."
"Trinkgeld für mich ist eigentlich die Anerkennung, dass ich n guten Job mache, dass ich als Person gemocht werde von meinen Gästen, dass die mich leiden können, dass es nett war."
"Man besteht ja nicht nur aus dem materiellen Wohlergehen, sondern auch der Anerkennung, dem Ansehen und das kann man sich ziemlich billig erkaufen, indem man großzügig auftritt. Wann kann man mal für einen Euro großzügig sein."
"Also ich finde, Trinkgeld kann's gar nicht genug geben, es sollte nur gerecht verteilt sein."
"Ich behalte alles..."
Man gibt es der Kellnerin, der Taxifahrer nimmt es, der Schaffner weist es zurück. Trinkgeld überrascht, löst Freude aus oder beleidigt. Es wird zugesteckt, hingeworfen oder diskret liegen gelassen. Es wird begehrt und herausgelockt. Immer wieder wurde es verachtet und bekämpft. Ist es ein Relikt aus aristokratischen Zeiten? Juristen haben versucht, das Trinkgeld zu verbieten und zu formalisieren. Ökonomen haben versucht es in ihre Theorien vom Nutzen zu integrieren.
"Die Frage nach Trinkgeld, nach der Kommunikation und dem Verhalten zwischen Restaurantgästen und dem Personal hat natürlich etwas zu tun mit Esskulturen, es hat auch etwas zu tun mit den Kulturen der Gastlichkeit, die regional wie national sehr unterschiedlich sein können und es hat natürlich etwas zu tun auch mit der Geschichte von Dienstleistungen."
Wolfgang Kaschuba, Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin.
"Man kann das gerade im neuen Europa heute deutlich machen. In den neuen europäischen Ländern ist natürlich die Tradition der Restaurantdienstleistungen sehr viel geringer, sehr viel kürzer und ganz anders als im Westen. Und wer in den 90er-Jahren unterwegs war in ostdeutschen Restaurants und Städten, hat, wenn er westdeutsche Tradition gewöhnt war, tatsächlich manchmal sein blaues Wunder erlebt, weil Freundlichkeit gehörte nicht unbedingt zur Grundauffassung von Dienstleistern in dieser Zeit und in ostdeutschen Restaurants."
Trinkgeld als wirtschaftliche Transaktion
Aus ökonomischer Sicht haben wir es beim Trinkgeld mit einer Transaktion zu tun: Ein Restaurantgast zahlt einer Kellnerin freiwillig Geld für den Service, zusätzlich zum Rechnungsbetrag. Gleichzeitig findet zwischen Gast und Kellnerin aber ein soziales Ereignis statt, getragen von Gesten, Blicken, Worten und Atmosphäre.
Es gebe Länder, so Wolfgang Kaschuba, in denen sei das Essen immer Teil einer Gastlichkeitskultur, gleich ob es mit der Familie eingenommen wird, ob man irgendwo eingeladen ist oder im Restaurant dafür bezahlt.
"Da, würde ich sagen, gehört auf jeden Fall Italien dazu, dazu gehören aber auch Länder wie Ungarn etwa. Das heißt aber nicht unbedingt, dass diese Kellnerinnen und Kellner dann liebreizend sein müssen, nein, das ist eben oft eine Situation auf Augenhöhe. Diese Situation auf Augenhöhe bedeutet, ich bin zwar ein Dienstleister, aber ich bin gleichzeitig genauso viel wert wie der Gast, ich will Respekt haben. Und dieses respektvolle Verhalten führt in Italien dazu, dass man dem Kellner nicht mit Augenzwinkern ein Trinkgeld in die Hand drückt, sondern dass es ein stumme Übereinkunft gibt, man lässt eine bestimmten Betrag liegen. Und auch der Kellner stürzt nachher nicht sofort hin und sammelt die Kreuzer ein, sondern lässt das in aller Ruhe liegen, er hat's nämlich im Blick."
