Bei den Geschichtenerzählern in Tennessee
Im 18. Jahrhundert war das Geschichtenerzählen die einzige Form, Neuigkeiten auszutauschen. Dabei wurde ausgeschmückt, hinzugedichtet und fabuliert. Aus dieser kreativen Ursuppe ist die Südstaatenliteratur entstanden. Auch die Countrymusik geht aufs Storytelling zurück. Die Tradition lebt bis heute fort.
Ein paraventartiges Zelt. Es steht auf einer Wiese oberhalb des Rathauses von Jonesborough, Tennesssee, einem Städtchen mit knapp 6000 Einwohnern, das versteckt in einem der Täler liegt, an denen die Smoky Mountains so reich sind. Das Mittelgebirge heißt so, weil es meist Nebel verhangen ist – von weitem scheint es, als rauchten die Hügel.
Auf der Bühne Dolores Hydock: blonder Pagenkopf, breites Lächeln, wallendes Kleid. Sie erzählt von Chandler Mountain, Alabama, einem der vielen Tafelberge entlang des Tennessee River. Mindestens acht Leute im Publikum wüssten, wo das ist, flötet Dolores. Ein Klassiker im amerikanischen Unterhaltungsgeschäft, der lautes Johlen garantiert.
Ihr Publikum ist, nun ja, jenseits der besten Jahre: vorwiegend Rentnerpaare in Shorts und T-Shirts, deren Aufdrucke von Reisen aus der Vergangenheit künden, von Graceland in Memphis, dem Anwesen, in dem Elvis Presley gelebt hat, von der Grand Ole Opry in Nashville, einer Art Musikantenstadl der Countrymusik, vom New Holy Land in Eureka Springs, Arkansas, einem biblischen Erlebnispark .
Ein Schwätzchen hier, ein Schwätzchen da
Dolores Hydock stammt aus Philadelphia, sie ist ein Yankee Girl, wie sie selbst sagt. Die Zuschauer stöhnen bei dieser Beichte reflexartig auf – auch 150 Jahre nach dem amerikanischen Bürgerkrieg kultivieren Südstaatler eine – manchmal gespielte – Abneigung gegen Menschen aus dem Norden. Es sei denn ein Yankee lässt sich auf das Leben im Süden ein. Wie Dolores Hydock in den später 1970er Jahren als sie, gerade 20 geworden, nach Alabama gezogen ist. Damals hat nur eine einspurige Straßen auf Chandler Mountain geführt. Entgegen kommende Autofahrer haben angehalten, gelangweilt geguckt und – Dolores macht es vor – die Hand unendlich langsam zum Gruß gehoben.
Über 20 Jahre hat Dolores Hydock auf Chandler Mountain gelebt. In einem Haus ohne Strom und fließendes Wasser, dafür mit Plumpsklo in einem separaten Toilettenhäuschen. "Ich war begeistert", Dolores macht eine Kunstpause: "Das war's, was ich immer gesucht hatte: echte Folklore."
Auf Chandler Mountain hat Dolores Hydock gelernt, was wirkliches Leben ist. Wie man Essen aufwärmt, wie man Früchte einkocht und Hühner ausnimmt. Von Menschen, die nur wenige Schuljahre absolviert haben, aber über viel Herzensbildung verfügen, wie sie betont, die nicht reich sind an Gütern und trotzdem großzügig. Die für ihre Familie leben und einer Fremden wir ihr das Gefühl geben, ein neues Zuhause gefunden zu haben.
Eine halbe Stunde und ein Dutzend Lachsalven später ist die Ode eines Yankee Girls an den Süden zu Ende. Ein Schwätzchen hier, ein Schwätzchen da – so volkstümlich ihre Geschichten sind, so volksnah gibt sich Dolores Hydock nach ihrem Auftritt im Gespräch mit Zuschauern.
"Ich bin zum dritten Mal hier, zum zweiten Mal als Erzählerin. Einmal war ich Ansagerin – auch das war ein tolles Erlebnis. Natürlich bin ich ganz oft als Besucherin hier gewesen. Einmal im Jahr schießen die Zelte wie Pilze aus dem Boden und das Städtchen erwacht zum Leben. Das Städtchen ist auch sonst wunderschön, aber am Festivalwochenende passiert hier etwas Magisches: Menschen aus aller Welt tauchen hier tief ein in die Welt der Imagination. Es ist ein Geschenk, an diesem wundersamen Erlebnis teilzunehmen."
