Das Glück ist rau und schmeckt nach Heroin
Früher galt der Wedding als Arbeiterbezirk. Und noch heute scheint man hier näher dran zu sein am Leben, spürt die Authentizität. Kein Ort zum Wohlfühlen, sondern zum Wachbleiben, meint unser Autor Maximilian Klein, der sich dort umgeschaut hat.
Mustafa: "Das wird als Schwäche angesehen wenn du die Polizei rufst. Ich meine wenn einer kommt und du hast dich mit jemanden gestritten ..."
Die Polizei. Sie taucht auf – gleich im ersten Gespräch über den Wedding. Der Berliner Ortsteil von Mitte hat einen Ruf. Es ist kein guter Ruf.
Mustafa: "Passiert sehr viel Scheiße auch. Amrumer Straße ist auch so Hochburg für Junkies auf jeden Fall. Hier gibt es sehr viele Junkies. Das ist voll einfach hier. Früh morgens um sieben fängt es an. Dies versammeln sich alle hier unten, so viele Dealer ... Heroin und Marihuana auch viel. Kokain auch, aber das ist nicht so im Vordergrund ..."
Mustafa erzählt. Es ist früh am Morgen. Er steht in seinem Laden, einem Spätkauf mit Internet-Café, durchgehend geöffnet. Zigaretten, Alkohol und all die Sachen, die hier rund um die Uhr gebraucht werden, die legalen Sachen. Die anderen gibt es vor der Tür. Gucken, Blickkontakt aufnehmen, ein paar Worte. Ein Geldschein, niemals Münzen, immer passend zahlen.
Mustafa: "Guck mal, da sind ganz normale Kleinkriminelle, die mit Marihuana ticken zum Beispiel. Durch die Heroin-Dealer wird es halt viel heißer, sag ich mal, weißt du, was ich meine. Die Polizisten sind hier viel öfter, Kripos sind hier öfter, Observationen sind hier auch oft. Weißt du, was ich meine. Deswegen. Da wurde zu heiß, die Leute sind halt ruhiger geworden deswegen ... Bei uns wurde noch nie eingebrochen, aber wir haben 24 Stunden geöffnet. War noch nie ein Überfall oder so. Aber hier um die Ecke um Café schon zweimal, im Dönerladen wurde eingebrochen, beim Chinesen wurde eingebrochen."
Mustafa sieht es jeden Tag vor seinem Laden. Er kennt die Suchenden und Suchtenden. Berlin-Wedding. Problemkiez. Ich stehe mittendrin im Problembezirk. Alles, was nach Style und Café Latte aussieht passt hier nicht. Der Wedding sei eben anders, heißt es. Die Luft hier ist rau und schmeckt nach Heroin. Es ist laut. Wortfetzen fliegen durch die Straße. Ghetto – das Wort liegt in der Luft. Es klingt auftrumpfend. Wenn schon ausgegrenzt, dann selbstgewählt. Der Wedding ist Berliner Schnauze. Und auf die Schnauze.
"Es ist nicht so eine Illusion"
Umfrage: "Der Wedding hat schöne Parks, gut zur Erholung."
"Also ich finde Wedding hat schon was. Zwei, drei Kinos. Schwimmbäder gibt’s, Einkaufsmöglichkeiten gibt es."
"Rau, würde ich auf alle Fälle sagen. ... Es ist noch einer der Stadtbezirke, wo es noch billige Wohnungen gibt."
"Ich sehe mittlerweile schon richtig gebildete Leute. Sonst gab es Leute, die haben nicht gewusst, wo der Hammer hängt."
"Hier hat es ganz schön zugenommen. Es gibt Gegenden, da ist es ganz schön mit den Ausländern."
"Man merkt dass die Deutschen, die im Wedding aufgewachsen sind oder die im Wedding seit längerem leben, die sind offener. Die sind offener, die haben keine Probleme mit den Ausländern, sag ich mal, die kennen das halt schon."
"Ich finde es ist wesentlich näher dran am Leben. Es ist nicht so eine Illusion, sondern man meint dort die Realität auch gut zu sehen und die Probleme der Leute zu erkennen. Das ist vielleicht auch näher dran am Lebensgefühl von dieser Stadt."
Ich habe die Nase gerümpft. Es ging schneller als ich wollte. Ich habe versucht, mitten in der Bewegung damit aufzuhören. Aber Ludwig hat es gemerkt. Ludwig ist mein kleiner Bruder. Ich solle nicht so arrogant grimassieren, hat er gesagt. Er ist in den Wedding gezogen:
"Für mich ist der Wedding absolut zu Hause geworden."