Zitat: "Der Egoismus hat das Trinkgelderunwesen ins Leben gerufen, der Egoismus und die gemeinnützige Gesinnung mögen sich die Hand reichen, um es wieder auszurotten. Man wende nicht ein, dass dasselbe einmal zu fest eingewurzelt sei, und dass der Einzelne nichts dagegen vermöge. Ich werde nachweisen, dass selbst der Einzelne im beschränkten Kreise demselben mit Erfolg entgegentreten kann, und was dem Einzelnen nicht möglich, vermögen Mehrere, die sich zu dem Zwecke verbinden, vermag ein Verein, vermag die Organisation des Widerstandes und Kampfes in Form der Association."
Schreibt der Jurist Rudolf von Jhering in seiner Streitschrift gegen das Trinkgeld, publiziert 1882.
Zeichen des Wandels
Die Industrie boomt, die Bevölkerung wächst, die Städte platzen aus den Nähten. Neue Freizeitbedürfnisse entstehen und neue Berufe. Die einen gehen aus und gehen auf Reisen, die anderen bieten sich an als Kofferträger, Kellner und Zimmermädchen. Es entsteht eine neue Klasse freier Dienstleister. Entlohnt werden sie kaum oder gar nicht. Sie leben in erster Linie vom Trinkgeld.
"Das ist die Zeit, wo die Großstädte entstanden sind und das Dienstleistungsgewerbe sich ausgebreitet hat."
Winfried Speitkamp, Historiker an der Uni Kassel.
"Die Zeit, in der man auch schon am Wochenende mal wegfährt. Und insofern auch ein Freizeittransportgewerbe entsteht und Freizeitorte. Man fährt ins Siebengebirge oder sonst wohin, man macht ne Fahrt am Rhein. Und dabei werden überall Trinkgelder gezahlt. Insofern ist das dann ein großes Thema und auch materiell ein wichtiges Thema für eine große Gruppe von Bevölkerungskreisen, die eben jetzt in diesem neuen Dienstbotengewerbe leben. Es gab ja Dienstboten in den bürgerlichen Haushalten, die direkt an die Familien angebunden waren, aber jetzt entstanden sozusagen freie Dienstboten, als eigene Klasse, wenn man so will. Und das war natürlich eine Herausforderung für die bürgerliche Gesellschaft."
Schon in der aristokratischen Gesellschaft war es durchaus üblich, dem Droschkenkutscher ein Trinkgeld zu überreichen, der höhere Stand dem niederen, um sich für die Reise besonderes Wohlwollen zu sichern. Und hier verwischen die Grenzen zwischen Trink- und Schmiergeld. Aber solange Dienstleistungen vor allem von Leibeigenen und Dienern erledigt wurden, waren Trinkgelder nach unserem heutigen Verständnis eher eine Randerscheinung. Das ändert sich in der bürgerlichen Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts.
Winfried Speitkamp:
"Das hing damit zusammen, dass man tatsächlich Trinkgeld bezahlen musste, die Leute lebten davon und dann wurde eben tatsächlich Druck im Lokal erzeugt. Wer kein Trinkgeld bezahlte, wurde eben irgendwie markiert. Man hat dann Münzen auf den Boden geworfen, um deutlich zu machen, dass da ein Trinkgeldverweigerer sitzt oder anderes gemacht, um diesen Trinkgeldverweigerer irgendwie zu ächten. Also man wurde tatsächlich unter Druck gesetzt. Auch im Hotel. Wenn man das Hotel verließ, konnte man es nicht verlassen, ohne Trinkgeld zu zahlen, sonst musste man quasi Spießruten laufen durch die Angestellten, die sich da aufgestellt hatten."
