Strafrechtler Kühne: Urteil gegen Marco W. muss bald fallen

Moderation: Birgit Kolkmann |
Im Missbrauchsprozess gegen den niedersächsischen Jugendlichen Marco W. ist nach Einschätzung des Strafrechtlers Hans-Heiner Kühne ein Urteil in den kommenden fünf Wochen fällig. Das Gericht in Antalya müsse dringend versuchen, zu einer verwertbaren Aussage der Belastungszeugin, der 13-jährigen Charlotte aus Großbritannien, zu gelangen. Anderenfalls bewege sich das Verfahren außerhalb des Rahmens der europäischen Menschenrechte, sagte der Strafrechtler von der Universität Trier, der das türkische Außenministerium in Menschenrechtsfragen berät.
Kolkmann: Schmusen, knutschen, fummeln, Jugendliche sagen dazu heute "rummachen". Früher hieß das Petting, und irgendwann tun es alle. Nicht alle sind so jung wie Charlotte, die 13-jährige Britin, die im Osterurlaub in der Türkei Zärtlichkeiten mit Marco ausgetauscht hatte. Seit dem 12. April sitzt der 17-jährige Uelzener im Hochsicherheitsgefängnis von Antalya in Untersuchungshaft, der Vorwurf: versuchte Vergewaltigung. Sieben Verhandlungsrunden gab es seitdem vor Gericht, sieben Mal wurde diese wieder vertagt, und immer noch liegt das Vernehmungsprotokoll aus England nicht offiziell vor. Heute ist wieder eine Verhandlung angesetzt.

Kommt Marco W. nun endlich frei? Und hat das türkische Gericht das Verfahren verschleppt? Ein deutscher Strafrechtler, Professor Hans-Heiner Kühne von der Universität Trier, ist seit fünf Jahren Gastprofessor an der Kültür Universität in Istanbul und außerdem berät er das türkische Außenministerium in Menschenrechtsfragen und wurde in die Kommission zur Schaffung eines neuen Polizeirechts berufen. Wir haben ihn jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!

Hans-Heiner Kühne: Guten Morgen.

Kolkmann: Professor Kühne, was würden Sie sagen: Wäre Marco in Deutschland längst frei?

Kühne: Wahrscheinlich, aber nicht notwendig. Wir müssen hier berücksichtigen, dass die Entscheidung über die Frage der Untersuchungshaft, gerade wenn es um internationale Fälle geht, sehr heikel ist. Wir bemühen uns in Deutschland, gerade gegenüber Nicht-Erwachsenen, die Untersuchungshaft zu vermeiden oder aber relativ kurz zu halten, aber auch das klappt bei uns in Deutschland nicht immer. Insofern kann man also nicht mit Sicherheit sagen, dass Marco, wenn es sich um einen Türkenjungen in Deutschland gehandelt hätte, hier schon raus wäre.

Kolkmann: Sie sind ja auch Fachmann für Opfer- und Täterschutz im Strafverfahren. Es handelt sich hier ja um zwei Jugendliche, 13 und 17 Jahre alt. Wird das türkische Gericht weder dem mutmaßlichen Opfer noch dem mutmaßlichen Täter gerecht?

Kühne: Das kann man so aufgrund der Informationsbasis nicht sagen. Man kann nur sagen, dass das türkische Gericht sich hier schwer dabei tut, mit der Belastungszeugin, die nicht unmittelbar greifbar ist, zu kommunizieren und die strafprozessual erforderlichen Dinge bereitzustellen. Und dazu gehört nicht nur eine polizeiliche Vernehmung, die jetzt offenbar - wenn auch noch unübersetzt - vorhanden ist, sondern dazu gehört, wenn denn die Anwesenheit nicht möglich ist, etwa eine Videokonferenz oder aber zumindest eine richterliche Vernehmung von Charlotte.

Kolkmann: Hat denn die türkische Justiz da europäische Standards verletzt oder ist das alles noch im Rahmen des Tolerierbaren?

