Wenn zwei Theater 100 werden
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war in vielen deutschen Städten ein Bauboom der besonderen Art ausgebrochen. Auch in der sogenannten Provinz wollte sich das aufstrebende Bürgertum neue, moderne Spieltempel leisten, so in den vorpommerschen Hansestädten Stralsund und Greifswald.
Festlich gekleidetes Publikum hat im Gustav-Adolf-Saal die Plätze eingenommen, darunter Honoratioren von Stadt, Landesregierung und Bund. Auf der blau beleuchteten Stralsunder Theaterbühne stimmen die rund 50 Musiker des Philharmonischen Orchesters Vorpommern ihre Instrumente.
Sieben philharmonische Konzerte geben sie pro Jahr. Sie intonieren Opern, Operetten und Musicals. In Sonderkonzerten bespielen sie große hanseatische Backsteinkirchen ebenso wie mobile Bühnen unter freiem Himmel.
Doch an diesem Aprilabend spielen sie das Festkonzert zum 100-jährigen Bestehen des Theaters Stralsund am Kniepertor. Gemeinsam mit drei Chören interpretieren sie das fast vergessene Oratorium "Gustav Adolf" von Max Bruch.
Generalmusikdirektor Golo Berg hatte im Programmheft notiert: Mit dem "Neukennenlernen" des vor hundert Jahren erfolgreichen Musikwerkes könne und dürfe man sich nun "ein Urteil bilden – über die Komposition selbst wie auch über jene Jahre, die Stralsund den Neubau seines schönen Theaters brachten".
Auch Angela Merkel schaut vorbei
Das versucht – zumindest bis zur Pause, dann ist sie weg – auch jene Politikerin, die den Wahlkreis Stralsund im Berliner Bundesparlament vertritt und die zudem Deutschland regiert.
Angela Merkel: "Als Bundestagsabgeordnete freue ich mich, dass ich heute hier mit dabei sein kann und sagen kann: Herzlichen Glückwunsch zum hundertsten Geburtstag!"
Im Weiteren lobt Angela Merkel das Selbstbewusstsein jener Stralsunder Bürgerschaft, die 1912 einen repräsentativen Theaterneubau beschlossen hatte.
Vor dem Stadttor sollte er entstehen, damit die Bürger – wie auf dem Grünen Hügel vor Bayreuth – auch im pommerschen Stralsund die Stadt samt Alltagsfron hinter sich lassen und zur geistigen Erbauung wandeln konnten.
Lob auch für die Bürgerschaft rund 90 Jahre später. Zwar hatte die Stadt viele andere Sorgen. Dennoch beschloss sie, mit dem Verkauf des städtischen Krankenhauses auch die nötigen 16 Millionen Euro für eine gründliche Theatersanierung aufzubringen.
"So schöne Räume … So schön sieht es hinter der Bühne nicht in allen Häusern aus. Also das merkt man schon, dass da sehr viel Geld reingesteckt wurde,"
erzählt die Theatermitarbeiterin Helga Haase bei einer Führung durch das auch technisch mittlerweile hochmoderne Haus. Frau Haase glaubt, dass der damalige Kölner Theater- und Opernhaus-Architekt Carl Moritz sein Stralsunder Gebäude wiedererkennen würde, das er 1916 kriegsbedingt mit zweijähriger Verspätung übergeben hatte, und das zu DDR-Zeiten heftige Eingriffe erlebte. So wurden Decke und Wände von Bühne und Zuschauerraum mit Holz vertäfelt, Fresken mit griechischen Motiven wurden überdeckt und die Schwalbennester abmontiert. Das ist nun wieder anders.
"Also, der Architekt, der dieses Haus hier zwischen 2005 und 2008 in der Runderneuerungszeit gestaltet hat, wollte bewusst eine Berücke bauen zur Moderne heute, hat aber trotzdem den Stil erhalten. Dass also dieses klassizistische Gebäude, das jetzt 2016 einhundert Jahre alt wird, vom Äußeren erhalten bleibt. Und auch der Zuschauerraum mit den typischen Schwalbennester-Logen, die, glaube ich, einmalig sind – das hat er alles erhalten. Er hat es halt behutsam modernisiert....
...jetzt gehen wir in den Zuschauerraum. Diese Schwalbennester, die sehen ja tatsächlich so aus – so rund. Diese Plätze sind hier oben im 1. Rang rechts und links. Das ist schon etwas ganz Besonderes, was dieses Haus hat – die Schwalbennester...