Die Bürger fühlen sich regelrecht ausgebeutet. Sie schließen sich in Anti-Trinkgeld-Ligen zusammen und beklagen, das Trinkgeld fördere knechtische Gesinnung und Prostitution. Sie kritisieren das Trinkgeld aber auch als Rechtfertigung für die Ausbeutung des Personals durch seinen Dienstherrn. Aus christlichen Kreisen und der bürgerlichen Frauenbewegung wird gefordert, Kellnerinnen dürften sich nicht am Fenster zeigen und nur hochgeschlossen kleiden. Auch das Klassenverhältnis verliert an Kontur: In gut laufenden Lokalen kann es passieren, dass die Kellnerin durch Trinkgeld mehr verdient als der Bürger, den sie bedient. Andererseits beginnt sich das Personal selbst gewerkschaftlich zu organisieren und für eine bessere Entlohnung zu kämpfen. Es will nicht mehr vom Gnadenbrot der Gäste abhängig sein.
Eine Geste der Anerkennung
Eine Kaffeehausterrasse in Berlin. Junge Leute sitzen auf rustikalen Holzbänken an rustikalen Tischen und genießen die Sonne. Ein Mann um die dreißig hat sich einen Cappuccino bestellt. Der Kellner ist gerade unterwegs.
"Ich werde schon etwas geben. Natürlich. / Warum geben Sie Trinkgeld? / Ich finde, es gehört dazu. Also, mein Gott, man bedient einen, da will man was zurückgeben. Aber ich geb ja keine 10 Euro oder so was. Rund ich ab. / Wieviel wird es ungefähr sein? / Das weiß ich nicht, also wenn wir z.B. sechs Euro bezahlen müssen, dann geb ich 6,50 oder 7? / Hängt das auch vom Service ab? / Natürlich. Ja, A und O. Also, wenn die Bedienung nicht nett ist, dann bekommt die nix. / Was heißt nett sein?/ Lächeln, lächeln. Ganz einfach lächeln."
Elisa: "Also es gibt Leute, da denkt man hinterher tatsächlich: Okay, hätt ich jetzt im Leben nicht gedacht, dass der jetzt wirklich zehn Prozent gibt und dann gibt’s wieder Menschen, da denkt man Wunder was, wie toll man sich verstanden hat und die lassen sich auf 20 Cent rausgeben, also das ist ganz, ganz schwer, das einzuschätzen, das kann man eigentlich nicht wirklich."
Elisa, Mitte 20, groß, blonde und aufgeschlossen, hat Kellnerin gelernt und bedient in einem Berliner Tagesrestaurant. Servicezeiten zwischen 11 und 15 Uhr. Elisa kassiert mit ihren Kollegen auf ein Portemonnaie und teilt das Trinkgeld mit ihnen. Wie sie auf die Gäste zugeht, entscheidet sie nach Typ und Situation.
"Wenn es zum Beispiel Gäste sind, Stammgäste, die jeden Tag kommen, begrüßt man sie ganz anders, man duzt sie natürlich auch, das ist so alles ganz freundschaftlich und nett. Wenn' s Leute sind, die man noch nie gesehen hat, kommt's bei mir arg aufs Alter drauf an. Wenn das Leute in meinem Alter sind, dann kommt dann auch mal 'n Du oder 'n Scherz."
Diejenigen, die bar am Tisch bezahlen, geben zwischen fünf und zehn Prozent Trinkgeld. Am Tresen, wo oft mit Karte bezahlt wird, läuft es sehr unterschiedlich.
"Es gibt Leute, die's tatsächlich gar nicht geben, es sich auf 50 Cent rausgeben, es gibt Leute, die noch 50 Cent rüberschieben, so nach dem Motto, na ja, Sie waren ja doch ganz nett. Also, da gib's wirklich ganz, ganz unterschiedliche Leute."
Janine: "Am Anfang hab ich mich dann auch über so ne Sachen geärgert. Mittlerweile weiß ich aber, dass es viele Kunden gibt, die einfach kein Trinkgeld geben, das ist nun mal so, und mittlerweile nehm ich das so hin."
Janine, braunes mittellanges Haar und schwarze Rüschenbluse, ist Friseurin in Berlin.
"Die gibt’s nun mal. Die gehören dazu. Ist ja Gottseidank nur n kleinerer Teil. Verständnis hab ich dafür keins. Aber ich nehm's hin."
