Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Beatrix Ackers
Technik: Martin Eichberg
Sprecherin: Eva Meckbach
Sprecher: Max Urlacher
Streben nach gutem Schlaf
Die Hälfte der Bevölkerung bleibt unter der empfohlenen Schlafmenge von sieben bis neun Stunden. © Unsplash / Stephanie Montelongo
„Süß, ohne Tod so tot zu sein“
30:38 Minuten
Wer gut und ausreichend schläft, ist leistungsfähiger. Deswegen ist unsere Nachtruhe längst zum Geschäft geworden: Schlafmittel, -Bücher und -Apps bewegen Milliarden. Aber: Sind wir wirklich schlafloser als früher - und, wenn ja, warum?
Schlaflosigkeit, Schlafstörungen, Insomnie. Gibt man eines dieser Wörter in die Suchmaschine ein, spuckt das Internet eine Fülle von Werbeanzeigen aus: für CBD-Schlaftropfen oder Melatonin, vernetzte Matratzen oder Bio-Schlafunterlagen, Schlaftracking-Armbänder oder Entspannungsapps.
Das Angebot an Schlafhilfen ist vielfältig, zum Teil exotisch und schier unerschöpflich. Die Heilsversprechen für die Schlaflosen und Schlafgestörten sind groß, und immer mehr Betroffene sind bereit, viel Geld auszugeben, um ihr Schlafproblem in den Griff zu kriegen. Auf etwa 40 Milliarden Euro pro Jahr wird der Umsatz der weltweiten Schlafindustrie geschätzt. Wer nicht gut schläft, für den ist der Leidensdruck riesig.
Anna Müller – das ist nicht ihr richtiger Name – hatte jahrelang mit Schlafstörungen zu kämpfen. „Ich erinnere mich, dass ich schon nach dem Abitur ein Buch über Schlafen und Schlafprobleme gelesen hatte“, erzählt sie. „Von daher würde ich sagen, dass mich das ein Stück weit mein Leben lang begleitet hat, dass ich nicht so gut geschlafen habe, insbesondere, wenn ich gestresst war.“
Sie war in der Consulting-Branche tätig, heute ist sie in Rente. Die Zunahme der Schlafprobleme seien „ein schleichender Prozess“ gewesen, sagt sie. „Zum einen habe ich mir eine neue Matratze gekauft, und irgendwie ging das Schlafen dann gar nicht mehr, weil ich dann auch angefangen habe zu rätseln, wie ich eigentlich schlafen soll: auf dem Bauch, auf dem Rücken, auf der Seite?“
Eine Gesellschaft der Schlaflosen
Dann habe sie einem Arzt beiläufig erzählt, dass sie nur fünfeinhalb Stunden im Schnitt schlafe. „Und er dann meinte, das wäre ein Riesenproblem, für die Gesundheit ganz schlecht. Er verschrieb ihr Antidepressiva. „Das waren Punkte, die das verschlimmert haben und dann dazu geführt haben, dass ich eine echte Durchschlafstörung gekriegt hab.“ Mit ihren Schlafproblemen ist Anna Müller nicht allein: Laut einer Studie einer großen deutschen Krankenkasse kommt in Deutschland jeder zweite Erwachsene auf höchstens sechs Stunden Schlaf pro Nacht. Ein Viertel der Menschen schläft sogar nur fünf Stunden oder noch weniger.
Das heißt, die Hälfte der Bevölkerung bleibt unter der empfohlenen Schlafmenge von sieben bis neun Stunden. Sind wir eine Gesellschaft der Schlaflosen?
„Es ist einfach so, dass die Probleme mit dem Schlaf in unserer 24-Stunden-Nonsto-Gesellschaft deutlich zugenommen haben“, sagt der Schlafforscher Hans-Günter Weeß. „Die Stressbelastungen, die Arbeitsverdichtungen haben zugenommen. Das raubt den Menschen den Schlaf, und die Menschen suchen verzweifelt nach Hilfe.“ Weeß ist Autor mehrerer Bücher zum Thema. Ihm zufolge leiden sechs bis zehn Prozent der Bevölkerung an einer Schlafstörung, die behandlungsbedürftig ist. Ein weiteres Drittel seien „fragile Schläfer“, die mal besser, mal schlechter schliefen.