...hier ist der Orchestergraben. Das ist auch eine Besonderheit. Stralsund ist ja von Wasser umgeben, und es ist eigentlich Sumpfgebiet gewesen. Deswegen wurde dieses Theater auf Holzpfeilern errichtet, und da gibt es eine Besonderheit mit dem Orchestergraben. Der wird an Stahlseilen hochgezogen, denn man kann ihn nicht weiter runterlassen, weil da ja eben diese Holzpfeiler sind. Das würde die Statik des Hauses nicht zulassen."
Der angeseilte Orchestergraben
Ob also beim ersten Einsatz des Stralsunder Orchesters im Oktober 1916 in der Operette "Das Dreimädlerhaus", ob bei "Rigoletto" 1925 oder 1965, ob bei "Aida" 1955 oder 2006, ob bei "Tannhäuser" 1917 oder in der kommenden Spielzeit – immer hatten und haben die Musiker wie Dirigenten mit diesem angeseilten Orchestergraben zu tun. Harry Kupfer zum Beispiel, Stralsunds Opern-Oberspielleiter von 1958 bis 1962. Oder der heutige Generalmusikdirektor Golo Berg beim 100-Jahre-Festkonzert.
Übrigens: Diesen fulminanten Schluss von Chor, Solisten und Philharmonie erlebten Kanzlerin Merkel und auch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Sellering nicht mit. Beide hatten sich nach der Pause wieder Richtung Berlin beziehungsweise Schwerin zurückgezogen. Bis zum Ende geblieben war hingegen Kultusminister Mathias Brodkorb (SPD). Dabei hatten ihn einige Zuschauer bei der offiziellen Begrüßung mit kräftigen Buh-Rufen bedacht. Darunter das Ehepaar Fechner in der vierten Reihe.
Friederike Fechner: "Also wir wohnen in Stralsund seit 1994 und wir haben uns auch für diese Stadt entschieden nicht nur, weil wir hier beruflich tätig sind, sondern weil uns der kulturelle Anziehungspunkt und das Theater insbesondere sehr begeistert haben. Ich denke, dass es sehr wichtig ist, denn Stralsund ist eine wachsende Stadt, und da ist es einfach sehr wichtig, dass die Menschen, die herziehen, auch ein großes breites Kulturangebot vorfinden."
Doch das sehen die ehemaligen Hamburger in Gefahr, weil das Theater Vorpommern ab 2018 mit der Theater- und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz zusammengehen soll. Arbeitstitel des dann noch größeren Verbundes mit noch weniger fest ansässigen Ensembles: "Staatstheater Nordost".
Bürger gegen Einsparungen
So jedenfalls die Theaterreform-Pläne des Kultusministers, die inzwischen von allen relevanten Kommunen und Landkreisen unterzeichnet worden sind. Unterzeichnet hatten auch 5000 Stralsunder eine Petition gegen diese Reform. Es half nichts.
Nun tragen Friederike und Dr. Martin Fechner wie auch andere Mitglieder der Stralsunder Bürgerinitiative "TheaterLeben" 2-Euro-große Abzeichen. Darauf: eine weiße lachende Maske und eine schwarze weinende.
Martin Fechner: "Die Masken zeigen, dass man das Theater Stralsund mit einem lachenden und einem weinenden Auge bzw. Gesicht sehen kann. Und sehen muss. Einerseits hundert Jahre, die es erfolgreich hinter sich gebracht hat. Und andererseits eine höchst ungewisse Zukunft, die einem die Tränen in die Augen treiben kann."
Friederike Fechner: "Festkonzert oder Abgesang? – So war unser Titel für die Bürgerinitiative, die sich ja draußen am Eingang postiert hat, um zu dokumentieren: Hier wird nicht nur gefeiert, sondern uns schmerzt auch das Herz. Und wir sind in Sorge über die Zukunft für dieses Theater."
1994 hatte das Stralsunder Theater seine Eigenständigkeit verloren, als es mit den ebenso pleitebedrohten Bühnen Greifswald und Putbus zur "Theater Vorpommern GmbH" vereint wurde. Seitdem spezialisiert sich Stralsund auf Oper und Musiktheater, Greifswald auf Sprechtheater und Tanz. Sie bespielen dann mit ihren Produktionen alle drei Standorte.
Viel Zuspruch, aber wenig Einnahmen
In der vorigen Spielzeit erreichte das Theater Vorpommern fast 183.000 zahlende Gäste. Dennoch reichen die Kartenverkäufe und die öffentlichen Zuschüsse mittlerweile wieder nicht, um die steigenden Kosten zu decken. Das geht allen Stadt- und Staatstheatern in Mecklenburg-Vorpommern so. Die Landesregierung will helfen, aber nur denen, die mit anderen Häusern kooperieren und fusionieren wollen.
Gingen die beiden hundertjährigen Häuser Stralsund und Greifswald in einem "Staatstheater Nordost" auf – es wäre eher eine Rettung der traditionsreichen Theaterstandorte als deren Untergang, meint der geschäftsführende Intendant Dirk Löschner.