Janine und ihre vier Kollegen haben verschiedenfarbige Sparschweine im Laden verteilt. Vier Fünftel ihrer Kunden geben Trinkgeld, ein Fünftel nicht. Das habe vor allem mit der Grundhaltung zum Trinkgeld zu tun, ist ihre Erfahrung. Die Zufriedenheit mit der Frisur, schlage kaum zu Buche, die kulturelle Prägung aber schon.
"Die türkischen Frauen neigen auch dazu sehr viel Trinkgeld zu geben und wiederum die Spanier und Italiener eher weniger. Die Amerikaner geben wirklich sehr viel und Engländer im Durchschnitt eigentlich auch."
Die Extra-Euros in der Gastronomie
Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Aber Trinkgeld ist eine volkswirtschaftliche Größe. In den USA wird das Trinkgeldaufkommen pro Jahr allein in der Gastronomie auf über 20 Milliarden Dollar geschätzt. In Restaurants, in denen sich die Kellner das Trinkgeld nicht in einen Topf werfen, ist es üblich, den Gastraum in Reviere aufzuteilen.
Sebastian Riesner: "Die Kellner, die die gut frequentierten Plätze bekommen, als Revier, die sie auch abkassieren dürfen, das sind die Prfiteure, ne."
Sebastian Riesner, Sekretär bei der Gewerkschaft Nahrung, Genuss Gasstätten, zuständig für Berlin und Brandenburg.
"Die werden sicherlich auch ein relativ hohes Trinkgeld bekommen. Das kommt sicher auch noch auf das Restaurant als solches drauf an, ob'se ein Ausflugslokal ist, oder ob's eher ein klassisches Speiserestaurant ist, aber es ist eben in so 'nem Restaurant nicht unüblich, dass also der Oberkellner sagt: Herr Meier, Herr Müller, Herr Schulze, Sie sind heute in Revier A,B, C oder D und dass dann über den Weg durchaus dann auch Druck ausgeübt wird, dass es eben keine gerechte Verteilung der Reviere gibt, sondern, dass jemand, der der sich nicht wehren, vielleicht neu im Betrieb ist, n schlechteres Revier bekommt."
Elisa: "Ich kenn's von früher aus meinen Lehrzeiten, da war das auch so, da waren wir auch in Reviere eingeteilt. Es ist natürlich schwierig, weil man konkurriert, und weil wenn jeder sein eigenes Geld hat, ja auch sein eigenes Trinkgeld bekommt und auch behalten darf. Ist natürlich bei uns einfacher."
Also ich find's entspannter, so wie es ist: Jeder kriegt dasselbe und jeder macht ja auch dasselbe dafür und man muss sich um nichts streiten. Man ist ein Team.
Ein Dankeschön and das Reinigungspersonal
Einkaufscenter, Untergeschoss. Die Kundentoilette. Am Ende des Korridors ein schwarzes Sofa, links eine Korridor zu den Damen, rechts eine Tür zu den Herren.
An der Wand ein Schild. Das Management empfiehlt den Toilettennutzern, 50 Cent zu entrichten. Als Dankeschön für die Dienstleistung des Reinigungspersonals.
Auf einem Stelltisch an der Wand wartet eine Untertasse. Zwei Frauen in dunkelblauen Uniformen und weißen Blusen machen sauber. Die ältere, braunes Haar, Hornbrille, Gummihandschuhe, beklagt sich bei ihrer Kollegin. Aus dem Müllsack in ihrer Hand tropft braune Brühe. Jemand wollte seinen Kaffee nicht mehr.
Übers Trinkgeld reden? Nein, ins Mikrofon dürfe sie nichts sagen. Aber wenn sie das Geld behalten dürfte, wäre sie wohl reich. Sie folgt der Anweisung, die Münzen regelmäßig vom Teller räumen, erst in die Jackentasche, dann in den Tresor. Mindestlohn? Inzwischen ja, aber das Trinkgeld muss komplett abgegeben werden.