Kommerzielle Angebote statt medizinischer Hilfe
Aber Hilfe zu finden, meint Weeß, sei in Deutschland nicht leicht. „Wenn Sie mit Schlafstörungen zu Ihrem Arzt gehen, dann zuckt er häufig mit den Schultern und sagt, naja, wir schlafen doch alle schlecht.“ Schlafstörungen würden also bagatellisiert. „Und es ist ein Stück weit ein Armutszeugnis für unser Gesundheitssystem, dass es eben nicht die entsprechende Hilfe anbieten kann und die Menschen eigentlich dorthin treibt, wo es kommerzialisiert wird. Sie versuchen dann, die unterschiedlichsten Angebote, die es gibt, eben selbst auszuprobieren.“
„Im Grunde ist diese Frustration: Man wacht auf und dann denkt man, was, es ist schon wieder zwei Uhr, wie kann das sein“, beschreibt Anna Müller ihre Erfahrungen. „Vor allen Dingen, wenn das über Wochen geht, dann fühlt man sich enorm hilflos und auch so ein bisschen ärgerlich und denkt, es darf doch nicht wahr sein, und dann passiert es aber jede Nacht.“
Schlaf ist die beste Medizin
Frust, Stress, Hilflosigkeit und Ärger empfand Anna Müller in ihren schlaflosen Nächten. Chronische Schlafstörungen können aber auch noch schwerwiegendere Folgen haben. Sie können krankmachen. Etwa steigt das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson, Demenz oder Alzheimer. Das sagt Ingo Fietze, Schlafmediziner an der Berliner Charité und Verfasser des Buches „Die übermüdete Gesellschaft“.
„Wir schlafen, weil der Kopf den Schlaf braucht, für das Gedächtnis und für die sogenannte Entgiftung in der Nacht“, erläutert er. „Der Kopf ist ja hochaktiv. Da werden eine Menge Stoffwechsel-Abbauprodukte angeschwemmt. Die müssen irgendwie weg.“ Das geschehe nur während des Nachtschlafs. „Und wenn das nicht passiert, dann ist man gefährdet, Alzheimer oder Demenz zu bekommen.“
Bei jahrelangem schlechtem oder nicht ausreichendem Schlaf steigt auch die Gefahr, an Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes oder Krebs zu erkranken. Und: Regelmäßige schlaflose oder zu kurze Nächte erhöhen etwa das Risiko, sich eine Erkältung einzufangen.
Kein Wunder, dass der Volksmund sagt: Schlaf ist die beste Medizin. Man könnte hinzufügen: Ausgeschlafenheit schützt vor Unfällen.
„Es sterben auf den deutschen Straßen mindestens doppelt so viele Menschen infolge von Übermüdung, Sekundenschlaf am Steuer als infolge von Alkohol am Steuer. Und wenn sie sich einmal überlegen, was wir als Gesellschaft unternehmen, um jetzt Alkohol am Steuer zu verhindern, und was wir unternehmen, um eben Schläfrigkeit und Sekundenschlaf zu verhindern, dann hätten wir da noch ein ganz großes Potenzial. Aber wir wissen auch von Studien, dass das Risiko für Haushaltsunfälle gerade bei Ein- und Durchschlafstörungen ungefähr um zehn Prozent zunimmt.“
Müsste die Gesellschaft also aktiver gegen das Gesundheitsrisiko Schlaflosigkeit angehen? Müsste es vielleicht sogar staatliche Präventionskampagnen geben – ähnlich wie gegen Alkohol- und Drogenmissbrauch? Plakate im öffentlichen Raum, die vor „Schlafkillern“ warnen – also all dem, was Menschen den Schlaf raubt?
