Politische Kunst auf Häuserwänden
22:57 Minuten
Kunst muss allen gehören: Das forderten Street-Art-Künstler in Lateinamerika schon in den 1930er-Jahren. Diese "Muralisten" erleben gerade ein Comeback. Ihre Kunst regt zu politischen Diskussionen auf der Straße an, so wie im argentinischen Rosario.
Jorge Molina begegnet man in seiner Heimatstadt auf Schritt und Tritt. Überall zieren seine Wandbilder die Fassaden der Stadt: typische Charaktere mit mysteriösem Ausdruck, Zirkuskleidung und bunten Haaren. Im Hintergrund Häuser, die durcheinanderpurzeln, sich drehen und verformen. Naiv, surreal, psychedelisch.
Wandbilder – fantasievoll, verrückt, inspirierend
Wenn der Künstler nicht gerade einen der vielen internationalen Aufträge erfüllt, zieht er in Rosario mit Pinsel und Farbe von Häuserwand zu Häuserwand:
"Ich restauriere dieses Gemälde, das ich vor ungefähr zwei Jahren angefertigt habe. Ich möchte, dass die Wandbilder in gutem Zustand sind. Wenn ein Werk runtergekommen aussieht, versuche ich, es zu restaurieren. Dabei füge ich etwas hinzu oder modifiziere es, ich verwandle es in etwas anderes, teilweise in etwas ganz anderes."
Der Muralist steht vor dem Zollamt in Rosario, es stammt aus dem 19. Jahrhundert und wird heute von der Stadtverwaltung genutzt. Jorge Molina legt Hand an:
Er verwendet neben traditioneller Maltechnik auch Paste-up. Das heißt, er klebt im Atelier vorgefertigte Plakate ein. In diesem Fall bedecken zwei die Seitenflügel: links ein Mädchen mit einem riesigen Pinsel, rechts eine Handvoll Gebäude, die bei genauem Hinsehen auch Pinsel sind. Das direkt auf die Wand gemalte Bild in der Mitte zeigt Musikinstrumente.
"Das hier sind eine Bombo-Trommel, ein Kontrabass und ein Cello. Sie haben Fenster, sodass man reinsteigen könnte. Ich finde, Musikinstrumente und Kunstwerkzeuge könnten unsere Häuser sein. Ich möchte dazu aufrufen, Handarbeit und ihre Werkzeuge wertzuschätzen."
Deutungen überraschen den Künstler
Während sich Jorge Molina auf sein Bild konzentriert, setzt sich eine ältere Dame auf das unten flach auslaufende Treppengeländer. Ihre elegante Kleidung und der handgeschnitzte Stock in ihrem Schoß weisen sie als Bewohnerin eines vornehmen Viertels aus.
Es ist die erste von zwei Pausen, die sie sich auf ihrem täglichen Spaziergang gönnt. Sie lässt die Gesichtsmaske beim Erzählen auf. Heute Morgen war sie beim Kardiologen und beim Zahnarzt. Sie braucht zwei Implantate. Die Kosten machen ihr weniger Sorgen als die Angst, sich mit Corona zu infizieren.
"Soll ich die Behandlung vornehmen lassen? Ich war ganz durcheinander. Also sagte ich mir, ich gehe erst mal spazieren und gucke, ob sich meine Gedanken ordnen. Da kam ich an diesem Wandbild vorbei und fühlte mich gleich besser. Jetzt hat er es erneuert: Vorher war da auch eine Frau, aber die trug keinen Pinsel wie die da jetzt. Ich komme hier fast jeden Tag vorbei, weil ich laufen muss, wegen meiner Knie. Wie auch immer, ich finde, es sieht toll aus: Die Verrücktheit in diesem Teil da. Und rechts, das zeigt doch, dass Frauen etwas vernünftiger sind als Männer."
Jorge Molina versteckt in seinen Wandbildern keine Botschaft, die entschlüsselt werden muss. Die Deutungen der Betrachter überraschen ihn meist positiv.
Kunst in der Sprache der Betrachter
Ganz in der Tradition mexikanischer Wandmalerei der 1930er-Jahre soll seine Kunst in der Sprache und mit den Codes der Betrachter sprechen, damit sie sich darin wiedererkennen und zu Hause fühlen können. Manchmal spielt er mit Details auf die politische Situation an, wird aber niemals deutlich. Nur ein sehr aufmerksamer Betrachter könnte im Fensterchen eines Traumhauses einen Demonstrationszug erkennen. Für Jorge Molina ist Kunst auf der Straße trotzdem eine politische Geste.
Mit dem Wandbild am Zollamt hat es eine besondere Bewandtnis, denn an gleicher Stelle hatte er ein verwittertes Graffiti oder Wandbild vorgefunden. Einige ovale Gesichter waren zu erkennen, die Aufschrift nicht mal mehr zu erraten.
"Kurz danach schrieb mir eine Dame, dass dieses Wandbild an drei Angestellte erinnert, die im Zollamt gearbeitet hatten und während der Militärdiktatur verschwanden: ‘Schade, dass dieses Wandbild weg ist‘, schrieb sie mir. 'Immer wenn ich daran vorbeigegangen bin, habe ich an meine Schwester gedacht.‘ Ihre Schwester ist eine der drei Vermissten. Der Brief klang nicht vorwurfsvoll. Sie kannte sogar meine Sachen. Ich schrieb, dass ich das nicht wusste und mir aus den Überresten des Wandgemäldes auch nicht hätte zusammenreimen können, und schlug vor, wenn möglich, eine Wand des Gebäudes zu bemalen, um das Wandbild, das ich ahnungslos übermalt hatte, wiederherzustellen. Dann kam die Pandemie. Aber wir werden es so bald wie möglich machen."