Warum geben wir Trinkgeld. Aus Mitleid? Aus Konvention? Aus Gönnerhaftigkeit? Aus Scham oder Solidarität? Nach der deutschen Gewerbeordnung von 2005 ist es nicht mehr legal, jemanden ausschließlich für Trinkgeld arbeiten zu lassen. Aber nach wie vor rechtfertigen Hotel- und Gaststättenbetreiber die niedrige Entlohnung ihres Personals mit Trinkgeld. Trinkgeld zu geben sei irrational, findet Winfried Speitkamp.
"Auf dem Ausflugsschiff gibt man es dem Personal, im Flugzeug nicht. Dem Kellner gibt man's, dem Wirt nicht. Bestimmte Leute sind beleidigt, wenn man ihnen Trinkgeld gibt, nur dafür dass sie ihren Job anständig machen. Bei anderen wäre es eine Beleidigung, wenn man keins gibt. Bei Handwerkern sind wir uns momentan unsicher, wer will noch was, wer nicht. Es ist insofern irrational, weil diese Relikte eigentlich unsinnig sind, denn wir haben längst das Trinkgeld durch ein Bediengeld – wie immer das hieß – integriert in den Preis in der Gaststätte. Steht ja immer drin, Bedienung inklusive und trotzdem geben wir Trinkgeld."
Doch was unser Selbstbild betreffe, so Speitkamp, sei es auch rational.
"Wir wollen noch zeigen, dass wir sozusagen der Herr sind, dass wir in der Lage sind, Trinkgeld zu zahlen. Wir wollen ein bestimmtes Bild von unserem Status erzeugen, wenn wir Trinkgeld geben. Das gehört dazu, das zu machen und wir trauen uns nicht zu sagen, nee, ich hab schon gezahlt, ich zahl kein Trinkgeld mehr."
Restaurantgäste in Begleitung zahlen mehr
Untersuchungen in den USA haben ergeben, dass Restaurantgäste in Begleitung durchschnittlich mehr Trinkgeld zahlten, als wenn sie allein ausgingen. Dem Menschenbild des 'homo oeconomicus' zufolge ist rationales Handeln von Eigennutz bestimmt. Christian Traxler, Ökonom an der Berliner Hertie School of Governance:
"Also es gibt zum einen die Idee der wiederholten Interaktion, das heißt, Sie gehen zu ihrem Lieblingsrestaurant, Sie werden dort erkannt, und potenziell ist der Service, das Sie dort erhalten, die Bedienung ist vielleicht einen Tick flinker bei Ihnen, das Essen kommt vielleicht eine Spur liebevoller auf den Tisch geliefert; vielleicht ist das abhängig davon, was Sie zum letzten Mal an Trinkgeld gaben, wenn sich da die Bedienung erinnert. Da kann's sehr wohl rational sein, in einem klassischen, engen, egoistischen Konzept, Trinkgeld zu geben."
Und wie ließe sich mit dem Motiv Eigennutz erklären, warum wir bei einem einmaligen und mehr oder weniger zufälligen Restaurantbesuch Trinkgeld geben?
Dann geht die Verhaltensökonomie hin und erweitert ihren Begriff von Eigennutz und Rationalität. Nur im traditionellen neoklassischen Bild des "homo oeconomicus", so Traxler, seien Eigennutz und rationales Handeln allein von monetären Motiven bestimmt.
"Eigennutz kann auch berücksichtigen zum Beispiel, was ein Umfeld über mich denkt. Das kann auch ein nutzenstiftendes Element sein, und damit kann dann auch Eigennutz maximieren bedeuten, dass ich sehr wohl Rücksicht darauf nehme, was die Anderen über mich denken, was das Bild ist, das ich durch mein Handeln an den Tag lege. Und damit ist dieser Begriff eigentlich viel breiter zu fassen."
"Menschen, die etwas geben auf der Straße, Menschen, die oft gar nicht so viel haben, aber die genau registrieren, der oder die hat noch weniger. Also die führen einen kleinen gesellschaftlichen Lastenausgleich im Grunde genommen durch."