Hinter einer unsichtbaren Grenze
Der Wedding ist das Leben in der echten Form, ungehobelt, versteckt hinter einer unsichtbaren Grenze hinter dem Mauerpark. Die Menschenströme von heute ziehen nicht mehr über die Bornholmer Brücke in den Wedding, sie ziehen die Schönhauser Allee rauf und runter. Der Prenzlauer Berg gehört den Zugezogenen. Die gehen selten in die Weddinger Wildnis. Es könnte ja gefährlich sein.
Ludwig: "Ich habe mich am Anfang, wegen dieser Vorurteile, die man so hat, doch immer ein bisschen geweigert, zum Beispiel nach Hause zu laufen. Ich bin dann doch eher mit der Bahn gefahren und mit dem Fahrrad."
Prenzlauer Berg – das ist der Markenklamotten tragende Nachbar vom Wedding. Der Wedding selbst trägt alles, Hauptsache billig. Der Wedding ist nicht nur Outfit. Der Wedding ist auch Dreck. Doch der ist Teil von allem. Er gehört dazu. Er stört nicht.
Ludwig: "Ja, es ist schmutziger und hier und da vielleicht auf den ersten Blick ein bisschen trostloser. Nichtsdestotrotz, vielleicht, wenn ich Berlin erleben möchte und Authentizität suche, ein einfaches, normales Alltagsleben, dann muss ich in den Wedding.
Normales Alltagsleben? Eine Fahrt durch den Wedding. Ghetto-Safari. Aufregend, witzig. Aber eben Safari. Fahren, gucken, staunen, mit den Schultern zucken. Und wieder weg. Weg von billig, proletarisch, weg von Imbissen mit Neonröhren-Charme. Von den Immer gleichen weißen Plastikstühlen, weg von Kitsch, Samowaren in Teestuben, grauen Fassaden, Sportwettstudios und Spielhöllen. Weg von Macho-Pubertierenden Jungs die einem kurz Respekt einflößen können. Spricht man sie direkt an, wird man gesiezt und höflich behandelt. Weg von den Widersprüchen.
Der Wedding galt mal als Arbeiterbezirk, als rot. Das geht auf jenes Lied zurück, das im Jahr 1929 entstand – geschrieben einfach für den Tag, eine längere Lebenszeit war gar nicht eingeplant:
"Haltet die Fäuste bereit". 1929. Die Kommunisten hatten trotz Demonstrationsverbot zu friedlichen Massenprotesten aufgerufen. Der sozialdemokratische Polizeipräsident schickte seine Leute los: Schlagstöcke, Spritzenwagen. Die Lage sollte eskalieren. Die Polizei schoss nicht nur in den Demonstrationszug, sondern auch in die Fenster. Der Sozialdemokrat Max Gmeinhardt wurde von Kugeln tödlich verletzt, weil er sein Wohnungsfenster nicht schnell genug schloss, als er dazu aufgefordert wurde. 33 Tote und über 200 Verletzte. Der Begriff "Blutmai" entstand – und das Lied vom roten Wedding. In kurzer Zeit wurden 40.000 Schallplatten vom "Roten Wedding" verkauft. Sein Texter, Erich Weinert, nannte es ein …
Zitator: "… ausgesprochenes Berliner Gelegenheitsliedchen"
und wurde dafür angeklagt:
Zitator: "Aufreizung zum Klassenhass, Gotteslästerung und Verächtlichmachung der republikanischen Staatsform
Der "rote Wedding" als Markenzeichen
Der Text wurde immer wieder verändert. Doch der "rote Wedding" blieb in der Welt. Nur rot – rot blieb er nicht. Rot ist wohl nur noch eine Farbe von vielen.
Zitator: "Was auf fast eine halbe Meile diesen ganzen Stadtteil charakterisiert, das ist die völlige Abwesenheit alles dessen, was wohltut, was gefällt. In erschreckender Weise fehlt der Sinn für das Malerische ..."
Die Kritik am Wedding ist nicht neu. Überhaupt nicht …
Zitator: "Nützlichkeit und Nüchternheit herrschen souverän und nehmen der Erscheinung des Lebens allen Reiz und alle Farbe."
… schrieb Theodor Fontane über den Wedding. Fontane ist seit über einhundert Jahren tot. Fontane interessiert hier die wenigsten.
Zitator: "Grün und Gelb und Rot wechseln die Häuser und liegen noch da wie eingetaucht in ein allgemeines, trostloses Grau."
