Stolpersteine

Steine des Anstoßes

Eine Blume liegt neben einem "Stolperstein" in Berlin. Mit einem Rundgang und einer Putzaktion am 09.11.2013 wollen die Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin und Prominente dazu aufrufen, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus zu wahren.
Eine Blume liegt neben einem "Stolperstein" in Berlin. © picture alliance / dpa / Florian Schuh
Von Jens Rosbach |
Die Stolpersteine erinnern an die Opfer der NS-Herrschaft, eingelassen im Gehweg vor den einstigen Häusern der Ermordeten. Sie sind nur handtellergroß - und sorgen dennoch oft für Aufregung.
Ein bedeckter Sommervormittag in Berlin-Moabit. Auf dem Gehweg vor der Thomasiusstraße 20 kniet ein alter Mann. Er trägt einen grünen Filzhut, eine braune Lederweste und Handwerkerhosen. Mit Hammer, Meißel und Zementkelle setzt der 67-Jährige kleine, zehn mal zehn Zentimeter große Messingtafeln in den Bürgersteig. Aktionskünstler Gunter Demnig verlegt Stolpersteine.
"Julius Isaakson wurde im Oktober 1943 auf offener Straße von der Gestapo angehalten, kurz darauf nach Auschwitz verbracht und dort ermordet."
Rund 50 Bürger haben sich, im Halbkreis, um den Mann mit Hammer und Meißel gruppiert: Anwohner, Nachkommen von Shoah-Überlebenden und vor allem Aktivisten der Kiez-Vereinigung Stolperstein-Initiative Thomasisusstraße. Sie haben einen Klarinettisten engagiert und eine Kantorin, sie haben weiße Rosen gekauft und insgesamt 19 Stolpersteine für diesen Tag anfertigen lassen. Nun tragen sie mit Mikrofon und Lautsprecherbox selbst recherchierte Biografien vor zu den Häusern Thomasiusstraße 20, Thomasiusstraße 11 und Thomasiusstraße 15. Geschichten jüdischer Anwohner – zumeist Geschichten des Todes.
"Nach ihrem letzten Umzug hat sich Margarete Koppel in ihrem Zimmer erhängt."
"Wo und wann Berta Falkenstein ermordet wurde, ist nicht bekannt."
"Sein Leichnam wurde anonym in Weißensee begraben."
"Am 9. September 1942 wurden die Brenners nach Theresienstadt deportiert."
Die Brenners aus der Nummer 15. Während Carl und seine Frau Paula Brenner umgebracht wurden, gelang ihrem Sohn Walter die Flucht in die USA. Heute, mehr als 70 Jahre später, steht dessen Enkel Yermi Brenner in der Thomasiusstraße. Der 35-Jährige beobachtet mit einem Lächeln, wie nun Berliner Bürger einen Stolperstein für seinen Urgroßvater setzen.
"Es tut mir gut, dass es eine Art Zeremonie gibt für das Gedenken. Weil es eine Verbindung herstellt zu meinen Wurzeln. Wenn ich sehe, wo und wie meine Vorfahren gelebt haben, spüre ich meine Ursprünge. Die Geschichte ist zwar ziemlich weit weg, aber der Tag heute bringt alles dichter an mich heran."
Die Geschichte des Urgroßvaters
Yermi Brenner, schwarzes gelocktes Haar, Dreitagebart und blaues Tuch um den Hals, kommt aus Israel. Er wusste nicht viel über seine Berliner Verwandten, bis er zur Stolperstein-Verlegung eingeladen wurde.
"Ich habe erfahren, dass mein Urgroßvater ein Unternehmer war, dass er eine Textilfabrik besaß. Ein entfernter Verwandter meinte neulich, der Urgroßvater sei ein kräftiger, etwas verrückter Mann gewesen, der seine Angestellten auch mal angeschrien hat. Heute verstehe ich besser, wie all die Leute damals so drauf waren und in welchem Umfeld sie gelebt haben, bevor sie deportiert wurden."
Handys werden gezückt, Yermi Brenner lässt sich vor dem Stolperstein seines Urgroßvaters fotografieren. Der Israeli, der mittlerweile aus wirtschaftlichen Gründen in Berlin lebt, findet nur lobende Worte für die Geschichts-Initiative.
"Das ist ein guter Schritt – weil es von der lokalen Bevölkerung kommt. Die Anwohner organisieren alles. Es ist nichts, was die Berliner Regierung oder die deutsche Regierung ihnen befohlen hat. Die Leute aus dieser Straße – sie selbst wollen diesen Weg gehen."
