Das goldene Radio-Zeitalter steht noch bevor
Radiotopia - ein Kunstwort aus Radio und Utopie, genau daran arbeiten preisgekrönte US-Radiomacher. Online produzieren sie innovative Storytelling-Formate, finanziert durch Crowdfunding.
"It turns out that it’s really hard to change an institution, it’s much easier to create a new one."
Es ist viel einfacher eine neue Institution zu gründen, als ein bestehendes System zu verändern. Mit diesem Satz bezieht sich Radioautor und Moderator Benjamen Walker auf den Public Radio Verbund in den USA. Seit mehr als 15 Jahren erzählen ihm dort Kollegen, was man alles machen könnte. Neue, kreative Formate entwickeln, das Radio revolutionieren. Viel geändert hat sich seiner Meinung nach jedoch nicht. Genau deshalb nehmen er und ein gutes Dutzend befreundeter Radiomacher die Weiterentwicklung des Radios nun einfach selbst in die Hand.
Radiotopia heißt ihre wahrgewordene Radioutopie. Dahinter steckt kein Funkhaus, kein klassischer Sender und keine Hörfunkanstalt, sondern ein Kollektiv von freien Radiomachern, die ihre Autoren-Sendungen im Internet veröffentlichen.
"I think of it as an indie label …"
Für mich ist Radiotopia wie ein Indie-Label, sagt Roman Mars, Gründer des Radiotopia-Netzwerks. Er ist mit Punk- und Indie-Rock groß geworden und seit Jahren Fan von Do It Yourself-Labels wie Dischord oder Lookout. Die seien immer ein Garant für tolle Künstler. Genau das sei auch sein Ziel für Radiotopia.
Das selbsternannte Radio-Indie-Label startete im Februar 2014 und ist ein bunter Haufen von Radiomachern, die ihr Handwerk lieben. Ein radiophoner Spielplatz voller handverlesener Autoren, mit eigener Handschrift und eigenem Verständnis darüber wie Radio klingen soll. Derzeit produziert das Radiotopia-Kollektiv sieben Sendungen.
Über 20 Millionen Downloads
Die populärste Show, mit bisher über 20 Millionen Downloads, stammt vom Gründer selbst.
Ausschnitt:"My Name Is Roman Mars. This is 99 Percent Invisible. Try to make radiation signs that will last 10.000 years to warn people from radiation."
"Versuch’ mal Schilder zu entwerfen, die auch noch in 10.000 Jahren Menschen vor radioaktiver Strahlung warnen."
“The real innovation in elevators was the safety break.“
"Die wichtigste Innovation für das Wolkenkratzer-Zeitalter war nicht etwa der Fahrstuhl, sondern dessen automatische Bremsanlage."
Das sind einige der Themen der wöchentlichen Design- und Architektur-Sendung 99 Percent Invisible.
"It often tends to focus on little mundane things and telling you the story behind them."
Es geht oft um kleine, nebensächliche Dinge und die Geschichte dahinter. Um all die Design- und Ingenieurskunst, die für Außenstehende verborgen bleibt, erklärt Roman Mars. Design sei eben meistens unsichtbar. Deshalb der Name “99 Percent Invisible”.
Fiktive Geschichten - die wahr sein könnten
Benjamen Walkers Sendung “Theory Of Everything”, die “Alles-Theorie”, beackert so ziemlich alles, was Benjamen Walker interessiert. Internet-Spam, 1984, oder Einsamkeit.
“Can you prove that you can die of lonelyness?” Kann Einsamkeit töten? “That’s the question.”
Diese Frage stellt die dänische Fotografin Tina Enghoff in Walkers Sendung “When you’re lonely, life is very long”. Enghoff hat Wohnungen von einsam verstorbenen Menschen in Kopenhagen fotografiert. Benjamen Walker schickte für diese Geschichte Reporter Pejk Malinovski in die dänische Hauptstadt.
“The body they had found was in such a state of decomposition that they had to cut out a rectangular square in the carpet to carry it away.”
Die von Jonathan Mitchel produzierte Sendung “The Truth”, erzählt fiktive Geschichten und spielt dabei mit der Wahrheit. Die Hörspiele und zum Teil improvisierten Inszenierungen sind oft so gut geschrieben, so authentisch geschauspielert, dass sie wahr sein könnten.
Der erste bemannte Flug auf die Mondoberfläche am 20. Juli 1969 war ein Erfolg. Die abenteuerliche Reise hätte aber auch zum Desaster werden können. Für diesen Fall stand dem damaligen US-Präsidenten Nixon eine Rede zur Verfügung, die er nach einem möglichen Scheitern der Weltöffentlichkeit präsentiert hätte. Genau hier setzt das Stück “Moon Graffiti” an. Die Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin sitzen auf dem Mond fest, eine Rückkehr zur Erde ist unmöglich und ihr Sauerstoff reicht noch zwei Stunden.
Lebendige, anspruchsvoll produzierte Geschichten
Was alle bisherigen Radiotopia-Formate eint, ist der Fokus auf das Storytelling. Es gibt keine schnöden Interviews, sondern lebendig erzählte, wohl klingende und anspruchsvoll produzierte Geschichten. Vom Leben eines illegalen Einwanders, von obdachlosen Bankräubern bis zur Geschichte des Faustkeils oder dem Tunnelbau unter der Berliner Mauer. Für diese inhaltliche Spannbreite steht das Online-Radiokollektiv. Und wenn es nach Roman Mars geht, dann geht das Geschichtenerzählen jetzt erst richtig los.
“I really believe in these people, i really love radio. I really think that …”
Ich liebe Radio und ich glaube fest daran, dass wir eine bessere Umgebung für das Radio schaffen können, sagt er. Bei Radiotopia sollen die Besten der Besten zu hören sein. Das habe so noch niemand versucht, und er vertraut nicht darauf, dass es jemand anderes machen wird.
Roman Mars spricht von einem goldenen Zeitalter des Radios. Mit dem Internet sei nun endlich die richtige Infrastruktur vorhanden, um direkt für die Hörer zu produzieren. Und genau die stehen damit auch in der Verantwortung.
“We all pitch in to create the public media we deserve.”
Wie gut ein Medium ist, liegt ganz in der Hand derjenigen, die es finanzieren, heißt es in dem Werbevideo zur Spendenkampagne. Radiotopia scheint in dieser Hinsicht auf einem sehr guten Weg zu sein.