Streamingdienste

Kein Totenglöckchen für die Magie großer Bilder

04:15 Minuten
Erste Sitzereihe eines leeren Kinosaalls
Der durch die Streamingdienste ausgelöste Strukturwandel hat harte Verteilungskämpfe ausgelöst: zwischen den einzelnen Diensten, aber auch zwischen Kino und Netflix und Co. © getty images / Toronto Star / Pawel Dwulit
Ein Standpunkt von Hartwig Tegeler · 02.03.2020
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Netflix und Co. haben einen kulturellen Wandel in Gang gesetzt und schießen in dichter Folge Serien und Filme in die Welt. Was bedeutet das für das Kino und für den Film? Hartwig Tegeler mit einem Zwischenstand.
"Wir befinden uns in der größten Revolution seit den Anfängen des Tonfilms. Das heutige Publikum und die Orte, an denen Filme gesehen werden, das alles verändert sich", sagte Martin Scorsese kürzlich, dessen Film "The Irishman" aus dem letzten Jahr eine Netflix-Produktion war.
Ist dieser Wandel nun gut? Oder fatal?
Während 2018 die Oscar-Trophäen für die Netflix-Produktion "Roma" noch für einen handfesten Skandal sorgten, stand nur ein Jahr später bei den Kritiken zum Scorsese-Film weniger die Streaming-Debatte als der Film im Mittelpunkt, der ja immerhin 2020 für 10 Oscars nominiert war, dann allerdings leer ausging. Der Kritiker des "New Yorker", Richard Brody, der "The Irishman" während eines Festivals auf der großen Leinwand im Kino sah, beschrieb sogar, was für ein wunderbarer Genuss es dann war, beim zweiten Schauen zu Hause als Stream auf dem Flachbildschirm den Film anhalten zu können, nachzudenken und dann weiter zu gucken.
Ist es ein Skandal, solch ein Epos in Häppchen anzuschauen? Oder eine unserer heutigen Zeit angemessene Rezeption von Filmkunst?

Der Europastart von Disney+ ist eine Zäsur

Dass Filmemacher wie Scorsese oder Noah Baumbach, dessen neuer Film "Marriage Story" im Kino war und jetzt auf Netflix zu sehen ist, "kleinere Bilder" machen, weil ein Streamingdienst produziert, das wird man kaum behaupten können.
Aber bedeutet das den immer wieder beschworenen "Tod des Kinos"?
Der Strukturwandel, den die Streamingdienste ausgelöst haben, ist ohne Frage voll im Gang. Klar ist auch, dass der Verteilungskampf um die Einnahmen immer härter geführt werden wird. Neben den bereits bestehenden Plattformen Netflix, Amazons "Prime Video", Maxdome, Sky oder Apple TV+ steht mit der nun auch in Europa startenden Branchenriesen-Plattform Disney+ eine Zäsur bevor.
Noch mehr Auswahl? Oder noch mehr Qual der Wahl?
Denn dem User, Verbraucher oder Filmliebhaber – wie immer wir unsere Spezies auch nennen wollen – droht, der Überblick verloren zu gehen.
Und dann die Kosten.
Kenner der Branche prognostizieren übrigens: Das illegale Downloaden, auf das ja die Streaming-Portale auch eine Antwort waren, wird wieder zunehmen.

Perlen der Filmkunst auf Netflix

In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" beantwortete der Münchner Arthouse-Kino-Betreiber Thomas Kuchenreuther die Frage nach dem angeblichen Tod des Kinos mit "nein". Bei Netflix- oder Amazon-Filmen wie "The Irishman" oder "The Report" wird gern über die Feigenblattfunktion des kurzen Kinostarts gespöttelt: "Kommt doch eh nur für drei, vier Tage ins Kino, um die formalen Voraussetzungen für das Oscar-Rennen zu haben".
Aber Kinobetreiber Kuchenreuther stellt klar, dass Netflix ihm ermögliche, "The Irishman" beispielsweise ein halbes Jahr lang zu spielen. Die besonderen Filme, inzwischen auch produziert von Streamingdiensten, sind eine Chance fürs Kino, für den besonderen Film, für Erzählungen, die aus dem Einerlei des immer wieder recycelten Superhelden herausragen, meint der Münchner Kino-Mann.

Manche Filmperle wäre untergegangen

Und er hat Recht. Beim intensiven Stöbern auf den Portalen findet man Perlen der Filmkunst. Beispiel: "Atlantique". Mati Diops Film aus dem Senegal, der 2019 bei den Filmfestspielen in Cannes um die Goldene Palme konkurrierte, ist bei Netflix zu sehen. Kein anderer Filmverleih hätte sich dafür interessiert. Und Martin Scorseses Filmepos "The Irishman" wäre nie gedreht worden, hätte Netflix dieses Meisterwerk nicht produziert.
Man muss allerdings kein Prophet sein, um zu prognostizieren, dass die Sehgewohnheiten zwischen großer Leinwand und Flachbildschirm weiter im radikalen Wandel begriffen sind. Die gute Nachricht lautet aber auch: Die Magie der Bildergeschichten ist damit keineswegs aufgebraucht.

Hartwig Tegeler, geboren 1956, ist Filmkritiker, Journalist und Regisseur. Seit 1990 arbeitet er für verschiedene ARD-Sender als Autor und Regisseur für Feature und Hörspiele.

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