Im Rausch der Aufmerksamkeit
06:25 Minuten
Beständig rauschen neue Songs in die Streamingdienste, man spricht von "Wasserfall-Veröffentlichungen". Für Musikerinnen und Musiker stellt das oft einen Balanceakt zwischen Marketing und künstlerischer Integrität dar.
Gleich sechs Mini-Alben (EPs) hat der junge US-Pop-Musiker Lauv dieses Jahr veröffentlicht. Auf einen Schlag. Was Lauv aber als neue EPs verkauft, sind Songs, die bereits auf seinem Album zu hören sind. Er hat sie einfach neu sortiert. "~PARTY VIBES~" heißt eine EP. Eine andere "~I MISS YOU~".
Um zu verstehen, warum Lauv das macht, muss man wissen, wie Musik auf Streamingdiensten landet. Das ist von Dienst zu Dienst ein bisschen anders, aber "was man im Grunde eigentlich immer nur pitched, sind Tracks", sagt Marit Posch. Sie arbeitet für den internationalen Digitalvertrieb "Independent Distribution On Line" (IDOL).
Pitchen heißt: Songs vorschlagen für wichtige Playlists. Das geht bei Spotify digital über das Interface "Spotify For Artists". Anderswo arbeitet man noch mit Excel-Tabellen. Pro Veröffentlichung kann aber nur ein Song gepitched werden. Gilt natürlich auch für Lauv.
"Was aber sein kann, ist, dass in dem Fall der Künstler das Album veröffentlicht hat. Meinetwegen mit drei Vorab-Singles und die wurden jeweils gepitched, aber aus den jeweiligen EPs heraus wurden Tracks gepitched, die zum Albumrelease nicht gepitched wurden", so Posch.
Maximale Aufmerksamkeit
So generiert Lauv maximale Aufmerksamkeit. Es gilt der alte Promo-Spruch: Every Motion Is Promotion, jede Bewegung ist Werbung also. Lauv spielt mit den Anforderungen der Streaming-Ökonomie. Ähnlich wie US-Songschreiber Bill Callahan.
Für sein diesjähriges Album "Gold Record" hat er jede Woche vor dem Veröffentlichungstag eine Single rausgebracht. Aus ähnlichen Gründen wie Lauv? "Streaming ist nicht die aufregendste Art, Musik zu veröffentlichen. Indem ich einen Song pro Woche veröffentlicht habe, wollte ich dieses neue Format einfach ein bisschen aufregender machen", sagt er.
Wasserfall-Veröffentlichung. So nennt man diese Strategie: Wie ein Wasserfall rauschen beständig Songs in die Streamingdienste. Doch während Lauv kreativ umgeht mit den technischen Anforderungen, wirkt Callahan eher desillusioniert vom Zwang zur Single.
Marketing-Entscheidung vs. Kunst
Es scheint sich ein Kreis zu schließen zum Anfang der Pop-Geschichte, zu den Beatles, als die Single schon mal das Format der Wahl war, weil die Größe der Seven-Inch-Single einfach technisch begrenzt war. Das kann man kulturpessimistisch bewerten: Die Streamingdienste diktieren, wie Musik veröffentlicht wird. Oder pragmatisch sehen wie Marit Posch:
"Ich glaube, dass es sich einfach durch die technische Machbarkeit wandelt. Du kannst jetzt einfach heute einen Track ausliefern und morgen ist der auf den Plattformen. Diese ganze Format-Frage ist immer noch eine künstlerische Sicht des Künstlers, wie er was veröffentlichen will und wie viel, in welcher Form. Und aber auch eine Marketing-Entscheidung, das ist oft beides."
Klar ist aber: Kunst und Marketing zerren mehr denn je aneinander. Und besonders der durchkommerzialisierte Charts-Pop bedient die Anforderungen der Streamingdienste perfekt. "BE", das neue Album der südkoreanischen Boyband BTS, ist nur 28 Minuten lang. Eigentlich eine EP. Es zählt aber als Album, weil mehr als sechs Tracks drauf sind. So erscheint es ganz oben auf der Profilseite der Gruppe. Eine einfache visuelle Überlegung: Wenn die Veröffentlichung ganz oben angezeigt wird, wird sie häufiger abgespielt.
Künstlerische Integrität ein Balanceakt
Viele Künstler und Künstlerinnen sind aber auch genervt von solchen strategischen Format-Überlegungen. "Du musst ständig um Aufmerksamkeit kämpfen, auch musikalisch. Du musst immer wieder was Neues machen. Wenn Du ein Jahr nichts gemacht hast, bist Du eigentlich fast schon weg vom Fenster. Es ist schon auf jeden Fall, finde ich, härter geworden als Künstler."
Künstlerische Integrität in der Streaming-Ökonomie bewahren: 2020 mehr denn je ein Balanceakt für viele Künstlerinnen und Künstler. Einige Fans von Lauv waren ziemlich enttäuscht, als sie gemerkt haben: Auf den EPs sind gar keine neuen Songs, sondern nur Zweitverwertungen. Es wird Lauv, der hundertmillionenfach gestreamt wird, kaum stören.
Doch der Fall zeigt: Die Glaubwürdigkeit von Musikerinnen und Musikern leidet, wenn sie derart konfektioniert Musik veröffentlichen. Man hat den Eindruck: Veröffentlichungsstrategien sind heute tatsächlich immer weniger auf künstlerische Überlegungen zurückzuführen. Sondern vor allem ein Ausdruck der Machtlosigkeit gegenüber den Anforderungen der Streamingdienste.