Die politische Geste gehört dazu
Julia Martínez leitet seit sechzehn Jahren ein Sinfonieorchester mit rund einhundert Jugendlichen aus Triángulo, einem Viertel sozial Benachteiligter, das Orquesta del Tri.
Als sie – wie so oft – wieder einmal die Nachricht bekam, dass es keine Gelder mehr für das Projekt geben wird, ging sie mit leerem Blick durch die Straßen. Aber nicht lange.
Als sie – wie so oft – wieder einmal die Nachricht bekam, dass es keine Gelder mehr für das Projekt geben wird, ging sie mit leerem Blick durch die Straßen. Aber nicht lange.
"Ich ging die Calle San Juan entlang und stand plötzlich vor einem Wandbild, das eine Kontrabassistin zeigt. Genau das Instrument, das ich spiele. Und sie hebt ihren Bogen. Ich konnte mich in diese Körperhaltung sofort einfühlen. Ich sehe also plötzlich dieses Mädchen, das den Kontrabass anlehnt und den Bogen hochhält, und sage: 'Das ist ja stark. Sie spricht mit mir.' Das Wandbild sprach zu mir, so als wollte es sagen: ‚Kopf hoch, mach weiter.‘"
Jorge Molina regt gern Teamarbeiten an, lässt Schüler, Nachbarn, Mitglieder eines Kulturzentrums oder einer Gewerkschaft selbst das Zepter übernehmen und manchmal sogar den gesamten Schaffensprozess gestalten. Vielleicht gerade deswegen hat der Stadtrat von Rosario ihn für seine Verdienste ausgezeichnet. Die Entstehungsphasen seiner Werke beschreibt er so:
"Phase eins: Zeichnen. Phase zwei: Farben. Alles ausmalen. Ohne Abstufungen. Phase drei: Schatten setzen. Alle Schatten. Phase vier: Licht. Alle beleuchteten Bereiche. Phase fünf: Glanzpunkte. Alles, was sehr hell ist. Und am Schluss, wenn nötig, ein bisschen abdunkeln oder aufhellen."
Kunst kann auch Trost spenden
Jorge Molina durchstreift täglich die Straßen der Stadt, in die er mit seiner Arbeit eingreift, den Kopf voller Projekte. Er hat den Künstler des von ihm übermalten Wandbildes zur Erinnerung an die drei verschwundenen Angestellten ausfindig gemacht. An einem für Rosario typischen brütend heißen Frühlingstag trifft er Freddy Sciarrata an der Freitreppe zum Zollamt.
Freddy hat einen Ausdruck mit der Skizze des zu malenden Wandgemäldes mitgebracht. Im Vordergrund die lächelnden Gesichter der drei heute immer noch vermissten Jugendlichen. Mit einem feinen Pinsel zeichnet Freddy die Gesichtszüge nach Schwarz-Weiß-Fotos eines jeden von ihnen, die er abwechselnd in der anderen Hand hochhält. Jorge Molina seinerseits koloriert Haut und Hintergrund.
Eine Dame mit glattem blondem Haar begleitet die Künstler. Himmelblaue Augen spähen über der Gesichtsmaske hervor. Laura Tasada ist extra aus einem Vorort nach Rosario gekommen. Sie ist diejenige, die Jorge Molina den Brief geschrieben hat und auf die Geschichte des Wandbildes, das er übermalt hatte, aufmerksam gemacht hat. Auch in dem verwitterten Gesichtsoval hat sie stets ihre Schwester Adriana erkannt, die am 4. September 1977 im Alter von 20 Jahren verschwand.
"Sie wollte die Welt verändern. Sie dachte, wenn sich die Menschen der Bedürfnisse anderer bewusstwürden, müsste sich die Welt verändern. Auf der letzten Seite in ihrem Tagebuch steht: Ich weiß nicht, wie ich sterben werde, aber dass ich dafür sterben werde, dass es keine Armut mehr geben soll."
Laura erzählt, dass ihre Schwester Adriana gerade geheiratet und eine Tochter zur Welt gebracht hatte, als sie und ihr Mann von der Polizei der Militärdiktatur verschleppt und, wie ein Überlebender später berichtete, ermordet wurden. Die Angehörigen konnten das kleine Mädchen, das einem Polizisten anvertraut worden war, zu sich holen.
Ein Wandbild statt eines Grabsteins
Die Künstler folgen schweigend den Details der im Wandgemälde, das sie heute nachbilden, verborgenen Geschichte. Während Freddy alle Augen und Lippen auf den Porträts retuschiert und Jorge Molina mit dunkelbrauner Farbe Adrianas Haare malt, steht Laura Tasada auch vor dem Gesicht ihrer Schwester. Zu Lebzeiten nannte sie sie liebevoll "Gorda" und tut es immer noch, wenn sie laut mit ihr spricht.
"Ich bin wirklich sehr berührt. Für uns, die wir keinen festen Ort haben, an dem wir eine Blume niederlegen können, kann so ein Ort gut der ausgewählte sein. Ich habe dich lieb, Gorda. Von ganzem Herzen."