"Das ist sicher ein Großprojekt, gegen das sich viele Argumente finden lassen, was das Theaterherz betrifft. Man muss auf der anderen Seite aber sehen, dass es keine wirklich guten Vorschläge gibt, was die Alternative wäre. Denn wir befinden uns in einer relativ strukturschwachen Region, auch wenn das touristisch sehr gemocht wird – das hat ja auch miteinander zu tun. Wir befinden uns eben nicht in einer Industriehochburg. Die Städte sind vergleichsweise klein und nicht so finanzstark, dass sie die Aufwüchse der Kosten aus eigenen Mitteln tragen könnten. Aber irgendwie geht es nun mal nicht mit immer weniger Geld."
"Hallo, guten Tag!"
Zu Gast bei dem Bruder im Theater Greifswald. Kurz nach halb 6 abends.
"Ich bin Sascha Löschner, der Chefdramaturg des Hauses. Haben heute Abend hier 'ne große Premiere mit dem Schauspiel. Deswegen ist hier überall schon ein bisschen Aufregung, sehr lebendig, alles ein bisschen quirlig."
In zwei Stunden werden viele Plätze im Saal besetzt sein. Die Zuschauer blicken dann auf die relativ kleine Bühne, die mal Gefängnis sein wird, mal Kirche, mal American Diner und immer wieder Treffpunkt der "Blues Brothers". Ex-Knackis, die ihre alte Band zusammentrommeln wollen.
Doch noch ist Zeit für einen Gang durchs Haus, an dem sich nicht viel verändert hat, seit es im Oktober 1915 mit dem Lessing-Lustspiel "Minna von Barnhelm" eingeweiht worden war.
Als Doppelhaus geplant, das eine Stadthalle und ein Theater beherbergen sollte, hat der Bau etwas von Trutzburg. Doch während der imposante Eingang zur Stadthalle unübersehbar ist, betritt der Theaterbesucher sein Haus über eine Seitenstraße. Und, so Sascha Löschner:
"Ja, die Eingangshalle – Sie sehen es – ist gar nicht so prächtig-repräsentativ, wie man das von anderen Bauten kennt. Man hat dann aber doch nicht auf Säulen davor verzichten wollen, und versuche es immer positiv zu sagen, dass vielleicht auch die Berührungsängste und Schwellenängste nicht so stark sind, so dass sich durchaus auch Menschen eingeladen fühlen, für die diese repräsentativen Räume eher erstmal etwas Beängstigendes haben oder hätten."
Autorin: "Weil sie glauben, da müssten sie schreiten statt gehen?"
"Genau. Insofern also doch ein frühes bürgerliches, einladendes Haus."
Große Pläne in der Provinz anno 1915
Dass auch die Universitäts- und Garnisonsstadt Greifswald nicht kleckern, sondern klotzen wollte, zeigt sich an der Bestellung von 750 Sitzplätzen. Und das zu einer Zeit, da Greifswald nur rund 23.000 Einwohner zählte. Doch Gründungsintendant und Wagner-Liebhaber Emanuel Voß konnte der damaligen Bürgerschaft leicht einreden, dass auch eine kleine Stadt in Pommern dem großen deutschen Opernmeister Richard Wagner huldigen solle. Vor großem Publikum, versteht sich.
"Also er hat dann Sänger aus Berlin kommen lassen. Hat selber inszeniert. Hat auch selber gesungen. Also einer, der letztlich mit Unterbrechung fast 30 Jahre Intendant am Hause war."
Wenig bekannt: 1936 des Amtes enthoben, hatte Emanuel Voß seine Umwelt glauben lassen, er sei bestraft worden, weil er kein NSDAP-Mitglied gewesen sei. Doch in dem sehr gründlich recherchierten Buch "!Stadttheater Greifswald Theaterstadt?" räumt der Autor Thomas Wieck mit dieser Widerstandslegende des immerhin 1942 wiedereingesetzten Intendanten Voß auf.
Thomas Wieck: "In der Anfangszeit des Nationalsozialismus hat der neue Oberbürgermeister sich von ihm getrennt. Sehr einvernehmlich; man wollte eine Erneuerung. In den Diskussionen kommt es, glaube ich, oft ein bisschen zu kurz, dass gerade die Anfangs-Dreißigerjahre von einer unheimlichen Dynamisierung und auch ästhetischen Erneuerung geprägt waren, dieses zopfige 19. Jahrhundert endlich abzuschaffen.