Der Wedding ist nicht rot, sondern grau. Das hat Fontane gewusst. Das weiß jeder, der irgendwie vom Wedding gehört hat. Und nie wird der Wedding in einer anderen Farbe gemalt. Dennoch: Das Grau ist Klischee. Der Wedding ist bunt. Grau-bunt. Es ist eine Farbe, die es nur im Wedding gibt.
Mustafa steht in seinem "Späti". Wir reden. Seine Augen wandern schnell zum Eingang, wenn ein Kunde kommt. Er hat wache Augen in einem runden Gesicht. Viele der Kunden scheint er zu kennen.
"Wenn du hier arbeitest, musst du mit allen klarkommen, es sind ja deine Kunden. Und zu jeden nett sein und eine Beziehung aufbauen, weißt du, was ich meine. Es gibt Leute, zu denen willst du keine Beziehung aufbauen, aber machst es trotzdem. Dann wird manchmal auch zu viel, also du kommst da nicht weg. Kannst auch nicht sagen, ich habe keinen Bock auf dich oder lass mich in Ruhe. Es ist ein Kunde halt. Du musst mit jedem klarkommen, mit Junkies, mit Dealern."
Mustafa muss nicht nach den Preisen suchen, die meisten hat er im Kopf. Zielsicher greift er hinter sich ins Regal, um die Schachtel einer bestimmen Marke auf den Verkaufstresen zu legen. Bitte. Danke. Wechselgeld. Er ist schnell. Er arbeitet seit acht Jahren hier, als er anfing war er 15. Jetzt ist er 23. Ein Jahr lang hat er nur nachts gearbeitet. Es war – schwierig:
"Kaum richtige Kommunikation mit den Leuten, die können nicht richtig sprechen. Manchmal denke ich, nur die Verrückten kommen her einkaufen. Dann kommen Leute, die kloppen sich, dann kloppen die sich im Laden weiter. Ist schon alles passiert. Dann fliegen hier Flaschen und weiß ich was. Da muss man schon auf der Hut sein."
Ein Spiegel der Weltpolitik
Nachts ist Mustafa nur noch selten im Laden. Er holt sein Fachabitur auf der Abendschule nach, da ist nicht mehr soviel Zeit. Er will Ingenieur werden. Die Hochschule hat er sich schon ausgesucht: Beuth, die Hochschule für Technik in Berlin-Wedding. Er will raus aus dem Weddinger Laden. Aber im Wedding studieren. Der Späti ist im Familienbesitz. Seine Mutter ging putzen. Sein Vater hat diesen Späti aufgemacht, dann einen zweiten und einen dritten. Die Familie ist weggezogen – von Wedding nach Reinickendorf. Aufstieg – sozial, finanziell. Für Mustafa ist der Späti auch Chance zum Aufstieg, wenn er den Absprung findet. Er weiß, was er will. Erst einmal will er nicht zu seinem besten Kunden werden.
"Es gibt ja auch nette Leute hier, es ist ja nicht so, dass alle fürn Arsch sind. Aber die Mehrheit in der Ecke ist doch so. Ich würde sagen, das hat auch mit der Ausländerbehörde zu tun, ein bisschen. Weil die vermitteln auch sehr viel in diese Wohnungen, in die über uns zum Beispiel. Sprechen kein Wort Deutsch, nichts. Auch kein englisch. Man merkt es auch extrem hier in der Ecke, das, wenn in Syrien zum Beispiel was ist, das so viel Syrer einwandern. Das merkt man hier extrem. Oder wenn in Libyen irgendwas ist, das merkt man extrem hier."
Und so ist der Wedding auch ein Spiegel der Weltpolitik. Oder des Elends der Welt. Der Wedding – der ist so gar nicht fassbar. Arbeiterbezirk, das passt nur auf einen Teil. Der Wedding war auch mal Vorstadt von Berlin. Geblieben ist er als Mythos – das sagt Kulturhistoriker Eberhard Elfert. Er kennt den Wedding genau. Er ist dort hingezogen, weil ihn der Prenzlauer Berg nervte. Der Wedding ist wild – und der wilde und vor allem rote Wedding – das ist ein Klischee, sagt Eberhard Elfert:
"Na zum Beispiel, dass der Wedding ein Arbeiterbezirk wäre und damit verbindet man die Berliner typische Hinterhofbebauung. Ein riesengroßer Bereich des Weddings ist schlicht und einfach mal Grün. Hinterhofbebauung ist ganz wenig nur. Hier hörte die Stadt nämlich auf. Der Wedding ist Vorstädtisch. Hier war das Ende der Stadt. Wir haben überall starre Stadtkanten."