Dolores Hydock lächelt beseelt. Das Zelt, in dem sie aufgetreten ist, steht auf einem Hügel. Ihr Blick schweift hinunter in den Ort. Jonesborough erstreckt sich malerisch an den Ufern eines Baches, des Little Limestone Creek, umgeben von bewaldeten Hügeln. Das perfekte amerikanische Kleinstadtidyll mit einer verkehrsberuhigten Main Street. Einen knappen Kilometer ist die Hauptstraße lang – um Besuchern den lästigen Fußmarsch von einem Ende zum anderen zu ersparen, verkehren Shuttles: ein offener Kleinbus und eine Pferdekutsche.
Besucher kommen reichlich, denn Jonesborough hat das zu bieten, was den meisten amerikanischen Kleinstädten in einer Mischung aus Nachlässigkeit und blindem Fortschrittsglauben abhanden gekommen ist: ein funktionierendes downtown. Auf der Main Street reiht sich Laden and Laden, mit Souvenirs, Trödel, Schmuck, Kleidung. Und an diesem Wochenende findet hier das National Storytelling Festival statt, das Fest der amerikanischen Geschichtenerzähler.
Storyteller mit eigener Autogrammstunde
Zwischen den Häusern ragen über die Kuppen weiterer Zelte auf. Besucher schlendern von einer Veranstaltung zur nächsten, ein paar Tausend mögen es sein. Dolores schaut auf die Uhr, gleich hat sie eine Autogrammstunde, in der Presbyterianischen Kirche auf der Main Street. Sie steigt den Hügel hinab, durch einen romantisch verwilderten Park. An einer Weggabelung eine Bronzetafel, die Jonesborough als älteste Stadt Tennessees ausweist, gegründet 1779 – damals gehörte die Gegend noch zum Nachbarstaat North Carolina. Laut einer anderen Gedenktafel war Jonesborough im amerikanischen Bürgerkrieg eine Hochburg der Abolitionists, von Südstaatlern, die sich für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt haben.
Dolores zeigt auf ein senfgelbes Holzhaus - ein halbes Jahr hat sie dort gelebt, als storyteller in residence, mit einem Stipendium für besonders talentierte Geschichtenerzähler. Die Zeit in Jonesborough, der Wiege des Storytelling ist ... sie sucht nach den richtigen Worten ... ein Segen gewesen und eine Inspiration. Zehn CDs hat Dolores Hydock herausgegeben, die meisten im Eigenverlag. Verkauft werden sie nach Auftritten. Und Auftritte hat sie überall im Land, auf Festivals, in Schulen, in Bibliotheken.
"Als ich hiermit anfing, habe ich einen Geschichtenerzähler gefragt, ob man davon leben kann. Seine Antwort lautete: 'Kommt drauf an, was Du unter Leben verstehst.' Und er hatte recht: Ich habe kein Landhaus in den Bergen und auch kein Strandhaus irgendwo an der Küste, aber ich habe ein süßes Zuhause und ich lebe gut. Ich habe alles, was ich brauche – in diesem Sinne bin ich reich. Ich mache, woran ich Spaß habe und komme auf eine Art und Weise mit Menschen in Kontakt, wie es sonst nicht möglich wäre. Ich erzähle eine Geschichte, hinterher kommt jemand und sagt, dass sie ihn an seinen Vater erinnert hätte - und dann erzählt er von seinem Vater. Solche Gespräche führt man nicht, wenn man Computer verkauft."
Im Saal der Presbyterianischen Kirche herrscht Messeatmosphäre. An einem Stand werden CDs der beteiligten Künstler verkauft, an einem anderen stellt sich ein Internetradio vor, das ausschließlich Geschichtenerzähler zu Wort kommen lässt. Auch die - wenigen - Sponsoren des Festivals sind vertreten.