Und Voß stand für dieses zopfige 19. Jahrhundert. Deswegen wurde er entlassen, wurde fürstlich abgefunden, und man hat es mit einem anderen Intendanten versucht, der aber eben erfolglos blieb. Dann hat man irgendwann ihn zurückgehholt. Und interessant ist, dass sich dadurch auch so ein Mythos des Nicht-wohl-gelitten-durch-die Nazis herauskristallisiert hat, den er selber befördert hat."
Autorin: "Der aber nicht zu halten ist?"
"Nee, also Thomas Wieck schreibt, es gibt kein einziges Dokument, das bestätigt, dass er irgendwie politisch in Konflikt geraten ist mit dem Nationalsozialismus."
Autorin: "Ist das heute herrschende Lehre, wenn man über die Geschichte des Theaters spricht oder auch über die Stadtgeschichte?"
"Nö, würde ich nicht sagen. Da streiten sich die Geister, und ich glaube, der Sprengstoff, der in dieser Diagnose steckt, ist noch gar nicht so richtig angekommen oder hat noch gar nicht so richtig gezündet."
Auch Prominenz inszeniert hier
Der Rundgang durch das Haus zeigt, warum seine geplante Sanierung dringend nötig ist. Technisch und logistisch ist vieles noch 30er-Jahre-Standard, auch wenn das Theater von 1987 bis 89 umgebaut worden war.
Übrigens: Nicht nur, weil die Theaterleute damals ersatzweise im ungeliebten Kreiskulturhaus auftreten mussten, habe das Theater Greifswald die damalige gesellschaftskritische Stimmung nicht aufgegriffen, sagt Sascha Löschner. Auch die Provinzlage sei kein Grund. Das wenige Kilometer entfernte Anklam etwa wurde damals durch Frank Castorfs Theatertruppe aufgemischt.
Löschner: "Unser nächster Oberspielleiter Reinhard Göber, der hat das miterlebt. Der hat dort inszeniert. Das muss nochmal anders und wild gewesen sein, weil sich da eine Truppe gefunden hat, die einen sehr kritischen Geist verkörpert hat und die mit der Energie, mit der die da hantiert haben, die Leute verblüfft haben. Also das kann man von Greifswald nicht sagen...
... ich wollte Ihnen die Hutmacherei mal zeigen. Das Schöne am Theater ist ja, dass es noch so viele alte Berufe beherbergt, Ausbildungsberufe, die am Aussterben sind. Also sowas wie Hutmacher, aber auch Schuster, Stellmacher, Sattlerei. Das sind eben ganz klassische Handwerksberufe, die am Theater noch gepflegt werden, weil man das alles von Hand gemacht braucht. – So, hier sind wir in der Modisterei bei den Hutmachern."
Autorin: "Wie viele Hutmacher haben Sie hier?"
"Wir haben nur noch einen. Nur noch eine Stelle fürs ganze Haus. Das Theater Vorpommern hat noch knapp 270 Stellen, das aber an drei Standorten verteilt."
Die Einheimischen sind sehr zufrieden
Wenig später können Sascha Löschner und Kollegen aufatmen. Das Greifswalder Publikum fühlt sich von der "Blues Brothers"-Inszenierung erkennbar gut unterhalten. Dass die nun überregional bedeutsam ist, bezweifeln beim Pausensekt zwar auch diese Einheimischen. Aber es gebe Künstler und Ensembles, für die auswärtige Theaterfreunde unbedingt einmal nach Greifswald oder Stralsund fahren sollten.
Mann 1: "Ralph Dörnen macht ein Tanztheater - nein, das ist der falsche Begriff. Er macht ein Ballett, das überregional von Bedeutung ist. Also ich kann jedem nur empfehlen, dafür nach Greifswald zu kommen."
Mann 2: "Für unseren Generalmusikdirektor und sein Orchester, weil der Mann wirklich ein toller Dirigent ist. Nur leider wegen der anstehenden Reform und der Zusammenstreichung des Theaters wird er jetzt gehen. Was sehr bedauerlich ist, denn der hat dem Theater Töne entlockt, die dieses Theater vorher nicht kannte."
Frau: "Also ich glaube, dass das Theater enorm wichtig ist. Wodurch wird denn eine Stadt interessant, auch wenn sich Leute überlegen, ob sie hier arbeiten an der Universität? Da brauchen wir solche Highlights, kulturelle Highlights. Wir brauchen Abende wie diese, wo sich Menschen treffen. Das ist absolut identitätsstiftend."
Die neue Spielzeit 2016/17 – noch als Theater Vorpommern – steht jedenfalls unter einem Motto, das auch nach Selbstermutigung klingt: "Macht Theater!" Geplant sind unter anderem Goethes "Faust-Fragment", Ibsens "Volksfeind", Moliéres "Eingebildeter Kranke", Wagners "Tannhäuser" und "Kruso" nach dem Hiddensee-Erfolgsroman von Lutz Seiler.