Den Schlaf vermessen
„Viele haben das Handy, Smartphones, Tablets auf dem Nachttisch, um reagieren zu können. Die sind ständig online, ständig im Bereitschaftsmodus, sind vernetzt mit Geschäftspartnern, mit Kunden in Übersee. Wir stehen nachts auf, um Konferenzen durchzuführen. Die Schichtarbeit nimmt immer mehr zu. In Deutschland ist es so, dass jeder Fünfte in Schicht- oder Nachtdiensten arbeitet. Das ist ein Leben wider die menschliche Natur, das wir auch ein Stück weit mit höheren Gesundheitsrisiken beispielsweise bezahlen.“
Dass ausreichender und ungestörter Schlaf eine Quelle von Gesundheit und Wohlbefinden ist, diese Einsicht scheint sich jedoch bei immer mehr Menschen durchzusetzen. Zwar hat, wer im Schichtdienst arbeitet, nicht unbedingt die Möglichkeit, darauf zu verzichten. Aber immer öfter hört man, dass Smartphone oder Computer aus dem Schlafzimmer verbannt werden. Und manche Experten empfehlen dringend einen späteren Unterrichtsbeginn. Die Begründung: Die Schülerinnen und Schüler wären durch eine Stunde mehr Schlaf viel leistungsfähiger und ausgeglichener. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen Topmanager damit prahlten, mit nur vier Stunden Schlaf auszukommen.
„Ich habe den Eindruck, dass sich da ganz leicht in den letzten Jahren etwas verändern könnte. Man kann es daran festmachen, dass manche Industriebosse jetzt nicht mehr diesem Dogma nachhängen: Morgenstund‘ hat Gold im Mund. Und: Wer wenig schläft, der ist fleißig. Es gibt einzelne jetzt, die auch darauf verweisen, wie viel Schlaf sie letztendlich benötigen. Vielleicht haben die neuen Medien, die Technik das auch möglich gemacht. Man kann ja jetzt scheinbar den Schlaf selbst vermessen. Es gibt ja viele Sleep-Gadgets, es gibt Apps. Ich sehe die sehr kritisch, weil das eigentlich Steinzeitmethoden der Schlafforschung sind und die manchmal auch gefährlich sein können mit ihren falschen Ergebnissen. Aber einen Vorteil haben sie auf jeden Fall: Sie stärken das Bewusstsein für einen tiefen und festen Schlaf, für ausreichend Schlaf.“
Zeitalter der Industrialisierung brachte Wende
„Ich lade dich mit Sehnsucht ein, geliebter Schlaf! Komm, über mich zu schweben. Süß ist es, so zu leben ohne Leben. Süß, ohne Tod so tot zu sein“, so schwärmte schon der 1761 geborene Lyriker Friedrich Haug vom Tiefschlaf. Seine sehnsüchtige Einladung an den „kleinen Bruder des Todes“, wie der Schlaf einst genannt wurde, lässt vermuten, dass der Dichter vielleicht an Einschlafstörungen litt.
Allerdings lebte Haug in einer Zeit, in der Schlaf höchstwahrscheinlich flexibler gehandhabt wurde als heute. Denn die Vorstellung vom achtstündigen Nachtschlaf als dem „richtigen“ Schlaf setzte sich erst später durch, im Zeitalter der Industrialisierung.
Vor der Erfindung des elektrischen Lichts am Ende des 19. Jahrhunderts konnte durchaus in zwei Phasen geschlafen werden, wie die Historikerin Hannah Ahlheim erläutert: „Wenn man sich bestimmte historische Quellen anguckt, beispielsweise Tagebücher, Literatur, dann wird immer berichtet von einem ersten und einem zweiten Schlaf“, sagt sie. „Man ist also erstmal ins Bett gegangen, und dann ist man nachts aufgewacht. Dann gab es eine Phase von Wachsein, in der man sich zum Beispiel über Träume unterhalten hat, vielleicht sogar Nachbarn besucht hat, mitten in der Nacht.“ Dann habe man seinen zweiten Schlaf geschlafen. „Diese Rede vom ersten und vom zweiten Schlaf, die findet man in sehr vielen Quellen.“
Als in der industrialisierten Arbeitswelt dann der durchgehende Acht-Stunden-Schlaf die erstrebenswerte Norm wurde, wuchs auch das Bewusstsein für Abweichungen von der Norm, also für Schlafstörungen. Vor gut hundert Jahren gab es auf dem Buchmarkt etliche Schlafratgeber – genauso wie heute.
