Die Recherche für die Reise nach Mexiko wurde unterstützt von Adveniat, dem Lateinamerika-Hilfswerk der Katholiken in Deutschland.
Mädchen an die Macht
"Yolia" ist ein engagiertes Projekt in Mexiko, in dem seit 1995 schon mehr als 400 Straßenkinder eine Chance für einen Neustart bekommen haben: Mädchen, die in ihrem jungen Leben schon viel riskiert und Schlimmes erlebt haben.
Claudia, Elisa, Bjeli und Isis toben an diesem sonnigen Montagnachmittag ausgelassen in dem grün-pink- und gelb-bemalten Hinterhof im Südwesten von Mexiko-Stadt herum. Dunkle Haare zum Pferdeschwanz gebunden, rote Hose, buntbedruckte T-Shirts, fröhliche Mädchen im Alter von acht bis zwölf Jahren. Eine ganz normale Kita - so könnte man meinen.
Doch im Bezirk Olivar del Conde ist dies das Armenviertel und die Avenida Hidalgo Nummer 19 ist die Adresse von "Yolia", einem Projekt für Mädchen von der Straße und aus problematischen Familien.
Eine Achtjährige floh allein Richtung USA
Auch die 15-jährige Alejandra aus El Salvador lebt hier. Sie flüchtete mit acht Jahren vor ihrer prügelnden Mutter Richtung USA. Bis zum Grenzfluss Rio Bravo schaffte sie es, als sie aufgegriffen wurde. Heute will Alejandra nicht mehr in die USA - wegen Präsident Donald Trump.
"Er ist ein Rassist, er diskriminiert, er hat etwas gegen dunkelhäutige Menschen und es wäre ihm am liebsten, er könnte alle, die in den USA arbeiten wollen, abschieben."
Und trotz allem: "Das Leben ist schön"
Ihre Mutter schlug Alejandra zuletzt mit den Absätzen ihrer hochhackigen Schuhe auf den Kopf, als die beschloss: nur weg hier, weg aus Chiapas im Südosten Mexikos, wohin es sie gemeinsam mit dem Stiefvater und dem Halbbruder verschlagen hatte. Das Mädchen trägt ein weißes T-Shirt mit Blumen auf dem in silberner Aufschrift steht: "La vida es bella" – Das Leben ist schön. Vermisst sie ihre Mutter, eine Mutter?
"Manchmal. Vor allem, wenn ich meine Freundinnen sehe, dann tut mir das weh. Aber ich sage mir, ich war ja immer allein, also werde ich es auch alleine schaffen."
Alejandra spielt am liebsten Fußball und lebt mit 21 weiteren Mädchen rund um die Uhr bei "Yolia". Mehr als 400 Straßenkinder haben hier schon eine Chance für ein neues Leben bekommen. "Yolia" ist ein kirchliches Projekt, wird auch unterstützt vom katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat.
Die besonderen Bedürfnisse der Mädchen
Mónica Rábago González hat "Yolia" vor 23 Jahren gegründet mitten in der Wirtschaftskrise der 90er Jahre, als plötzlich die Zahl der Straßenkinder zunahm. Von Anfang lag der Fokus auf den Mädchen.
"Es gibt Jungs und Mädchen, die in schwierigen Situationen leben. Aber die Mädchen haben spezielle Bedürfnisse: alle könnten theoretisch irgendwann einmal Mütter sein und leider ist ihre wirtschaftliche Situation nicht so, dass sie irgendwann einmal die Aussicht hätten, eine Familie zu ernähren."
Man müsse den Mädchen auch zeigen, dass es Alternativen zum Beruf der Straßenhändlerin gibt. Der sei für Frauen ohne Ausbildung hier üblich. Auf dem Wochenmarkt gleich nebenan arbeiten etliche Mütter, die ihre Mädchen tagsüber bei "Yolia" abgeben.
"Wir machen hier schöne Sachen"
Die elfjährige Claudia will Meeresbiologin werden und nach Veracruz, an die Ostküste Mexikos ziehen, wenn sie groß ist. Sie sitzt inmitten einer lauten Rasselbande an einem langen Holztisch, und stochert verlegen in ihrem Reis. Das Jüngste von vier Kindern ist immer erst nach der Schule und ab dem Mittagessen bei "Yolia" und wird abends abgeholt von ihrer Mutter, einer Lehrerin. Ihre Eltern sind getrennt, ihren Vater hat sie nur einmal gesehen und das ist lange her.
"Wir machen hier schöne Sachen: Wir werden von der Schule abgeholt, dann essen wir, dann gehen wir hoch und machen erst mal Hausaufgaben. Montags spielen wir Fußball, dienstags machen wir Gymnastikübungen und so haben wir verschiedene Freizeitgruppen."
Claudia fühlt sich mit ihren Freundinnen wohl, hat sich von ihrer Mutter gewünscht, hier zu sein. Bis zum Ende ihrer Schulzeit können die Mädchen bei "Yolia" bleiben. Claudia rennt die kleine Treppe an der Seite des froschgrünen Hauses hinauf, die in den "Salon de Tareas", den Hausaufgabenraum, im ersten Stock führt, mit Blick weit über die Dächer von Mexiko-Stadt.
Mitarbeiterin Abigail erklärt die Spiel- und Übungsutensilien, gestapelt und aufgehängt in dem kleinen Raum. Sie sind auch gedacht für die "Mobile Schule", mit der einige der knapp 40 Mitarbeiter von "Yolia" über die Straßen und Plätze von Mexiko-Stadt ziehen.
Nebenan sitzt das Maskottchen "Yul" auf dem Regal, eine kleine fröhliche Puppe mit einem bunten Kleid und dicken braunen Zöpfen, die mit rosa Bändern oben und unten zusammengebunden sind.
"Yolia" steht für das "Herz der Frau"
"Yul" ist die Abkürzung von "Yolia", einem Wort aus der indigenen "Nahuatl"-Sprache der Region, und bedeutet das "Herz der Frau". Indira Berroterán, Prokuristin und Erzieherin bei "Yolia", hat ein großes Herz. Das sieht man der energiegeladenen und stets fröhlichen Venezolanerin im pinkfarbenen T-Shirt an und das wissen all die vielen Mädchen hier, für die sie die Ersatzmutter und Seele des Betriebs ist.
Die Mädchen sollen ihren Wert als Frau erkennen
"Unser wichtigstes Ziel ist, dass die Mädchen lernen, dass sie als Frauen Wert haben. Wenn sie unsere Einrichtung verlassen, sollen sie in der Lage sein, in Würde zu leben. Sie sollen wissen, dass niemand das Recht hat, sie zu missbrauchen oder zu unterdrücken. Sie sollen wissen, was ihre Rechte sind und ihren Wert als Frau erkennen."
Unten im Hof spielen vier Mädchen ein Klatschspiel, sitzen sich gegenüber, hüpfen herum, schlagen sich auf die Schenkel und lachen. Wie hat die 15-jährige Alejandra aus El Salvador doch gesagt:
"‘Yolia" ist nicht wie eine Familie, aber wie eine Heimat".