Die Welt begegnet sich im Wedding. Und nicht nur die Welt, sondern ganz Berlin. Aus der Mitte kommen die Clubmate-Trinker, aus Reinickendorf die Arbeiter. Vom Prenzlauer Berg kommen die Weggentrifizierten, aus Moabit die Studenten. Aus Charlottenburg kommt keiner. Wedding: klingt nach sozialem Abstieg. Es kommen die, die Chancen suchen, die es woanders nicht gibt. Und die Verwöhnten, die Lust auf echtes Leben haben und Asozial-Romantik erleben wollen. Alle treffen sich im Wedding. Alle prallen hier aufeinander – zum Beispiel am Leopoldplatz:
Elfert: "Ja, wir sind hier am Leopoldplatz der hat eine interessante Geschichte oder eine interessante neuere Geschichte. Es gab hier sehr viele soziale Probleme, wie man das so benennt. Menschen mit wenig Geld die sich hier aufgehalten haben. Wir hatten hier einen Nutzungskonflikt zwischen unterschiedlichen Nutzergruppen."
Brüllen an der Tagesordnung
Wedding. Der Konflikt gehört immer dazu. Nicht brodelnd, irgendwo unter der Oberfläche, sondern sichtbar, hörbar. Und auch spürbar. Hier wird nicht gedruckst, hier wird gebrüllt.
Elfert: "Wir haben bestimmte Leute hier. Die hat man dann bestimmte Begriffe gegeben. Trinkerszene zum Beispiel war einer der Begriffe. Und man hat dann die Leute hier gefragt, wie wünscht ihr euch hier diese Transformation. Ist auf die Leute zugegangen und die haben sich eben gewünscht das es für sie einen Aufenthaltsbereich gibt.
Mit Leuten sprechen, ihren Alltag und ihre Erwartungen erfragen – und so etwas verändern. Zum Besseren.
Elfert: "Also den Anschub hat sozusagen jemand gegeben der hier ein Gewerbe betreibt am Platz, einen Frisörladen und der hat halt gemeint, dass die Probleme hier aus dem Ruder gehen. Hat sich dann dafür eingesetzt, hat das auch sehr lautstark gemacht gegenüber der Verwaltung, der Politik. Alle waren involviert. Kirchen, soziale Einrichtungen, private Leute. Also alle Leute die hier um den Platz rum sind oder im Wedding aktiv sind. Haben gemeinsam da letztendlich da an einem Strang gezogen."
Der Kulturhistoriker Eberhard Elfert ist nicht nur Beobachter. Er ist einer, der ändern will, der Ausstellungen organisiert. Und sich für die Dinge in seiner Nachbarschaft interessiert. In seiner Sprache heißt das, er begleitet Stadtentwicklungsprozesse.
Elfert: "Und mittlerweile hat sich der Leopoldplatz zu einem Ort entwickelt, an dem man sich wirklich gerne aufhält."
Mir entrutscht ein gedankliches: naja, gerne? Der Wedding wird nie wie das Zentrum einer dieser geleckten Kleinstädte. Zum wohlfühlen ist es hier nicht. Aber zum wach bleiben. Menschen gucken, das geht hier fantastisch. Wenn das nicht so wäre, wäre es auch nicht mehr der Wedding. Eberhard Elfert weiß das. Er selbst hat im Prenzlauer Berg gewohnt, bis es ihm zu schick, zu kalt, zu gestylt wurde. Von dort direkt in den Wedding. Und dort gleich in die schlimmste Ecke:
Elfert: "Ich wohne im Soldiner Kiez. Der war von den über 400 Sozialräumen, die Statistisch erfasst werden, als ich da hingezogen bin vor fünf Jahren, war der an der Sozialstatistik an unterster Stelle. Also der Soldiner Kiez hat kein besonders gutes Image aber die Sozialstatistik und was den Lebens und Wohnwert ausmacht, das sind nochmal zwei verschiedene Dinge."
Der Spätkauf. Mustafa steht an der Kasse. Ein Kumpel ist vorbeigekommen. Gemeinsam überlegen sie, was die schönen Ecken des Weddings sind:
"Das ist jetzt eine Frage, keine Ahnung ... Das einzige, was gut ist, dass es relativ zentral. Wenn du in die Innenstadt willst, dann hast du es nicht so weit. Ansonsten fällt mir eigentlich nichts ein. Was gibt’s denn im Wedding Schönes?
"Im Wedding Schönes? Schillerpark. Wedding hat den Schillerpark, hat Seestraße, Schwimmbad, hat Kino Alhambra ..."
