Streifzüge durch ein rührend biederes Westberlin
Eislaufen im Europacenter, eine Kreuzberger Dichterlesung, die Erstbesteigung des Schönebergs: Rudols Lorenzen hat seine Impressionen aus dem Berlin der 60er- und 70er-Jahre in kleinen Feuilletons geschildert. Zu seinem 90. Geburtstag erscheint nun eine Sammlung dieser Texte unter dem Titel "Die Hustenmary".
Als Rudolf Lorenzen 1955 nach Berlin kam, war er 23 Jahre alt. Der gebürtige Lübecker hatte in Bremen eine Ausbildung als Schiffsmakler absolviert, doch das Leben dort war ihm zu langweilig. Er heiratete die Schriftstellerin Annemarie Weber und begann zu schreiben. In Charlottenburg fand er seine Heimat. Die Frontstadt war sein Paradies zwischen den Welten: zwischen Sportpalast und Kurfürstendamm, den Autorennen auf der Avus und der Amerika Gedenkbibliothek, einer altgedienten Prostituierten mit Berliner Schnauze, Bubi Scholz, Horst Buchholz und Rolf Eden.
Als 1961 die Mauer gebaut wurde, war das so weit weg, dass er mit seiner Frau einen Sonntagsausflug dorthin unternahm, um wie ein Tourist die Baumaßnahmen zu betrachten. Sein Thema war nicht die russische Gefahr, sondern eher die "Halbstarken" in Lederjacken und der amerikanische Angriff des "Rock'n'Roll", der das Bürgertum schockierte. Die unter dem Titel "Die Hustenmary" versammelten "Berliner Momente", die nun zu seinem 90. Geburtstag am 5. Februar erscheinen, belegen das. Es sind kleine Feuilletons, zumeist aus den 60er und frühen 70er-Jahren, und die wenigen ergänzenden Texte von heute lesen sich auch so, als wären sie von damals.
Da ist noch einmal eine Kreuzberger Dichterlesung im Atelier des Malers Kurt Mühlenhaupt zu erleben, wo Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell kindliche Verse und Sauflieder zum Besten gaben. In den einschlägigen Kneipen wie der "Zinke" trat auch Günter Grass auf, der "bei Flötenmusik, im Fensterrahmen sitzend, ein Bein draußen, eins drinnen" Gedichte las, damit aber gegen den Boogie vom Plattenspieler nicht ankam. Lorenzen erzählt vom Eislaufen im Europacenter, von der Erstbesteigung des Schönebergs als künstlerisches Happening, vom Postamt mit richtigen Postbeamten, das schon damals wie ein Museum wirkte, oder vom edlen Hotel Arosa mit Schweizambiente.
In dieser längst versunkenen, rührend biederen Westberliner Welt streift er als "Boulevardier" herum. Sich "Flaneur" zu nennen, wäre ihm wohl zu großspurig vorgekommen. Der Boulevard war sein Aufenthaltsort – und mit der "Berliner Morgenpost" auch seine bevorzugte Presse. Doch so fern diese Welt auch ist, es gibt Dinge, die sich in Berlin offenbar niemals ändern: Der Hang zu Straßenumbenennungen, über den Lorenzen sich schon damals mokierte, oder die Sorge vor überbordendem Tourismus mit seiner nivellierenden, das Originäre und Originelle vernichtenden Kraft.
Als Schriftsteller ist Rudolf Lorenzen zu Unrecht vergessen. Sein eindrucksvoller autobiografischer Roman "Alles andere als ein Held", der auch die Erfahrung des Krieges und der russischen Gefangenschaft umfasst, erschien 1959 im Schatten von Grass' "Blechtrommel. 2002, zum 80. Geburtstag, wurde er bei Schöffling neu aufgelegt. Inzwischen kümmert sich der kleine Berliner Verbrecher Verlag um seine Werke und bringt sie verdienstvollerweise nach und nach gesammelt heraus.
Lorenzen wandte sich schon Anfang der 70er-Jahre ein wenig verbittert von der Schriftstellerei ab. Seither hat er sich hauptsächlich als Autor und Produzent fürs Fernsehen, vor allem für das ZDF betätigt. Von Verlegern hält er nicht viel, wie einer satirischen Abrechnung mit dieser Berufsgattung zu entnehmen ist, die am Ende der Sammlung "Die Hustenmary" steht. Wenn der Autor dann endlich aufhört, Romane zu schreiben, hat der Verleger sein Ziel erreicht: "Er hat die Literatur reduziert." Sein heutiger Verleger Jörg Sundermeier kann sicher sein, dass er diesen Satz nicht auf sich beziehen muss. Mit Rudolf Lorenzen aber ist an dessen 90. Geburtstag ein Schriftsteller wiederzuentdecken, der wohl zu früh vom Misserfolg entmutigt worden ist.