„Erstaunlicherweise ist die ganze Aufregung um Schlaf vor hundert Jahren schon ganz, ganz ähnlich. Dass es Beschleunigung gibt im Alltag. Damals ist es beispielsweise die Eisenbahn, die sich durchsetzt. Man kann plötzlich größere Strecken schneller überwinden. Dadurch muss man zum Beispiel Zeit neu takten. Es stehen jetzt auch überall in der Öffentlichkeit Uhren, das ist auch neu. Dieses Gefühl von ‚die ganze Welt ist schneller als ich und ich komme nicht mehr hinterher‘, ist das, was tatsächlich damals schon so formuliert und auch gefühlt wird. Gleichzeitig gibt es auch Sachen, die ganz anders sind, weil diese Leute um 1900, die diese Schlafratgeber lesen, das ist eine kleinere Gruppe, als es vermutlich heute ist.“
Es war eine privilegierte Gruppe von Gutbetuchten, die es sich leisten konnte, über eine bequemere Matratze oder eine bessere Belüftung und Verdunklung ihres Schlafzimmers nachzudenken. Des eigenen Schlafzimmers! Hingegen teilten sich die vielen Armen in den Großstädten Anfang des 20. Jahrhunderts meist nicht nur Schlafräume, sondern auch Betten. Bedürftige Familien vermieteten sogenannte Schlafstellen, oft an junge Arbeiter oder Arbeiterinnen vom Land, die sich mit einem Plätzchen im geteilten Schlafraum begnügten.
Unternehmen reagierten darauf mit der Einrichtung von Schlafhäusern für die Arbeiter, um deren Hygiene und Moral sicherzustellen. Hannah Ahlheim schreibt darüber in ihrem Buch „Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert“. Sie Idee sei dabei gewesen, „dass die Arbeiter bitte in ordentlichen Betten schlafen sollen und dann auch pünktlich zur Arbeit kommen. Die Grundidee war aber vor allem auch, dass es eben hygienisch saubere Betten sind: Dass sie sich nicht die Betten teilen mit anderen Leuten und sich dann Krankheiten einfangen, sondern dass sie wirklich in einem sauberen Bett schlafen, dass sie nicht zu viel trinken vor allem, aber auch nicht zu viel Damenbesuch haben.“ Es sei in den Schlafhäusern also um eine „Gesamtkontrolle des Alltags“ gegangen. „Die dürfen sich tagsüber nicht hinlegen, sondern dürfen nur schlafen, wenn sie auch wirklich gerade Schlafschicht haben.“
Die Idee, wie man „richtig“ schläft, habe sich dann aber während des 20. Jahrhunderts entscheidend geändert, sagt Schlaf-Historikerin Ahlheim. „Die Idee von einem Schlaf, der für alle gilt, die hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts aufgelöst. Inzwischen sagt die Schlafforschung eigentlich, du musst so schlafen, wie es für dich richtig ist.“ Es gebe individuelle Schlaftypen, Schlafvorlieben, vielleicht auch biologische Schlafanlagen. „Und man muss sich eben ganz individuell orientieren und den richtigen Schlaf für sich finden.“
Traum- und Schlafforschung
„Ich hab im Traum geweinet, Mir träumte, du lägest im Grab.
Ich wachte auf, und die Träne floß noch von der Wange herab.
Ich hab im Traum geweinet, Mir träumt', du verließest mich.