Dolores Hydock setzt sich an einen Holztisch. Neben ihr David Holt, einer der Großen in der Welt der Geschichtenerzähler. David Holt ist Grammy-Preisträger, nicht für sein eigenes Werk, sondern für die Produktion einer CD von Doc Watson, einem der Ur-Väter des Storytelling. Watson, sagt David Holt, ist eines seiner Vorbilder. Das andere ist sein Onkel B.
"Heute Morgen noch musste ich an ihn denken. Onkel B war Jahrgang 1892, also schon alt, als ich ein Kind war. Aufgrund einer Lungenkrankheit hatte er ein Loch im Hals und konnte nur mit Hilfe von künstlichen Stimmbändern sprechen. Onkel B erzählte ständig Geschichten und zwar so. Eine seiner Geschichten habe ich im Programm, dass er als junger Mann gesehenen hat, wie zwei Frachtzüge für irgendeine Werbung ineinander fuhren. Außerdem hat er meinem Bruder und mir erzählt, dass wir mit Frank und Jesse James, den beiden Banditen verwandt seien. Außer ihm wusste niemand in unserer Familie davon, und nach seinem Tod hieß es nur: Ach ja, das war Onkel B, wie er durch seinen Kopf gesprochen hat – eine Umschreibung für lügen."
Appalachen sind die Heimat der besten Geschichtenerzähler
David Holt beugt sich vor und signiert ein Buch für ein junges Paar. Von Menschen wie Onkel B, sinniert er, habe er etwas Wichtiges gelernt: Beim Erzählen kommt es nicht auf den Wahrheitsgehalt an, sondern darauf, die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen und die Pointen richtig zu setzen. Onkel B hat sein Interesse fürs Storytelling geweckt, und so ist David Holt vor über 40 Jahren nach Asheville in North Carolina gezogen, ins Herz der Appalachen, die Heimat der besten Geschichtenerzähler.
"Als ich 1969 in diese Gegend kam, gab es noch viele alte Menschen, geboren im späten 19. Jahrhundert. Ich fand sie faszinierend, ihre Musik und die Geschichten, die sie erzählt haben. Beides sammle ich, beides bringe ich auf die Bühne."
Auch Dolores Hydock hat die Suche nach authentischer Folklore in die Südstaaten geführt. Ein klassisches amerikanisches Muster, das sich durch die populäre Kultur zieht, von Mark Twain bis zu Jack Kerouac, von Woody Guthrie bis zu Bob Dylan. Die Städte, vor allem im Osten, sind Schmelztiegel, in denen jegliche Tradition verloren geht. Oder das Tempo ist so hoch, dass keine Zeit bleibt, sie zu pflegen. Nicht nur in den USA, sagt David Holt.
"Ich glaube, das ist ein weltweites Phänomen: Die Jahrgänge aus dem späten 19. Jahrhundert hatten noch eine Verbindungen zu den Jahrhunderten vor ihnen. Wir haben das verloren, wir stehen mehr auf iPhones, neue Technologien und all so was. Für die Menschen früher war das 19.Jahrhundert noch präsent, selbst das 17."
Dolores Hydock räuspert sich.
"Die Menschen mit ihren digitalen Geräten glauben, sie hätten die virtuelle Realität erfunden, dabei ist Storytelling die erste Form von virtueller Realität. Mit unserer Vorstellungskraft schaffen wir künstliche Welten, die für uns absolut real sind. Sie sind so real wie alles, was du auf einem digitalen Bildschirm sehen kannst."
Im Zelt, in dem David Holt auftritt, sind alle Sitzplätze belegt. Seine Show beginnt mit einem Bluessong – er singt, spielt Mundharmonika und schlägt den Takt. Das Publikum geht begeistert mit.
Dann erzählt er von Ray Hicks, einem der Veteranen des Storytelling. Hicks war ein Meister im Erfinden von so genannten jacktales, von Geschichten über die Verfehlungen eines schwachen Charakters, eines Mannes namens Jack. Jacktales stammen aus den Appalachen, es gibt sie als Geschichten und als Songs, begleitet von Gitarre, Banjo, Waschbrett. Die Geschichten von Ray Hicks, David Holt, legt eine Kunstpause ein, sind buchstäblich über Tage gegangen, er hat überlieferte mit eigenen Storys verwoben.
