Die tägliche Körperverletzung
Der Lärm von Motorrädern und Sportwagen ist ein Angriff auf die Gesundheit, schreibt die Schriftstellerin Pieke Biermann - und spannt etymologisch eine Brücke zum Kampf an der Waffe. Keine Hoffnungen setzt sie bei dieser Art der Körperverletzung in die Politik.
In Berlin ist man, einem Flaneur alter Schule zufolge, nicht "wo", sondern immer "wohin". Damals, 1929, war Berlin noch nicht mal "Autostadt". Paradox, aber wahr: Heute sind sogar Automobile zu Symbolen der Immobilität mutiert. Die heiligen Kühe der Bewegungsfreiheit, deren durchschnittlicher urbaner Radius ohnehin unter 10 Kilometern liegt, stehen dauernd im Stau und kommen im Schnitt auf kaum mehr als 30 Stundenkilometer.
Richtig grotesk wird die Sache bei den benzinschluckenden, giftspuckenden Highspeed-Geschossen mit den Dezibel-Topwerten, die sich karnickelartig zu vermehren scheinen: Ich rede von Motorrädern und Rennschlitten.
Die wollen gar nicht mehr "wohin", die wollen einfach "wo" sein – da, wo sie Leute beeindrucken können: Mit Lärm. Nein – ich rede nicht von Hupen. Ich rede von röhrenden Turbos und dröhnenden Boom-Boxen. Damit schleichen sie herum, wo immer Publikum winkt, und da bleiben sie stehen und drehen auf: bramm-wramm-wramm. Bevor sie mit kreischenden Reifen die 100 Meter bis zur Ampel durchstarten, wieder stehen und röhren und schließlich die 500 Meter bis zur anderen Ampel in der Gegenrichtung absolvieren.
Von Null auf Hundert in 3,4 Sekunden: wroooammm, und wieder runter mit keifenden Bremsen. Die schiere Gewalt, Sinnbild des rasenden Stillstands, weit über die 65 Dezibel hinaus, ab denen Lärm zum Angriff auf die Gesundheit wird. Ich weiß, wovon ich rede, ich wohne über drei Kneipen mit "Vorgartenbewirtschaftung".
"Sound mindestens 50 Prozent des Feelings"
"Bei Sportwägen macht der Sound mindestens mal 50 Prozent des Feelings aus", heißt es cool in Turbo-Foren. Es ist die tägliche Körperverletzung. Lärm ist aggressiv, und er macht aggressiv. Das ist kein Zufall: Lärm ist etymologisch verwandt mit Alarm. Alarm ist der Aufruf, zu den Waffen zu greifen und sich zu verteidigen. Abrupter Lärm versetzt das Hirn in Alarmzustand, lässt das Adrenalin sprudeln und das Herz schneller pumpen.
Lärm, mit dem man dauernd rechnen muss, ist Dauerstress, und der macht krank. Von der Politik ist keine Hilfe zu erwarten. Die deutsche Automobil-Lobby hat europaweit dafür gesorgt, dass es just die größten Brüllwürfel dezibelmäßig locker mit Kreissägen und startenden Fliegern aufnehmen dürfen, weit über meine mutmaßliche Lebenszeit hinaus.
Bleibt die Hoffnung auf Bewegung von unten: Radfahren. Radfahrer passen perfekt zu Berlin: Die wollen tatsächlich immer "wohin", möglichst schnell. Manche, vor allem weibliche, flanieren sogar noch – blöderweise auf dem Bürgersteig, vor Schaufenstern, zwischen Kinderwagen und Rollstühlen, schlendernden Touristen und Leuten mit schweren Einkaufstüten.
Und ganz unberlinisch uncool ist diese dschihadkompatible moralische Überheblichkeit, nicht bloß gegenüber Autofahrern. Radfahrer – diese, sich selbst zufolge, besseren Menschen – dürfen andere Leute im öffentlichen Raum durch aggressives Ignorieren der Verkehrsregeln in Daueralarm, also Dauerstress versetzen: Fußgänger. Manchmal fahren sie sie auch über den Haufen. Genauso rücksichtslos, wie sie von Autofahrern übergemangelt werden.
Lärm machen sie nebenbei auch, mit Gebrüll und Geklingel. Paris hat eine Hotline samt Ermittlungseinheit für Lärmangriffe. In Berlin fahren Polizisten nachts x-mal in dieselbe Kneipe, ohne einmal die Musikanlage abzuknipsen, und tagsüber nonchalant vorbei an Turboröhrern und -rasern. Man kann auch sagen: vorbei an möglichen Bußgeldern, die den halben Haushalt sanieren könnten.
Pieke Biermann, Jahrgang 1950, lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin in Berlin. Eben erschien eine Neuauflage ihres soziologischen Klassikers von 1980: "Wir sind Frauen wie andere auch. Prostituierte und ihre Kämpfe"