Bewegt zeigt sich auch die ältere Generation aus Überlebenden-Familien. Wie Stefan und Marion Pinkus, er 69, sie 65. Die beiden Holländer möchten in der Thomasiusstraße an das Schicksal ihres Vaters, ihres Onkels und ihrer Großmutter erinnern. Die Großmutter wurde ermordet, doch Vater und Onkel überlebten durch glückliche Umstände. Nun gibt es vor dem Haus Nummer 15 drei goldglänzende "Pinkus"-Steine. Die Nachkommen sind aufgewühlt.
"Sehr emotional, ja. Ich finde es schön, dass die Bewohner das machen."
"Beeindruckend! Wenn man auf der Strasse läuft, plötzlich sieht man die Steine, dann guckt man vielleicht. Warum liegen die da? Das ist doch gut, denke ich."
Während die Bürgerinitiative Biografien vorträgt, musiziert und Blumen auf den Gehweg niederlegt, arbeitet Künstler Gunter Demnig konzentriert und schweigend inmitten der Versammelten. Er schleppt – mit seinen 67 Jahren – Plastikeimer mit Stahlwerkzeug und Mörtel. Er stemmt den Bürgersteig auf. Er betoniert kleine Zementwürfel ein, auf denen eine Messingplatte sitzt. Darin sind knappe Daten eingraviert, wie: "Hier wohnte Sigfried Giballe, Jahrgang 1890, 1943 Auschwitz ermordet."
Der Künstler Gunter Demnig
Der Künstler Gunter Demnig© picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Wie ist der Bildhauer auf die Stolperstein-Idee gekommen? Durch eine Bürger-Reaktion, bereits im Jahre 1990. Damals zog Gunter Demnig eine weiße Farb-Spur quer durch seine Stadt Köln. Eine Spur zum Gedenken an die Deportation von Sinti und Roma im Mai 1940. Der Künstler erinnert sich genau an die Straßen-Begegnung.
"In der Kölner Südstadt kommt eine Dame, eine Zeitzeugin, dazu und sagt zu mir im Brustton der Überzeugung: Guter Mann, was Sie machen ist ja ganz schön, aber hier bei uns im Viertel haben niemals Zigeuner gelebt. Da wurde mir klar, das hat die gar nicht gewusst, weil die Sinti, die waren seit 400 Jahren in Westeuropa, die waren assimiliert, die waren zu 98 Prozent katholisch. Einfach normale Nachbarn. Und das war dann dieser Gedanke auch, den Namen dorthin zurück zu bringen, wo die zu Hause waren, wo sie abgeholt worden sind."
1995 war es, also vor 20 Jahren, als Gunter Demnig die ersten beiden Stolpersteine verlegte. Eine illegale Aktion vor der Kölner Antoniterkirche. Denn die Stadt habe damals bürokratische Hürden aufgebaut, klagt der Aktionskünstler noch heute.
"Ja, es war eigentlich überhaupt kein Widerstand, es war wie Watte: Ja, die Vorlage war nicht fertig, irgendein Ausschuss musste noch … es ging immer so weiter, wurde immer rausgezögert. Der Oberstadtdirektor hatte immer Angst: Kunst kann Geld kosten, das war glaube ich, seine größte Angst."
Nach Köln machte Gunter Demnig in Berlin weiter. Auch dort gab es behördliches Kopfschütteln über das Aufstemmen des Trottoirs. Doch die Presse berichtete begeistert über immer neue Initiativen – bis nach und nach alle Hauptstadt-Bezirke Stolpersteine genehmigten. Heute gibt es, weltweit, insgesamt 50.000 dieser Messing-Tafeln. Nur wenige Kommunen sperren sich noch dagegen, wie die Stadt München.
"Naja, München ist dieses unsägliche Argument, man trampelt ja auf den Namen rum, wie damals die Nazis auf den Menschen herum getrampelt haben. Und das finde ich so absurd. Denn es ist eigentliche eine Verharmlosung, im Grunde verhöhnt man damit die Opfer, denn die Nazis haben sich nicht begnügt mit Rumtrampeln. Die Nazis hatten ein Mordprogramm, ein Vernichtungsprogramm."
"Hallo? Ja, Sie müssen einmal in den Hinterhof und dann über den Seitenflügel in den zweiten Stock!"