Ich wachte auf, und ich weinte noch lange bitterlich.“
Ich wachte auf, und die Träne floß noch von der Wange herab.
Ich hab im Traum geweinet, Mir träumt', du verließest mich.
Ich wachte auf, und ich weinte noch lange bitterlich.“
Wie der Schlaf war auch der Traum im Laufe der Jahrhunderte ein immer wiederkehrendes Motiv in der Literatur – hier in einem Gedicht von Heinrich Heine. Die Traumwelt mit ihren Erinnerungen, Schreckgespenstern und geheimen Sehnsüchten faszinierte Schriftsteller und Lyriker – und später den Psychoanalytiker und Traumdeuter Sigmund Freud.
Doch wissenschaftlich erforscht werden Traum und Schlaf erst im 20. Jahrhundert. Die Entdeckung des sogenannten REM-Schlafes Anfang der 50er-Jahre in einem Schlaflabor in Chicago markiert dabei einen entscheidenden Einschnitt. REM steht für Rapid Eye Movement.
Zwei Schlafforscher identifizierten damals die REM-Phasen, in denen sich die Augen unter den Lidern schnell bewegen, als Phasen, in denen Schlafende am meisten und intensivsten träumen. Wer aus dem REM-Schlaf geweckt wird, kann sich besonders gut an seine Träume erinnern.
Boom der Schlaf- und Beruhigungspillen
„Wir haben jetzt eine Möglichkeit, Träume aufs Papier zu bringen und betreut Leute zu wecken, wenn sie träumen, und nach ihren Träumen zu fragen. Das gibt in der Laborforschung dann einen riesigen Sprung und ist gleichzeitig verknüpft mit der Pharmaforschung. Der Schlaf vollzieht sich immer nach einer ganz bestimmten Abfolge. Es gibt Tiefschlaf-Phasen, Halbschlaf-Phasen, Traumschlaf-Phasen – und die Pharmaforschung guckt jetzt, welche unserer Schlafmittel können denn das so natürlich wie möglich sichern.“
In den 1950er- und 60er-Jahren brachten Pharma-Unternehmen in den USA und Europa jede Menge neue Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt. Und sie waren sehr erfolgreich: In dem Buch „The Sleeping Pill“ wurde 1978 geschätzt, dass ein Zehntel der erwachsenen US-Amerikaner Schlaftabletten konsumiere.
Mit dem Boom der Pillen kamen aber auch die Diskussionen über Risiken und Nebenwirkungen, vor allem über die Gefahr der Abhängigkeit. In der Bundesrepublik Deutschland trug der Contergan-Skandal erheblich dazu bei, das Misstrauen gegenüber Schlaftabletten zu steigern. Contergan war 1957 als rezeptfreies Schlafmittel auf den Markt gekommen, entwickelte sich zu einem Verkaufsschlager und endete in einer Katastrophe: 5000 bis 10.000Kinder kamen mit Missbildungen auf die Welt, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft Contergan eingenommen hatten.
Heutzutage sehen viele Menschen, auch wenn sie von starken Schlafstörungen betroffen sind, die Einnahme von Tabletten skeptisch. „Wenn ich meine Tablette nehme und damit sechs, sieben, acht Stunden schlafe, dann bin ich gesünder drauf, als wenn ich weniger als sechs Stunden schlafe“, hält der Schlafmediziner Ingo Fietze von der Berliner Charité dagegen. Wem schlechter Schlaf gefalle, der könne ihn sich gerne gönnen. „Kann ja jeder sein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Aber beim Schlaf ist das Problem, man hat ja auch schlechte Laune. Jede Nacht mit schlechtem Schlaf, da ist auch der nächste Tag gegessen. Nun erklären Sie mir mal, warum sie zehn oder 20, 30 Jahre ihres kurzen Lebens mit schlechter Laune durch die Gegend laufen wollen, nur, weil sie irgendwie ein Vorurteil gegenüber der Schlaftablette haben. Und leider Gottes gibt es eine Menge Leute, die sich quälen mit ihrem Schlaf, und die dieses Vorurteil der Schlaftablette daran hindert, überhaupt zum Arzt zu gehen.“
Guter Schlaf ist en vogue
„Meine beiden Eltern haben oft Schlaftabletten genommen, und das hat mich ein bisschen traumatisiert in Bezug auf dieses Thema, weil es bei ihnen im Übermaß war“, sagt Christoph, ein Musiker aus Berlin, der keine Pillen nehmen will, obwohl er die schlechte Stimmung nach einer schlaflosen Nacht nur zu gut kennt. „Ich habe einfach extrem schlecht funktioniert. Es war ein körperliches Gefühl, wie ein kleines bisschen krank sein.“
Christoph interessiert sich für alternative Methoden, um seinen Schlaf zu verbessern. Er nimmt an einem Workshop teil, bei dem die Entspannungstechnik des Sounder Sleep Systems vermittelt wird. Es geht um bewusstes Atmen, kombiniert mit minimalen Bewegungen des Körpers.