Kühne: Das fängt an, diesen Rahmen zu verlassen. Es ist sicherlich dem türkischen Gericht zuzugestehen, dass es schwierig ist, in der Situation das Notwendige zu tun, weil die Engländer ja da mitmachen müssen, und der türkische Anwalt von Charlotte sich nun wirklich bemüht, das Ganze zu verzögern und das auch mit rechtlich guten Argumenten tut, so dass er nicht einfach zur Seite zu wischen ist. Das macht die Sache für die Türken schwierig.

Andererseits müssten die in einer solchen Situation auch irgendwann zu einem Ende kommen und sich ganz energisch darum bemühen, jetzt endlich zu einer verwertbaren Aussage zu kommen, wie ich bereits sagte, ist das entweder eine richterliche Vernehmung oder aber eine Videoschaltung, wo auch Marco und seine Anwälte Gelegenheit haben, Fragen zu stellen. Alles andere führt zu nichts, und wenn das nicht absehbar ist, dass das kommt, dann muss das Gericht sehr schnell zu einer Entscheidung kommen auf Basis der vorhandenen Informationen, auch der geständigen Einlassung und sowas von Marco. Und wenn das nicht geschieht innerhalb der nächsten vier, fünf Wochen, dann wird sich das Gericht außerhalb des Rahmens bewegen, der in Europa gesteckt wird, vor allem was die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angeht.

Kolkmann: Der Vorsitzende Richter wollte ja das Verfahren niederlegen, er muss es aber weiterführen. Was glauben Sie steckt dahinter, wie bewerten Sie das?

Kühne: Nun, der wird es einfach leid sein, weil das eine ganz ungewöhnliche Konstellation ist, mit der er früher noch nicht konfrontiert worden war, er kriegt von allen Seiten nur Druck und was immer er macht, es wird von einer Seite als falsch angesehen. Dass er sich dem entziehen will, ist menschlich irgendwo verständlich.

Kolkmann: Das Verfahren ist ja auch längst politisiert, es geht um die Frage, ob die Türkei ihr Rechtssystem schon so reformiert hat, dass sie europatauglich oder EU-tauglich wäre. Die türkische Regierung wurde unter Druck gesetzt, auch von Seiten deutscher Politiker. Ist das etwas, was im Prinzip alles Marco - und natürlich auch dem mutmaßlichen Opfer - schadet?

Kühne: Absolut. Das war das Dümmste, was man hat machen können. Man hat die Türkei wie eine Bananenrepublik behandelt, obwohl man wusste, dass sie gerade in letzter Zeit sämtliche Anforderungen an moderne Gesetze erfüllt hat und sich da auf wirklich gutem Stand befindet. Und wenn da prominente deutsche Politiker sagen, dass sich an diesem Fall die Europatauglichkeit der Türkei erweist, ohne irgendeine Ahnung von dem Sachverhalt zu haben, dann ist das nicht nur peinlich, sondern dann ist das absolut schädlich.

Kolkmann: Woran liegt es eigentlich, dass der Fall so hoch emotionalisiert ist? Ist das die Schuld der Eltern des Mädchens oder die Schuld der Medien, oder sind es auch unterschiedliche kulturelle Auffassungen, die sich hier zeigen?

Kühne: Es ist alles drei. Es ist zunächst einmal natürlich die Reaktion der Mutter, die das Ganze zu einem Problem hochstilisiert hat.

Kolkmann: Das Mädchen - angeblich - wollte ja kein Verfahren.

Kühne: So hört man es, ja, und ich kann das auch gut verstehen, dass das Mädchen in der Situation kein Verfahren will, aber die Mutter hat das nun hochgezogen. Dann kam die politische Intervention, die dem Ganzen einen Wert gegeben hat, der dem Verfahren überhaupt nicht zusteht. Das ist keine politische Angelegenheit, das ist ein Gerichtsverfahren, was besser oder schlechter läuft, aber sonst nichts. Und zum Schluss ist es natürlich auch der besondere Reiz dieser kulturellen Konflikte, die hier ausgespielt werden, die die Medien dann daran interessiert sein lässt und die ganze Angelegenheit höher spielt, als sie es verdient.