Berlin, Thomasiusstraße 4. Eine Altbauwohnung mit abgewetzten Dielen, mit weißem Sofa, abstraktem Bild und rundem Marmor-Tisch. Das Wohnzimmer von Oliver Geiger, Mitbegründer der lokalen Stolperstein-Initiative.
"Wollen Sie einen Kräutertee? Große Tasse, kleine Tasse?"
Geschichte der eigenen Straße
Oliver Geiger – schwarzer Bart, blauer Pullover, violette Hose – ist freiberuflicher TV-Producer. Jahrelang hat sich der 45-Jährige vorgestellt, was für nette historische Anekdoten wohl mit seiner kleinen, beschaulichen Straße im Moabiter Kiez verbunden sind. Bis er über einen ersten Erinnerungsstein vor seinem Nachbarhaus "stolperte". Der Stein war von einer ausländischen Jüdin verlegt worden für einen deportierten Bewohner. Was Geigers Herz verkrampfen ließ: Das Opfer war, als es ermordet wurde, genauso alt wie er selbst.
"Und dann habe ich den Namen recherchiert im Internet – bin nicht davon ausgegangen etwas zu finden – und bin aber auf die Opferliste von Juden aus Moabit gelangt. Und hab plötzlich über 90 Namen aus meiner Straße vor Augen gehabt, und das hat mir tatsächlich die Augen geöffnet!"
Oliver Geiger hat Besuch, eine Nachbarin mit weißem Haar, Brille und pinkfarbener Fleecejacke: Rita Bünemann de Falcón, 70 Jahre alt. Die ehemalige Angestellte im Sozialbereich war früher in der Anti-Atomkraft- und Studenten-Bewegung aktiv. Bereits als Jugendliche interessierte sie sich für die jüdischen Nachbarn, die ihre Eltern und Großeltern einst im heimatlichen Osnabrück hatten.
"Und es wurde deutlich, dass auch Menschen dann abgeholt wurden. Und darüber wurde aber auch gesprochen mit dieser Vergewisserung: Wir haben das nicht so gewusst und wir wollten eigentlich auch helfen und wir haben noch Brot geholt und wir haben Kleidung mitgegeben. Aber es war etwas, was ich erfragen musste. Ich habe schon auch meinen Verwandten Vorwürfe gemacht – aber mehr im Sinne von: Ich verstehe es nicht."
Welche Schuld tragen wir Deutschen am Holocaust? Eine Frage, die für Rita Bünemann de Falcón über Jahrzehnte aktuell blieb. So kam sie vor zwei Jahren in Kontakt mit Oliver Geiger, ihrem Nachbarn von schräg gegenüber. Die beiden luden weitere Anwohner zu Kaffee und Kuchen ein; sie verteilten Flyer, sammelten Spenden und recherchierten in Archiven: in NS-Akten sowie in Entschädigungs-Akten aus den 50er- und 60er-Jahren.
"Die Akten, die zu sehen … da kommt ein Grauen hoch. Dass dann eben arische Nachbarn aus der Nebenstraße vielleicht hier einziehen konnten in die Wohnung dieser vertriebenen und ermordeten Juden und dann in den Möbeln dieser Menschen auch gelebt haben – das hat mich immer wieder auch sehr ergriffen."
"Also ich habe sehr viele dieser Akten in den Händen gehabt und man sieht dann immer und immer wieder, wie Menschen für den Raub an ihrer Familie – und da ging es wirklich um viel Geld – am Ende Pippi-Beträge bekamen. Und wenn es dann darum ging, für die ermordeten Eltern oder den ermordeten eigenen Sohn oder die eigene Frau für den Schaden am Leben eine Entschädigung zu kriegen, dann mussten die immer wieder und wieder und wieder Dokumente beibringen, um am Ende 3,90 Dollar für ihre Mutter zu kriegen und 2,20 Mark für die ermordete Schwester."
Oliver Geiger steht auf, bringt frischen Tee. Dabei erzählt er, wie seine neue Initiative die ersten Stolpersteine beim Künstler Gunter Demnig bestellte und die erste Zeremonie plante.
"Da wurde natürlich sehr oft gestritten. Das ist ja ein sehr heißes Eisen, der Holocaust."
Die insgesamt 25 Mitstreiter hätten sich gefragt, berichtet der Anwohner, wie die Verlegung der Tafeln gestaltet werden sollte.