Geleitet wird das Schlaf-Seminar von der Berliner Feldenkrais-Lehrerin Cornelia Michalek. „In erster Linie leite ich die Personen durch die verschiedensten Übungen des Sounder Sleep Systems“, sagt sie. „Außerdem sprechen wir in kleinen Diskussionsrunden über sogenannte Schlafhygiene. Das heißt, was kann ich eigentlich an meiner Lebensweise entsprechend einstellen und umstellen, damit ich meinen Schlaf fördere. Interessanterweise sagen die Teilnehmer oft, dass sie für ihre Kinder, wenn sie welche haben, Einschlafrituale erfunden haben, diese aber für sich selber zum Beispiel nicht in Anspruch nehmen.“
Anna Müller hat einen von Cornelia Michaleks Workshops besucht. Sie hat sich nach jahrelangen Schlafstörungen ihr eigenes Abend-Ritual geschaffen. „Dass ich eineinhalb Stunden, bevor ich ins Bett gehe, nicht am PC irgendetwas mach und nicht auf mein Handy schaue und auch nicht telefoniere: dieses ‚Zur Ruhe kommen‘. Und was sich bei mir bewährt hat, ist, Gymnastik zu machen, eine ganz entspannende Gymnastik und auch zu lesen. Irgendwann werde ich dann müde und im Idealfall schlaf ich sofort.“
Guter Schlaf ist en vogue. Ein möglichst perfekter Schlaf gilt als erstrebenswert, bedeutet Wellness und Fitness. Immer mehr Menschen beschäftigen sich mit ihrem Schlaf, analysieren oder vermessen ihn gar. „Genau das halte ich aber auch für einen Teil des Problems von Schlafstörungen“, sagt Cornelia Michalek. „Denn Schlaf ist eigentlich etwas, was sich von alleine einstellt. Auch die Dauer stellt sich von alleine ein, und sowie Schlaf angefangen wird zu kritisieren oder zu sehr fokussiert wird, ist es etwas, das vermieden werden sollte und wo Schlaf auf einmal zu sehr in den Vordergrund geschoben wird und zu viel Aufmerksamkeit bekommt.“
Besser schlafen, leistungsfähiger sein
„In diesem Video erfährst Du, warum Schlaf so wichtig ist, wie du mit der richtigen Schlafroutine tagsüber deutlich leistungsfähiger bist, und welche zehn einfachen Tipps Du anwenden musst, um besser einschlafen zu können, um die Qualität deines Schlafs zu verbessern!“, heißt es in einem Youtube-Video. „Besser schlafen für mehr Leistung!“, ist es betitelt. Im Netz wimmelt es von Ratgebern und Angeboten, die den Zusammenhang zwischen Schlaf und Leistungsfähigkeit betonen. Gut schlafen, um gut zu arbeiten, das scheint immer mehr Menschen zu interessieren.