Wolfgang Kaschuba, Kulturwissenschaftler.
"Wir haben das auch beim Trinkgeld und bei der Esskultur, denn in der Regel kann man schon sagen, dass die Leute mit mehr Geld auch mehr essen gehen. Die Leute mit etwas weniger Geld schauen, dass sie das eher anonym machen, also in der Mensa oder in einem Automatenrestaurant, da gibt man der Kassiererin auch in der Regel kein Trinkgeld, weil sie genau auf das Geld schauen müssen. Während diejenigen, die ins Restaurant gehen, eigentlich wissen, dass sie in 19 von 20 Fällen mehr verdienen als die Kellnerin oder der Kellner und die dieser Situation auch Rechnung tragen wollen. Man könnte auch sagen, es ist ein Stück individueller Anerkennung einer gesellschaftlichen Arbeit, die man möglicherweise für unterbezahlt hält."
Elisa: "Ich hatte schon Gäste, die mit dem Essen total unzufrieden waren und trotzdem Trinkgeld gegeben haben, weil sie halt auch immer sagen, naja, fürs Essen können Sie ja nichts, wir haben uns hier sehr wohl gefühlt und im Großen und Ganzen war's bei Ihnen echt schön."
Grundsätzlich sei der Kontakt zwischen Bedienung und Küche bei ihr im Tagesrestaurant sehr gut, so die Kellnerin Elisa. Täglich tauschen sie sich aus über die Speiseangebote und Zubereitungsweisen.
"Gäste, die mit dem Essen gar nicht zufrieden sind, geben natürlich viel viel weniger beziehungsweise gar nichts. Wenn man mit dem Komplett-Paket zufrieden ist, dann gibt man auch gerne mehr, das, find ich schon, hängt auf jeden Fall zusammen."
Früher teilte Elisa das Trinkgeld nicht nur mit den anderen Kellnerinnen, sondern auch mit dem Küchenpersonal. Bis es die Geschäftsleitung ohne Begründung untersagte. Alle Bistro-Mitarbeiter bekommen Tariflohn, die Ausnahme im Restaurantgewerbe, nur eine Minderheit der Beschäftigten ist Mitglied in einer Gewerkschaft. Was spricht aber dagegen, das Küchenpersonal am Trinkgeld teilhaben zu lassen?
"So ne Abwaschfrau, die hat meist das niedrigste Gehalt dort und die müssen wirklich Scheiße karren auf gut deutsch gesagt, und sie bekommen den Gast nicht zu sehen, von daher auch nie 'ne Aussicht, an irgendwelches zusätzliches Geld zu kommen."
Alfons Kujat, gelernter Koch, war in verschiedenen Saisonrestaurants tätig, von Norderney bis Garmisch, unter anderem als Küchenchef.
"Und das find ich schon gerecht, wenn man sagt, das gehört alles zusammen. Das was auf'm Teller landet und gereinigt und weggeräumt werden muss, gehört alles dazu. Ich kann dann auch nicht nachvollziehen, dass ne Kellnerin sagt, es wäre ja ihre Arbeit, das ist Blödsinn. Das haben alle gemacht, alle sind an diesem Vorgang beteiligt. So sollen sie auch für meine Begriffe daran partizipieren."
"Ich behalte alles. Ich brauche hier nichts abgeben. Da kennen Sie unsereinen aber schlecht. Nein, nein. Dankeschön. Abends guck ich nach, was ist es denn heute: acht Euro, zehn Euro, 20 Euro, ne."
Ernst Vogel, Klomann.
"Gibt einen Gast, der bezahlt 50 Euro fürs ganze Jahr, weil er immer mit ner Gruppe kommt alle paar Tage. Das ist doch dann viel schlauer, als wenn er denen sagt, Kinder, gibt dem mal was ab, ne. Ja. Und dann muss man halt wissen, es gibt immer Menschen, die reinkommen, die auch wenig Geld haben… so freiwillig ist doch viel schöner, ja. Als wenn ich hier n Schild hätte: 50 Cent."