"Welche Musik wollen wir? Wollen wir überhaupt Musik? Und wenn welche Musik? Nein, das ist doch viel zu traurig! Es muss sich doch auch eine Vorstellung von Trost darin ausdrücken. Soll es jüdische Musik sein? Nein, wer weiß, was diese Menschen für Musik hörten, vielleicht fanden die ja jüdische Lieder ganz schrecklich und wollten nur Klassik hören. Man macht sich viele Gedanken! Und am Ende kann keiner von uns sagen, ob wir das Richtige gemacht haben, weil das könnten ja nur die Ermordeten!"
Proteste der Nachbarn
Hätten die Ermordeten überhaupt einen Stolperstein akzeptiert? – Auch das, so erinnert sich Oliver Geiger, habe die Kiezgruppe ausgiebig diskutiert.
"In den Akten lesen wir auch sehr viele intime Dinge. Was gab es alles in der Wohnung? Das geht ja eigentlich die Öffentlichkeit gar nichts an. Auch das erlittene Leid ist ja etwas sehr Intimes, etwas sehr Persönliches. Zum Beispiel Margarete Koppel hat heute einen Stein bekommen. Dass die Dame sich erhängt hat, man kann darüber streiten, ob sie wollen würde, dass man darüber öffentlich redet."
Zu all den Zweifeln seien auch Proteste von Nachbarn gekommen, ergänzt Rita Bünemann de Falcón. Proteste, was das denn alles sollte, nun, 70 Jahre nach Kriegsende.
"Oder ein Geschäftsmann, der – als ich mit ihm gesprochen habe, um Spenden zu sammeln – gesagt hat: Aber meine Tante Soundso, die musste ganz viel Geld an jüdischen Hausbesitzer bezahlen, weil die Restitutionsansprüche gestellt hatten."
Dennoch verfolgte die Initiative weiter ihr ehrgeiziges Ziel: Für alle deportierten Juden der kleinen Thomasiusstraße soll es eine Messingplatte geben. 81 wurden bereits – in Etappen – verlegt, 114 sollen es insgesamt werden. Die Stolperstein-Aktion ist somit eine der größten in Deutschland.
"Am Anfang war das Thema Holocaust ja sehr dominant, da haben wir sehr darüber gesprochen. Und irgendwann entstehen dann diese nachbarschaftlichen, privaten, leichten Verbindungen. Dass man einfach mal zusammen spazieren geht und vielleicht mal nicht über den Holocaust redet (lacht) oder füreinander kocht. Oder sich das Auto leiht. Und das hat mittlerweile so ein bisschen was von einem kleinen Dorf, finde ich fast."
Ein Mann mit Glatze, grauem Haarkranz und grauem Schnauzbart. Er steht auf einem roten runden Roll-Hocker, vor einer sechs Meter langen Bücherwand. Andreas Nachama, Rabbiner und Direktor der Berliner Gedenkstätte Topografie des Terrors. Der 63-jährige Historiker bewundert die unzähligen Stolperstein-Initiativen, die in den vergangenen 20 Jahren gegründet wurden; der Experte spricht von einer neuartigen, dezentralen Gedenkkultur. Zugleich würdigt er die Argumente der Gegner.
"Ich zum Beispiel finde das eine interessante Aktivität, meine Mutter hingegen hat mir verboten, für meinen Großvater, der hier in Berlin seinen letzten Wohnort hatte, bevor er verfolgungsbedingt gestorben ist, einen Stolperstein zu setzen, weil sie das unangemessen findet. Die Erinnerung an die Familie, das ist sozusagen etwas, das legt man nicht in die Hand anderer, wenn noch jemand aus der Familie da ist."
Andreas Nachama weiß natürlich, dass die bayerische Landeshauptstadt kürzlich Stolpersteine grundsätzlich verboten hat. Der Widerstand war von Charlotte Knobloch ausgegangen, der Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde München. Die Holocaust-Überlebende sieht die Pietät gefährdet, wenn Straßenschuhe die Erinnerungstafeln beschmutzen. Eine Debatte, die an den Umgang mit jüdischen Gräbern anknüpfe, erläutert der Berliner Rabbiner.
"Die ursprüngliche Idee eines Grabes war eben die, dass es sozusagen das Hügelgrab gab, das aus verschiedenen Feldsteinen bestand. Und das, wenn man es besucht hat, immer wieder aufgeschichtet wurde. Daher kommt auch dieser Brauch, auf den Grabsteinen einen Stein drauf zu legen. Und das bedeutet im Klartext, dass das Grabfeld eben nicht betreten werden konnte oder sollte."