Kolkmann: Da sind nun zwei Jugendliche im Urlaub in einem muslimischen Land, dieses Land lebt auch davon, dass diese Urlauber kommen und dass die gesamte touristische Infrastruktur wie Discos etc. zur Verfügung steht. Wird nun möglicherweise aber doch mit einem sehr harten Urteil zu rechnen sein, was wiederum gar nicht zu den Lebensumständen der Kinder passt, also wenn Marco 15 Jahre Haft drohen beispielsweise?

Kühne: Ja, das geht ja nicht so ohne Weiteres. Wenn Charlotte nicht kommt bzw. wenn wir nicht über eine Videokonferenz hier eine tatsächliche Vernehmung machen können, dann wird an der Beschuldigung der versuchten Vergewaltigung überhaupt nichts bleiben. Das kann man nicht machen. Dann wird schlimmstenfalls sexueller Umgang mit einem Kind zur Debatte stehen, wobei noch die Frage ist: Wusste Marco tatsächlich, dass sie noch 13 war, also noch den Kinderschutz genießt, oder nicht? Auch ein Freispruch wäre hier möglich. Aber auch denkbar, je nachdem, wie das Gericht argumentiert und denkt, könnte man hier sexuellen Umgang mit einem Kind als Straftatbestand nehmen, der dann eine Bewährungsstrafe, weil Marco ja auch noch nicht erwachsen ist, zur Folge haben könnte.

Kolkmann: Auch Marco ist ein Kind und seine Anwälte wollen ja nun vor den EU-Menschenrechtsgerichtshof ziehen. Ist zu wenig beachtet worden, dass in dem nun schon sieben Monate andauernden Fall jetzt ein Kind, in diesem Falle Marco, in einer Großraumzelle im Hochsicherheitsgefängnis von Antalya sitzt, zusammen mit 15 bis 20 anderen Häftlingen, und darunter psychisch sicher leiden muss?

Kühne: Nein, das ist es eher nicht, denn wenn wir uns die entsprechenden Situationen in Griechenland, in Süditalien, in Frankreich und in Spanien ansehen, dann sieht das nicht viel anders aus.

Kolkmann: Das macht es ja nicht besser.

Kühne: Das macht es nicht besser, aber das weiß natürlich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wie es da aussieht, und er wird sich hüten, hier vorschnell eine Verurteilung auszusprechen, die bedeuten würde, dass ein großer Teil von südeuropäischen Strafvollzugsanstalten als unzulässig gelten würde. Das kann ich mir so nicht vorstellen.

Das heißt nicht, dass es angenehm ist, aber es ist auch nicht so schlimm, wie das hier beschrieben wird. Ich kenne auch die türkischen Gefängnisse, auch die griechischen, spanischen, französischen Gefängnisse, dort ist es im Gegensatz zu unserem Vollzug üblich, die Leute in einer Gemeinschaftszelle relativ eng beieinander zu halten, ihnen aber tagsüber sehr viel mehr Bewegungsfreiheit zu geben, als es bei uns der Fall ist.

Bei uns kann es einem Untersuchungshäftling blühen, dass er 23 Stunden allein in seiner Zelle hockt und eine Stunde Hofgang hat, was für seine psychische und physische Gesundheit höchstwahrscheinlich sehr viel schlechter ist als das, was Marco im Augenblick erlebt.

Kolkmann: Zum Fall Marco, der heute wieder in Antalya verhandelt wird, war das der deutsche Strafrechtler Professor Hans-Heiner Kühne von der Universität Trier, er ist Berater des türkischen Außenministeriums in Menschenrechtsfragen. Ich bedanke mich für das Interview in Deutschlandradio Kultur!