Ein enger Flur, ein niedriger Stuhl, zwei Türen. Auf dem Stuhl sitzt Ernst Vogel, Klomann, links geht’s zu den Damen, geradeaus zu den Herren. Der freundliche Berliner, um die 80 Jahre alt, weißes Schläfenhaar, 1,90 Meter groß, trägt einen Baumwollpullover und über der Jeans eine rote Schürze. Er blickt auf gut zehn Jahre Erfahrung als Klomann zurück.
"Madame Bitte links. / Danke. / Haben wir für Sie angerichtet. / Super. Schön. / Bitte sehr. / Freundlich, kommt auch freundlich raus. Sag ich Ihnen jetzt schon. Freundlichkeit ist eine Zier..."
Der Flur ist sehr eng, Ernst Vogel muss aufstehen, wenn sich mehr als zwei Personen zugleich vorbei wollen.
"Danke. Und noch 'n schönen Tag, gell. Entschuldigung nur ne Frage: War alles sauber? / War super. / Danke! / So. Sehen 'se. Der oberste Begriff auf diesem Platz heißt Dienstleistung, ja. Wer das nicht kann, der sollte sich da nicht hinsetzen."
Eine Toilette muss sauber sein
Wann ist eine Damentoilette angerichtet?
"Wenn Sie jetzt hier hin gucken: Spiegel sauber, Becken sauber, Bad sauber. Sehen, sie war ja hier drin. Die Brillen dürfen nicht benutzt sein, ja, manche pinkeln ja daneben, da müssen Sie eben wischen, ja. Sehen 'Se. Sauber. Sehen 'Se Sauber. Die hat die Rolle hier weg. Hm, die Rolle ist weg. Wenn die nämlich nur gebraucht wäre, dann würde die da drin liegen, die leere Rolle. Ist ja auch ne Rolle drauf. Dann geh ich hier einmal durch und wische hier kurz."
Eine gastliche Toilette muss sauber sein. Ernst Vogel hält die Toilette sauber und er erinnert die Damen daran, dass er da ist. Mancher Erstgast wirkt ein wenig erschrocken, wenn er Ernst Vogel auf seinem Stuhl entdeckt. Mit vielen Stammgästen pflegt der Klomann ein herzliches Verhältnis.
"Trinkgeld ist eine, sagen wir mal, – ich bekomm ja auch ne Rente, ja – nicht so hoch, aber es ist eine Anerkennung dafür, was man geleistet hat. So seh ich Trinkgeld, ja. Das ist genau das Gleiche, das können Sie wie mit 'm Kellner vergleichen das können Sie mit 'm Taxifahrer, das können Sie mit allem vergleichen: Sind Sie ein netter Busfahrer? Dem hab ich auch schon Weihnachten fünf Euro geschenkt. Trinken Sie mal n schönen Kaffee, Sie fahren mich immer, ja."
Und die herablassenden Gäste, die arroganten?
"Für die ist ja jeder Toilettenmann, die Unterschicht, und da werd ich dann komisch.
Ich stehe auf. Moment. Guten Tag, bitte sehr, danke sehr, auf Wiedersehen. Aus. Das verzieh ich gar kein Gesicht. Ganz freundlich und nett. Das muss man abprallen lassen."
Keine falsche Gefälligkeit.-
"Zwei Punkte gehören zusammen. Man möchte nicht in die Einsamkeit gehen, ja und je nachdem wie Sie gelagert sind, sagen Sie, ich muss noch irgendwas zuverdienen. Was hab ich denn früher gemacht. Und wenn Sie immer schon mit Publikum Verkehr hatten oder ne Hotelpension oder haben woanders irgendwo geputzt, dann machen Sie das gerne und Sie sind nicht in der Einsamkeit, vergessen Sie das nicht. Ja, was hab ich denn davon wenn ich jetzt zu Hause fernkieke und lese. Ja?"