„Ich bin von Beruf her Ökonom. Normalerweise befasse ich mich mit volkswirtschaftlichen Fragestellungen, die nicht wirklich direkt etwas mit dem Schlaf zu tun haben“, sagt Marco Hafner. „Aber als ich Vater geworden bin, und mein erstes Kind nicht wirklich gut geschlafen hatte, da habe ich gemerkt, dass meine Produktivität geringer wurde.“ Der Schweizer arbeitet für die Denkfabrik Rand Europe.
Die persönliche Erfahrung, eine Zeitlang wegen Schlafmangels deutlich weniger produktiv gewesen zu sein, brachte ihn auf die Idee, eine großangelegte internationale Studie durchzuführen: über die volkswirtschaftlichen Folgen der Unausgeschlafenheit. „Wir haben uns angeschaut, wie Schlafmangel zusammenhängt mit der Produktivität von Arbeitnehmern. Zum Beispiel, wie viele Arbeitstage Arbeitnehmer verpassen, weil sie krank sind. Aber was viel größer ist, wenn sie nicht genügend schlafen, dann sind sie einfach nicht produktiv. Wenn man am Arbeitsplatz ist, hat man eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass man dann nicht wirklich fokussiert und konzentriert, und vielleicht dann halt eben im Internet surft oder auf sozialen Medien sich vergnügt, statt zu arbeiten.“ Es gebe viele Studien, die genau zeigen, dass Leute, die an Schlafmangel leiden, wirklich viele andere Dinge machen am Arbeitsplatz, aber sich nicht auf die Arbeit fokussieren.
Volkswirtschaftliche Kosten von Schlafmangel
Aber wie lässt sich zweifelsfrei belegen, dass eine mangelhafte Performance im Job an schlechtem oder zu wenig Schlaf liegt? Bei der von Marco Hafner initiierten Studie wurden unter anderem Beschäftigte von Callcentern über einen längeren Zeitraum mit Schlafmessgeräten ausgestattet. Zugleich wurde ausgewertet, wie effizient und erfolgreich sie bei ihrer Arbeit waren. Die Ergebnisse der RAND-Studie von 2016 sorgten international für Aufsehen.
„Wir finden in unserer Studie, dass für fünf Länder der OECD die volkswirtschaftlichen Kosten von Schlafmangel ungefähr zwischen 50 Milliarden US-Dollar bis zu 400 Milliarden US-Dollar kosten. Das hängt natürlich von der Größe des Landes ab und der Volkswirtschaft. Speziell für Deutschland finden wir, dass es ungefähr 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht.“
Zahlen, die aufrütteln – insbesondere in der Unternehmenswelt. Immer mehr Firmen interessieren sich für den Schlaf ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. In der Arbeitsmedizin und im betrieblichen Gesundheitsmanagement hat das Thema Schlaf in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Die Zahl der Dienstleister, die Informations- und Präventionskampagnen organisieren, nimmt zu.
„Wir haben angefangen, Unternehmen, Behörden, Start-ups, aber eben auch Fußball-Bundesliga-Vereine zu dem Thema zu beraten. Das Interesse wird immer größer, das ist spürbar, die Anfragen werden häufiger“, sagt Utz Walter, der 2013 seine Firma Institut für betriebliche Gesundheitsberatung mit Schwerpunkt Schlaf gründete. Die Unternehmen würden investieren. „Manche haben Interesse, das Thema Mittagsschlaf voranzutreiben, manche haben Interesse, das Schichtsystem zu optimieren und anzupassen.“ Manche würden eine Chronotyp-Bestimmungen etablieren wollen. „Um zu wissen, wie viele Lerchen und wie viele Eulen habe ich denn in meinem Unternehmen?“ Lerchen – so werden Frühaufsteher genannt, die morgens gleich fit und leistungsfähig sind. Eulen, das sind jene, die schwer aus dem Bett kommen, aber abends zur Höchstform auflaufen.