"Und er hat immer Zuhörer gehabt, die Kinder aus der Nachbarschaft, Freunde, Zufallsbekanntschaften. Musste einer gehen, pflegte Ray Hicks das mit einem lakonischen 'And so...' zu quittieren. David Holts letztes Erlebnis mit Ray Hicks hat im Hospiz stattgefunden. Der alte Mann liegt im Sterben, Holt spielt ihm 'Amazing Grace' vor, das bekannteste amerikanische Kirchenlied. Plötzlich richtet sich Ray Hicks auf."
Danach hat Ray Hicks noch drei Monate gelebt und eine Geschichte nach der anderen erzählt.
Storytelling boomt auch in Kalifornien und Illinois
Nach dem Auftritt. David Holt packt seine Instrumente zusammen. Ein alter Mann mit Halbglatze und schlohweißem Vollbart geht ihm zur Hand. Holt stellt ihn als Jimmy Neil Smith vor, den Gründer des Storytelling Festivals.
"Vor 38, 39 Jahren war Jonesborough eine sterbende Stadt, und wir suchten Wege, sie wieder aufzuwerten. Eines Tages fuhr ich mit meinen Schülern in eine Nachbarstadt, um die Schülerzeitung zu drucken, ich habe damals Journalismus unterrichtet. Im Radio lief Jerry Clover, ein bekannter Humorist und Geschichtenerzähler, der regelmäßig in der berühmten Grand Ole Opry in Nashville auftrat. Er erzählte eine Story über eine Jagd in Mississippi. Wir lachten, stießen uns gegenseitig an und hatten viel Spaß. Irgendwann habe ich mich umgedreht und in die Runde gefragt: Warum holen wir nicht Leute wie ihn nach Jonesborough und lassen sie hier ihre Geschichten erzählen?"
Die ersten Festivals, die beiden Männer blicken sich an, waren eher improvisiert.
"Ich war zum ersten mal 1976 hier, bei einem der frühen Festivals. Damals hatte ich keine Ahnung, dass es überhaupt andere Leute gab, die sich Geschichtenerzähler nannten. Auftritte fanden in jenen Jahren auf den Veranden von irgendwelchen Privatleuten statt, für die bekannteren Künstler gab es einen Planwagen als Bühne, und es kamen vielleicht 150 Zuschauer. Ich bin froh, damals dabei gewesen zu sein, denn so habe ich das Revival des Storytelling von Anfang an miterlebt."
"Außer dem Planwagen gab es Heuballen, auf denen die Leute saßen, plus ein paar Stühle von unserem Bestatter. Oder die Leute saßen auf der Bordsteinkante. Der Anfang war sehr, sehr bescheiden."
Heute boomt das Storytelling. Festivals finden überall in den Südstaaten statt, aber auch Kalifornien und Illinois. Viele Stadtbüchereien haben zudem Erzählabende im Programm. Nach wie vor kommen zwei von drei professionellen Geschichtenerzählern aus Tennessee und den angrenzenden Staaten. Den Planwagen, auf dem die ersten Storyteller aufgetreten sind, gibt es noch immer. Er steht im Park von Jonesborough. Darauf Magda DuBois, eine junge Frau mir brünetten langen Haaren. Davor auf Strohballen ein paar wenige Zuschauer. Swapping Ground heißt dieser Auftrittstort, Tauschbörse. Hier kann aufttreten, wer will. Er muss sich nur am Vorabend einschreiben.
Ihre Story ist eine Variante der Blaubartgeschichte. Über Mr. Fox, einen Heiratschwindler, der sich mit einer Frau nach der anderen verlobt, die Damen in sein Schloss lockt und sie dort tötet. Und über die tapfere Lady Margaret, die ihn schließlich zur Strecke bringt.
Magda duBois ist 24, sie kommt aus Johnson City, nicht weit von Jonesborough entfernt.
"Auf dem Swapping Ground treten wir umsonst auf, während die Künstler in den Zelten ihren Lebensunterhalt damit verdienen. Hier sind die Leute jünger, na ja, jünger als 40... man braucht halt so lange bis man den Durchbruch geschafft hat, das ist wie bei Musikern. Man muss sich vernetzen, man muss viel reisen, seinen Job und die damit verbundene Sicherheit aufgeben. Gerade in der heutigen wirtschaftlichen Situation sind nur wenige bereit, so viel für ihre Kunst zu opfern."
