Strafvollzug in Russland

Bescheidene Fröhlichkeit bei der Purim Feier hinter Gittern

07:19 Minuten
Ein gläubiger Häftling trägt zu Purin schwarze, lederne Gebetsriemen, die um Arm, Hand und Finger gebunden werden.
Zur Purim Feier legen die gläubigen Häftlinge schwarze, lederne Gebetsriemen an. © Deutschlandradio/Julia Larina
Von Thielko Grieß · 14.03.2020
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Einer Purim Feier in der russischen Strafkolonie Nummer 7 in St. Petersburg wohnte unser Korrespondent Thielko Grieß bei. Rabbiner Ifrah Abramow besucht dort jüdische Gefangene, die ihre Haftstrafen absitzen.
Gefängnisse in Russland haben einen schlechten Ruf, auch in Russland selbst. Auch wir haben schon zum Beispiel über Folter berichtet, auch über politische Gefangene. Aber es gibt Graustufen, die auch Positives enthalten. So genießen religiöse Gefangene trotz der strengen Haftbedingungen ein erstaunliches Maß an Glaubensfreiheit – worin sich auch die russische Gesellschaft spiegelt: Das Land ist zwar mehrheitlich entweder atheistisch oder orthodox, versteht sich aber auch als multiethnisch und multireligiös.
Unser Korrespondent, Thielko Grieß, hat in Sankt Petersburg die Strafkolonie Nummer 7 besuchen können; so etwas ist für ausländische Journalisten nicht oft möglich. Dort sitzen Straftäter ein, die zum wiederholten Mal verurteilt wurden. Unter ihnen sind auch jüdische Gefangene. Auch sie konnten vor wenigen Tagen das Fest Purim feiern.

Feier im Gebetsraum

Der Gebetsraum ist nicht viel größer als ein Büro. Er darf sich vom kargen Gefängnisalltag abheben. Vor den Fenstern rosa-beige Vorhänge, auf einem Regal steht ein Chanukkaleuchter aus Messing, hinter ihm hängt die Flagge Israels an der Wand. In der Mitte steht ein einfacher brauner Tisch aus Pressholz, das bunte Karomuster der Stühle setzt einen zurückhaltenden Akzent. In einer Ecke wartet ein Wasserkocher. Den brauchen die Gefangenen gleich noch.
Der Rabbiner tritt durch die Tür und begrüßt die vier Häftlinge. "S prasdnikom" wünscht er, zum Feiertag, ein in Russland gebräuchlicher Gruß zu Neujahr, zum Tag des Sieges im Mai oder eben zu Purim.
Der Rabbiner Ifrah Abramow begleitet die Purim Feier im Gefängnis.
Der Rabbiner Ifrah Abramow begleitet die Purim Feier im Gefängnis. © Deutschlandradio/Julia Larina
Rabbiner Ifrah Abramow assistiert den Gläubigen, nacheinander die schwarzen ledernen Gebetsriemen um Arm, Hand und Finger zu wickeln. Der dritte in der Reihe heißt Semjon. Er ist ein großer schlanker Mann, 40 Jahre alt, trägt eine getönte Brille.
"Drogen" sagt er auf die Frage, weshalb er in Haft sitzt. Schon seit mehr als einem Jahr, und noch bis November. Er hofft auf die Chance, bei guter Führung früher rauszukommen.
Semjon spricht mit dem Rabbiner einen Segen und liest danach in Stille das Gebet "Schma Jisrael".
"Der Glaube hilft Dir prinzipiell, unabhängig von den Bedingungen. Wenn Du an etwas glaubst, dann lebt es in Dir, dann wärmt es Dich. Ob nun hier oder draußen. Wenn ein Mensch nur hier in Haft zu glauben beginnt, dann ist er ein Opportunist, finde ich. Das ist nicht besonders richtig."
Rabbiner Abramow erinnert sich, diesen Raum gebe es seit 2011. Die Zusammenarbeit mit dem Strafvollzugsdienst in der Stadt Sankt Petersburg und der Region sei vorbildlich. "Außer diesem Gebetsraum gibt es weitere in anderen Gefängnissen. Und auch im Frauengefängnis. So etwas gibt es nur in Sankt Petersburg – weltweit. Auch nicht in Israel."
Der Gefängniseingang zur Strafkolonie Nummer 7 in St. Petersburg, Russland.  
Der Eingang zur Strafkolonie Nummer 7 in St. Petersburg. © Deutschlandradio/Julia Larina
Semjon erzählt vom Gefängnisalltag. Nicht alle Glaubensregeln lassen sich jederzeit einhalten. Zum Beispiel gebe es kein koscheres Essen, aber immerhin könnten sie einen Bogen um Schweinefleisch machen. Und der eng getaktete Tagesablauf aus Mahlzeiten, Arbeit und Kontrollen gelte auch am Sabbat.
Zu Purim gehört es, dass der Rabbiner auf Hebräisch aus dem Buch Esther vorliest. Die Geschichte über die Rettung des Volkes Israel. So geht es mehr als eine halbe Stunde lang. Semjon sitzt daneben, liest den Text mit, den er auch in russischer Übersetzung in den Händen hält.
Die Lesung mündet nahtlos in den geselligen Teil dieser Purim-Feier: Mit heißem Wasser aus dem Kocher wird schwarzer Tee in Pappbechern gebrüht, Packungen mit koscherem Gebäck geöffnet. Und weil Purim ist, stehen auch die dreieckigen Hamantaschen auf dem Tisch. Ein Gebäck, eine süße Köstlichkeit aus Teig, Honig, Früchten und Sesam. "Die Oma hat mir schon beigebracht, die zu machen, da war ich noch nicht in der Schule. Purim ist ein helles, ein schönes Fest."

Ohne Musik und Tanz

Zu dem eigentlich auch Musik und Tanz gehört. Hier, hinter Gittern, muss die Fröhlichkeit etwas bescheidener ausfallen. Aber auch hier ist Zeit für Gespräche, und es geht locker zu, was vielleicht auch daran liegt, dass einer der vier am nächsten Tag entlassen wird, zu Frau und Kind. Der Rabbiner sagt, jeder zweite, der im Gefängnis diese Gemeinschaft gesucht hat, sucht sie auch draußen.
Nach gut anderthalb Stunden verabschieden die Gefangenen den Journalisten, der wieder gehen darf. Sie selbst gehen bald zurück in ihre Alltagsroutinen. "Es gibt gleich Mittagessen. Dann ist etwas Freizeit, in der man lesen kann. Dann Kontrolle und das Abendessen."
Noch aber bleiben der Rabbiner und seine kleine Gemeinde in ihrem Gebetsraum zurück, wollen allein weiter sprechen, ohne Mikrofon und auch ohne Aufsicht durch Vollzugsbeamte. Selbst das ist möglich. Man vertraue sich eben, sagen beide Seiten.

Unser Moskau-Korrespondent Thielko Grieß hat mehr als ein Jahr lang daran gearbeitet, diesen Gefängnisbesuch zu organisieren und Kontakte in die Gefängnisverwaltung aufgebaut. Geholfen hat dabei, dass ein Thema festgelegt wurde, bei dem es um die Religionsausübung in der Haftanstalt ging und nicht ganz allgemein um die Zustände in russischen Gefängnissen. Besuchen konnte Grieß dann nur den Gebetsraum. Außerdem musste er alle elektronischen Geräte vorher abgeben, außer einem analogen Aufnahmegerät.

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