Von Jörg Magenau
Rudolf Lorenzen: Die Hustenmary. Berliner Momente
Verbrecher Verlag, Berlin 2012
116 Seiten, 18 Euro
Als 1961 die Mauer gebaut wurde, war das so weit weg, dass er mit seiner Frau einen Sonntagsausflug dorthin unternahm, um wie ein Tourist die Baumaßnahmen zu betrachten. Sein Thema war nicht die russische Gefahr, sondern eher die "Halbstarken" in Lederjacken und der amerikanische Angriff des "Rock'n'Roll", der das Bürgertum schockierte. Die unter dem Titel "Die Hustenmary" versammelten "Berliner Momente", die nun zu seinem 90. Geburtstag am 5. Februar erscheinen, belegen das. Es sind kleine Feuilletons, zumeist aus den 60er und frühen 70er-Jahren, und die wenigen ergänzenden Texte von heute lesen sich auch so, als wären sie von damals.
Da ist noch einmal eine Kreuzberger Dichterlesung im Atelier des Malers Kurt Mühlenhaupt zu erleben, wo Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell kindliche Verse und Sauflieder zum Besten gaben. In den einschlägigen Kneipen wie der "Zinke" trat auch Günter Grass auf, der "bei Flötenmusik, im Fensterrahmen sitzend, ein Bein draußen, eins drinnen" Gedichte las, damit aber gegen den Boogie vom Plattenspieler nicht ankam. Lorenzen erzählt vom Eislaufen im Europacenter, von der Erstbesteigung des Schönebergs als künstlerisches Happening, vom Postamt mit richtigen Postbeamten, das schon damals wie ein Museum wirkte, oder vom edlen Hotel Arosa mit Schweizambiente.
In dieser längst versunkenen, rührend biederen Westberliner Welt streift er als "Boulevardier" herum. Sich "Flaneur" zu nennen, wäre ihm wohl zu großspurig vorgekommen. Der Boulevard war sein Aufenthaltsort – und mit der "Berliner Morgenpost" auch seine bevorzugte Presse. Doch so fern diese Welt auch ist, es gibt Dinge, die sich in Berlin offenbar niemals ändern: Der Hang zu Straßenumbenennungen, über den Lorenzen sich schon damals mokierte, oder die Sorge vor überbordendem Tourismus mit seiner nivellierenden, das Originäre und Originelle vernichtenden Kraft.
Als Schriftsteller ist Rudolf Lorenzen zu Unrecht vergessen. Sein eindrucksvoller autobiografischer Roman "Alles andere als ein Held", der auch die Erfahrung des Krieges und der russischen Gefangenschaft umfasst, erschien 1959 im Schatten von Grass' "Blechtrommel. 2002, zum 80. Geburtstag, wurde er bei Schöffling neu aufgelegt. Inzwischen kümmert sich der kleine Berliner Verbrecher Verlag um seine Werke und bringt sie verdienstvollerweise nach und nach gesammelt heraus.
Lorenzen wandte sich schon Anfang der 70er-Jahre ein wenig verbittert von der Schriftstellerei ab. Seither hat er sich hauptsächlich als Autor und Produzent fürs Fernsehen, vor allem für das ZDF betätigt. Von Verlegern hält er nicht viel, wie einer satirischen Abrechnung mit dieser Berufsgattung zu entnehmen ist, die am Ende der Sammlung "Die Hustenmary" steht. Wenn der Autor dann endlich aufhört, Romane zu schreiben, hat der Verleger sein Ziel erreicht: "Er hat die Literatur reduziert." Sein heutiger Verleger Jörg Sundermeier kann sicher sein, dass er diesen Satz nicht auf sich beziehen muss. Mit Rudolf Lorenzen aber ist an dessen 90. Geburtstag ein Schriftsteller wiederzuentdecken, der wohl zu früh vom Misserfolg entmutigt worden ist.
Von Jörg Magenau
Rudolf Lorenzen: Die Hustenmary. Berliner Momente
Verbrecher Verlag, Berlin 2012
116 Seiten, 18 Euro