Aufgewachsen 100 Kilometer entfernt vom nächsten Ort
Magda DuBois hält inne. Eigentlich begreift sie sich selbst ebenfalls als Profi, auch wenn sie ihren Lebensunterhalt als Bibliothekarin verdient. Pro Show verlangt sie 60 Dollar, bei im Schnitt zehn Auftritten pro Monat, in Altenheimen, Büchereien und Schulen, kommt aber nicht mehr als eine kleines Zubrot heraus. Auch die Stars der Zunft werden bei Gagen von 300 – 500 Dollar nicht reich, nur ein paar wenige Geschichtenerzähler treten für fünfstellige Beträge auf. Und trotzdem, sagt Magda: Irgendwann wird sie ihre Job aufgeben und ganz aufs Geschichtenerzählen setzen.
"Ich bin superbillig, ich möchte mir einen Kundenstamm aufbauen und die Preise erhöhen, wenn ich mehr Erfahrung habe."
Der Gegenentwurf zu Magda duBois hat einen Walross-Schnäuzer im Gesicht, einen riesigen Stetson auf dem Kopf und schreibt gerade Autogramme im Saal der Presbyterianischen Kirche. Vor ihm eine lange Schlange. Eigentlich war nur eine Autogrammstunde angesetzt, aber jetzt sitzt Waddie Mitchell aus Elko, Nevada, schon mehr als 30 Minuten länger hier, schenkt jedem Fan ein Lächeln und berichtet nebenbei über seine Anfänge als Geschichtenerzähler.
"Ich bin auf einer Farm aufgewachsen, 100 Kilometer entfernt vom nächsten Ort, davon 50 Kilometer Schotterweg. Wir hatten keinen Strom und folglich keinen Fernseher oder andere Geräte, mit denen sich andere Leute abends die Zeit vertreiben. Stattdessen haben wir etwas Seltsames gemacht, wir haben zusammen gesessen und geredet. Ich wusste gar nicht, dass dies unmodern geworden war, bis ich anfing, meine Gedichte öffentlich zu lesen. Und ich habe festgestellt, dass die Leute gierig sind, so etwas zu hören."
Eigentlich ist Waddie Mitchell ein Cowboy-Dichter. Wie die Menschen in den entlegenen Tälern der Appalachen haben sich auch die Cowboys die Zeit am Lagerfeuer mit Geschichten vertrieb – nur eben in Reimform.
"Ich habe mich lange gefragt, was ein Dichter auf einem Storytelling Festival zu suchen hat. Bis ich darüber nachgedacht habe, was eine Geschichte ist. Eine Geschichte enthält eine Handlung, Personen, ein Ende. Mit anderen Worte: Eine Geschichte ist eine Momentaufnahme des Lebens. Manchmal sind es wahre Momente, manchmal wie bei mir, die größten Lügen, die man sich vorstellen kann. So gesehen gibt es nichts, was nicht passen würde: Film, Romane, Kurzgeschichten, Theater, Rockmusik, Country, Folk – egal was, alles ist Storytelling."
Abends auf der Bühne im größten Zelt, vor 3000 Zuschauern. Auftritt Waddie Mitchell.
Er trägt ein Gedicht vor, kein eigenes, es stammt vielmehr von S Omar Barker, einem der frühen Cowboy-Dichter, und handelt von einer Bärenjagd. Genauer: Wie zwei Jungen all ihren Mut zusammennehmen und einem Grizzly nachstellen, wie sie seine Spuren lesen und verfolgen, wie ihnen mehr als einmal das Herz in die Hose rutscht. Und wie sie den Bären schließlich erlegen – das jedenfalls erzählen sie ihren Freunden. In Wirklichkeit hat einer von ihnen beim Schuss so gezittert, das statt des Grizzly das Maultier dran glauben musste, mit dem sie unterwegs waren.
Tom Noga: "Bei Geschichtenerzählern denkt man an den Opa im Schaukelstuhl, der seinen Enkeln einen Schwank aus seiner Jugend erzählt, egal ob nun erfunden oder auch nicht. Was die Storyteller in den USA angeht, liegt man damit gar nicht so falsch."