Der Professor zieht aber einen anderen Schluss als Charlotte Knobloch, die auch Chefin des Zentralrats der Juden in Deutschland war.
"Ich sehe den Stolperstein nicht als ein Grab, da ist ja niemand beerdigt, ich sehe das nicht so."
Kein Grab. Sondern lebendige Erinnerung.
Schüler organisieren Stolperstein-Verlegung
Berlin-Mitte, im Max-Planck-Gymnasium. Es sind Sommerferien, die Schule ist verwaist, nur Putzfrauen sind zu Gange. Zwischen hochgestellten Stühlen und Wasserpfützen stehen Alissa Ernesti und Sarah Jäkel. Die 14- bzw. 15-jährigen Mädchen sind – trotz der Ferien – in den Plattenbau gekommen. Denn sie wollen von einem Projekt berichten, das sie sehr beschäftigt hat: eine selbst organisierte Stolperstein-Verlegung. Alles begann in diesem Frühjahr, als eine kleine, rundliche Frau in ihren Geschichtsunterricht kam: Dagmar Janke, eine Angehörige von Holocaust-Überlebenden.
Alissa: "Sie hat vor uns geweint. Und sie hatte vor sich immer ein Blatt liegen, weil sie das nicht alles aussprechen konnte, weil es für sie einfach zu schlimm war. Sie hatte den ganzen Text, den sie uns vorgetragen hat, also die ganze Präsentation, auf ungefähr fünf Blättern vor sich liegen und hat das alles abgelesen, weil es wirklich wohl sehr schlimm für sie war, weil sie es sonst nicht hingekriegt hätte."
Sarah:"Das war schon ziemlich krass. Ihre Familie wäre ja auch eigentlich viel größer gewesen, wenn nicht alle ihre Verwandten umgebracht worden wären."
Alissa: "In der Klasse war es wirklich sehr still, weil alle wirklich mitgefühlt haben und für die Frau war es auch nicht die erste Stolpersteinverlegung, sondern schon – ich glaub mal – die fünfte. Und es war wohl immer noch sehr schlimm für sie wohl."
Wie geht die junge Generation mit dem schweren Thema Judenvernichtung um? Alissa – langer brauner Zopf, orangene Brille – und Sarah – lange blonde Haare, weiße Turnschuhe – berichten: Die Schulklasse habe sich in Gruppen aufgeteilt. Die Einen sollten zwei Biografien von Dagmar Jankes Angehörigen recherchieren. Die Anderen die Verlegung für das ehemalige Wohnhaus planen. Das Orga-Team kam – ähnlich wie die Erwachsenen in der Thomasiusstraße – schnell ins Streiten. Etwa welche Blumen gekauft und wie die Flyer gestaltet werden sollen.
Alissa: "Da wurden wir nicht einig, weil auf jedem Computer die Farbe anders aussieht und das hat zu einem Problem geführt."
Sarah:"Und es war auch ein Thema, dass wir aufpassen müssen, welche Farben wir benutzen, nicht dass wir Rot und Schwarz da irgendwie noch mir reinbringen. Es sind ja irgendwie von Nazis verfolgte Menschen und dann die Farben von den Nazis da noch reinzubringen, und deswegen mussten wir aufpassen. Und am Ende hatten wir uns auf Blau geeinigt als Hintergrund und weiß als Schrift. Und dann hat unsere Lehrerin das noch mal kopiert und es ist Grau rausgekommen." (lacht)
Die Schülerinnen spendeten Taschengeld für die Blumen und überzeugten eine Mitschülerin, ein Geigenstück zu improvisieren. Zur Verlegung dann erschienen komplett die 30-köpfige Klasse sowie rund 20 Anwohner. Und Künstler Gunter Demnig, der seine Steine wie gewohnt schweigend verlegte. Nun, an einem Tisch in der Schulmensa, gestehen die Mädchen: Nicht jedem Klassenkameraden sei das Innehalten leichtgefallen.
Alissa: "Es war Ruhe, aber es gab wirklich einige, die nicht ruhig waren. Es flog auch ein Handy durch die Gegend." (lacht)
Sarah:"Ein Junge stand auf dem Gelände und hat irgendwas mit Handy gemacht und ein anderer hat ihm das Handy aus der Hand geworfen und dann ist es weggeflogen. Aber es ist nicht kaputt gegangen. Aber es hat trotzdem ein bisschen gestört. Weil es war schon ziemlich laut."
Dennoch, so betonen die Schülerinnen, sei die Stolperstein-Verlegung ein großer Erfolg gewesen.