Das persische Trinkgeld
Bakschisch?
"Bak - schisch."
Bakschisch ist persisch. Was bedeutet Bakschisch im Persischen?
Ahmad Haidari: "Also, Bakschisch bedeutet die Gabe, die Versöhnung, das Gegenteil von Rache sozusagen. Dass man sich gegenseitig verzeiht."
Und was sagt man für Trinkgeld? Das Wort für Trinkgeld, sagt Ahmad Haidari, im Iran geboren und Betreiber eines persischen Restaurants in Berlin, heißt 'anam' auf Persisch.
"Das ist ein anderes Wort, das heißt 'anam' im Iran, also ist persische Sprache. Und das ist dieses sogenannte Trinkgeld. Wenn jemand Taxi fährt, man gibt ein 'anam' oder Restaurant. Oder wenn der Briefträger einen Brief, eine gute Nachricht bringt, dann gibt man einen 'anam'. Das ist die Bedeutung von Trinkgeld in Persisch anam. Bakschisch ist etwas anders. Man könnte das auch notfalls nehmen. Dieses Wort, was man hier als Bakschisch in Europa, dieses Schmiergeld, was man unter dem Tisch gibt, heißt bei uns 'reschwe'."
Das persische Wort Bakschisch ist in andere Kulturen und Sprachen migriert und wird dort in der Bedeutung von Schmiergeld verwendet. Auch "Trinkgeld" ist kein geschützter Begriff. Vielleicht steht Trinkgeld dem persischen Bakschisch in der Bedeutung von "Gabe" oder "Versöhnung" sogar näher als dem amerikanischen "tipping". In einem US-amerikanischen Restaurant kann das Geben von Trinkgeld nicht mehr als freiwillige Entscheidung durchgehen. Das Servicepersonal, entweder gering oder gar nicht entlohnt, besteht mit Nachdruck auf seinem Anteil. Wer mit Karte zahlt, wird gerne aufgefordert, auf dem Lesegerät eine Trinkgeldrubrik anzutippen: Ab 20 Prozent aufwärts. Ab dieser Höhe hat der Gast wieder Spielraum.
"Trinkgeld ist ein Gabentausch und die Gabe an den Armen ist auch ein Gabentausch. Aber nun müssen die sich natürlich unterscheide,"
so Wolfgang Kaschuba, Kulturwissenschaftler.
"Beim Trinkgeld passiert etwas anderes als Vorleistung als bei der anonymen Begegnung mit einem Bettler. Deshalb heißt Gabentausch ja nur zunächst einmal, dass ein Transfer stattfindet, bei dem noch zu klären ist, wer mehr gibt und wer mehr nimmt. Und das muss dann eben wieder ausgehandelt werde. Und der, der monetär mehr gibt, muss immer dafür Sorge tragen, dass der andere, der vielleicht nichts gibt oder eben 'ne Dienstleistung gegeben hat, symbolisch nicht in eine niedrigere Position gerät."
Ein Balanceakt zwischen Geben und Nehmen. Begegnung auf Augenhöhe. Begegnung mit Respekt. So könnte es sein.
"Es ist zunehmend wichtig, weil es keineswegs hier irgendwie einheitlich ist, das macht vielleicht gerade den Reiz hier aus. Es kann ja bedeuten, dass ich in einem konkreten kleinen Lokal weiß, das ist die Wirtin, der gibt man eigentlich kein Trinkgeld. Der kann ich höchstens etwas geben, wenn ich dann sage: Irgendwie für die Belegschaft oder für die Küche. Also ist es ja nicht nur die Münze, die ich gebe, sondern die Bewegung, die Geste, der Blick und auch der Satz, den ich dazu sage. Und damit wird das natürlich auch so ein bisschen zu einem Gesellschaftsspiel. Es ist immer ne ganz kleine Aushandlung mit dabei, und gut war's, glaub' ich, wenn man am Ende ein gutes Gefühl hat, ohne selbstgefällig geworden zu sein."