Es gebe viele Handlungsfelder, so Walter. Dazu gehöre natürlich auch Optimierung des Nachtschlafs der Beschäftigten, indem man ihnen Unterstützungsangebote mache: Webinare, Workshops, Einzelberatungen. „Da sind viele Dinge entstanden. Wir befragen die Beschäftigten, wie schlaft ihr? Wie sieht es aus mit dem Durchschlafen, mit dem Aufstehen und so weiter? Aus diesen Daten heraus können wir dann sehen: Wer hat ein auffälliges Schlafverhalten, ein unauffälliges Schlafverhalten, und letztlich sogar ausgeprägte Schlafstörungen?“ Um das einzuordnen, gebe es eine Datenbank aus vielen Mitarbeiterbefragungen, um Vergleiche anstellen zu können. „Dann können wir entsprechend reagieren und das mit dem Unternehmen besprechen und Handlungsmaßnahmen ableiten.“
Selbstverantwortete Form der Kontrolle
Dass Unternehmen ausgeschlafene Mitarbeiter wünschen und sie daher dabei unterstützen, ihre Schlafgewohnheiten zu verbessern, erscheint auf den ersten Blick als Win-win-Situation. Die Schlaf-Historikerin Hannah Ahlheim sieht dahinter aber auch eine Kontroll-Idee – und schlägt einen Bogen zu den Schlafhäusern, die Unternehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einrichteten, um die Schlafgewohnheiten ihrer Arbeiter zu kontrollieren und zu beeinflussen. „Wenn ich es mir recht überlege, kann man wahrscheinlich diese Kontrollfantasie übertragen in die heutige Zeit“, sagt sie. „Gerade diese Apps, die uns 24 Stunden am Tag vermisst und überwacht und dann sagt, wann wir schlafen sollen und ob wir gut schlafen oder nicht, und die wir ja auch nicht nutzen, um zu sagen, ich bin jetzt gerade ganz fit, ich mache jetzt meine Fahrradtour oder gehe jetzt feiern mit Freunden, sondern wir nutzen das ja, um rauszufinden, wann wir fit sind, damit wir arbeiten gehen können.“
Das Kontrollsystem habe sich aber verselbständigt und individualisiert, sagt Ahlheim. Schließlich benutzten Menschen freiwillig Schlafüberwachungsapps oder Tracking-Armbänder, um ihren Schlaf zu kontrollieren.
„Wir nehmen das jetzt selber mit in unseren Alltag, mit in unsere eigenen vier Wände, und nutzen das, damit es uns bessergeht, aber eben auch, damit wir den Ansprüchen genügen können, die an uns gestellt werden.“ Dabei werde einem das Gefühl vermittelt, man entscheide selbst darüber. „Das ist sozusagen die selbstverantwortete Form der Kontrolle. Es ist nicht mehr der Arbeitgeber oder der Aufseher im Schlafhaus, der sagt, jetzt gefälligst Licht aus und kein Damenbesuch. Und vielleicht ist das auch was, was neu ist, und was eben diese Angst vor dem Verlust des Schlafs oder die Unsicherheit im Umgang damit jetzt nochmal ganz anders macht als vor 100 Jahren.“
Das Streben nach dem guten Schlaf – es existiert seit Jahrhunderten und steht insbesondere im 20. Jahrhundert in direktem Zusammenhang mit dem Streben nach Gesundheit und Produktivität.
Doch was ist mit dem Schlafen um des Schlafens willen? Die Historikerin Hannah Ahlheim wünscht sich einen genussvolleren Blick auf den Schlaf.
„Mein Eindruck ist, dass diese reine Freude am Schlafen und am Träumen und am Entdecken von diesen anderen Welten, in die man ja auch eintreten kann im Schlaf – warum diese Freude so wenig eine Rolle spielt, warum es immer darum geht, was nicht funktioniert, was besser gemacht werden könnte. Ich habe das Gefühl, dass wir relativ selten auch wirklich zugeben können, dass wir gerne schlafen, wie schön das war und was wir geträumt haben, dass das einfach Dinge sind, über die wir wenig sprechen und auch wenig forschen.“