Sarah:"Es hat uns schon ziemlich stolz gemacht, dass wir das alles allein auf die Beine gestellt haben und dass so viele Leute gekommen sind."
Alissa: "Ich habe die vor dem Projekt, muss ich wirklich gestehen, nicht sehr viel beachtet, die Stolpersteine. Und jetzt, wo man das Projekt gemacht hat, versteht man, was dahintersteckt und beachtet die mehr. Und ich finde, sie erinnern mich jedes Mal, wenn ich eins sehe, dass die wirklich sehr schlimm umgekommen sind, im meisten Fall."
Minutenlanges Schweigen
Durch das Geschichtsprojekt suchen Sarah und Alissa nunmehr nach Parallelen: Wo findet sich heute noch NS-Ideologie? Wo gibt es Rassismus? Wo will wieder jemand die Macht an sich reißen? Etwa im Irak und in Syrien, bei der Terrorgruppe Islamischer Staat?
Sarah:"Es ist wieder eine Gruppe von Leuten, die andere Leute umbringt und nur will, dass sie ihre Religion haben oder ihre Ansichten haben. Es ist ja ähnlich wie bei Hitler und den Nazis."
Die weinende Zeitzeugin, die selbst organisierte Stolperstein-Verlegung, die Parallelen heute. Die beiden Neuntklässler quälen sich vor allem mit der Frage, wie sie damals selbst reagiert hätten, als die Juden abgeholt wurden.
Sarah:"Also ich wäre nicht dafür, aber ich würde nichts dagegen tun. Weil ich zu doll Angst hätte, dass meiner Familie oder meinen Freunden irgendetwas zustößt."
Alissa: "Wenn man sieht, welche Massen das mitgemacht haben – und man würde sich nicht gegen die Mehrheit widersetzen so. Ich glaube, ich würde nichts dagegen machen – das ist es. Leider. Aber wenn man jetzt daran denkt, findet man das wirklich schrecklich."
Sarah:"Also ich würde gerne glauben, dass ich in den Widerstand gehen würde, aber ich glaube eher nicht, dass das der Fall wäre. Also: realistisch denken!"
Zurück zur Stolperstein-Verlegung in der Berliner Thomasiusstraße. Die Anwohner präsentieren Schwarz-Weiß-Fotos der Ermordeten. Sie zitieren aus NS-Akten. Und sie schweigen, minutenlang. Im Hintergrund wacht ein Polizist über die Veranstaltung. Zum Abschluss spricht eine Kantorin das Kaddisch, das jüdische Totengebet. Irgendwo im Kiez läutet eine Kirchenglocke.
In der Thomasiusstraße 4 zeigen sich Oliver Geiger und seine Mitstreiterin Rita Bünemann de Falcón zufrieden mit ihrem intensiven, zweijährigen Einsatz. Geiger hatte sogar für einige Monate seinen Beruf als TV-Producer an den Nagel gehängt, um ganz in die Vergangenheit abtauchen zu können. So konnte er noch viele Angehörige der Ermordeten aufspüren – in den USA, in Israel, in Holland und sogar Hawaii.
"Wir haben ja angefangen eigentlich nur mit Schrecken, mit furchtbaren Horrordokumenten und traurigen Geschichten, die uns alle total überrollt haben. Und dass das zu irgendetwas führt, was einen fröhlich stimmen kann, wie zum Beispiel diesen herzlichen Kontakten zu jüdischen Angehörigen. Das empfinde ich einfach als Genugtuung, aber im ganz positiven Sinne."
Stolz sind die Hobby-Historiker, dass sie auch viele Nachkommen von Holocaust-Opfern überzeugen konnten, nach Berlin zu kommen: in die ehemalige Reichshauptstadt, ins Land der Täter. Eine Enkelin, erzählt Oliver Geiger, habe ihn besonders berührt – durch ihr warmherziges Lob.
"Das wäre für sie sehr erstaunlich gewesen auf der Straße während der Verlegung von Steinen für ihre Großeltern zu sehen, dass sie umgeben ist von sehr vielen Fremden, die sie in ihrem Leben noch nie gesehen hatte. Aber sie sagte zu mir: Diese ganzen fremden Leute sind Familie."
Rita Bünemann de Falcón: "Es gibt ein Stück vielleicht Heilung dadurch. Dass wir gemeinsam gedenken, dass wir gemeinsam auch die Geschichten uns erzählen, also auch miteinander sehr respektvoll umgehen."
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