Nicht gelernt, schick zu sein
Nichts bleibt. Schon gar nicht, wie es ist. Der Wedding hat es einfach nicht gelernt, schick zu sein und damit anzugeben. Wenn schon Image, dann bloß kein Gutes. Keine Szene. Nichts. Obwohl:
Mustafa: "Hier die Ecke wird jetzt langsam zum Kiez würde ich sagen, Szene. So wie Prenzlauer Berg und so, diese Szene. Hat sich schon viel entwickelt. Es hat sich viel positiv verändert. Die meisten sind auch im Knast wahrscheinlich, deswegen."
Mustafa findet es gut, wenn die Szene kommt. Die Studenten, die Bunten, die Schlauen, die mit den Ideen, die Aufgeschlossenen. Er will dazu gehören. Und wenn all die nicht zu ihm in den Wedding kommen, dann geht er eben zu ihnen.
Marggraf: "Hab den Wedding kennengelernt. Mit guten und schlechten. Also das war wirklich damals noch anders. Also meinen ersten Schuss zum Beispiel aus ner Pistole hab ich im Wedding gehört."
Der Wedding – das sind aneinandergereiht Dönerbuden, Pfandleihen, Spielhallen, Imbissstände, Gemüseläden. Es ist bunt hier und billig. Es würde nach Plastik riechen, wenn abgestandene Plaste einen markanten Geruch hätte. Parken geht nur in der zweiten Reihe, Frauen mit Kopftüchern, Obststände, Einkaufstüten. Stimmengewirr konkurriert mit dem Straßenlärm. Shoppen – die scheinbar höchstmögliche Form gelebter Integration. Oder kleinster gemeinsamer Nenner. Alle brauchen etwas. Alle kaufen es. Aber wo?
Marggraf: "Also als ich hier angefangen hab, da waren ein zwei Läden, die neu waren und die anders waren als die anderen. Und es ist ein wenig mühsam die Leute von der belebten Müllerstraße zu kriegen. Man geht eben nicht mal ein zwei Seitenstraßen weiter. Man merkt aber, je mehr Läden hier her kommen, desto mehr kommen auch außerhalb vom Kiez hier her."
Ein Bioladen im Wedding, absurd?
Martina Marggraf sucht einen ruhigen Ort zum Reden. Ihr Laden ist es nicht. Dort sind zu vielen Kunden. Die Frauen tragen Tücher, die Männer sibirientaugliche Hightech-Jacken Der Laden ist ein Bioladen. Im Wedding. Es ist absurd. Für den Fall, dass ihr das nicht selbst klar gewesen wäre, haben es ihr alle anderen gesagt:
"Ich glaub das dass alle ziemlich absurd fanden. Und es auch schon noch so, obwohl der Wedding im Strukturwandel ist, wenn ich Leuten das erzähle, das ich ein Bioladen im Wedding habe, viele noch sagen 'Ähh und das funktioniert?'"
Es scheint so. Zumindest macht sich Martina Marggraf jetzt Bioladenbesitzerinnen-Sorgen, die sich sonst vielleicht die Bioladenbesitzerinnen im Prenzlauer Berg machen:
"Dass man mit Kinderwagen durchkommt, war mir wichtig. Mir war nicht klar, dass wir so viele Kunden mit Kindern haben werden. Weil im Sprengelkiez war das vor vier Jahren noch anders. Mittlerweile ist es so ein kleines Prenzlauer Berg geworden. Also bis zu sechs Kinderwagen passen in den Laden ganz unproblematisch rein. Haben wir schon ausprobiert, ab dann wird es schwierig."
Und das Leben? Gibt es ein Zusammenleben?
"Eher nebeneinander her leben leider. Und ich finde das ist eine Aufgabe der Gewerbetreibenden hier, weil wir haben die Leute hier, die hier leben. Das ist eine Aufgabe finde ich, Verbindungsplätze zu schaffen. Weil die türkische Kundschaft hat mit der Deutschen nicht viel zu tun. Aber im Laden begegnen die sich. Und dann sagen, ach dein Kind ist ja in der KITA, wo mein Kind ist. Wenn die wussten, Du wohnst in der Straße, warst Du mit drin. Dann gehörtest Du dazu. Und das fand ich sehr spannend. Also ich fühlte mich schnell zu Hause im Wedding."
Muss alles schön sein? So schön wie die Einkaufsmeilen vieler Stadtzentren nach Ladenschluss? Muss alles gleich sein – so gleich, wie die immer gleichen Geschäfte in den Einkaufscentern? Der Wedding gibt eine Antwort. Der Wedding sagt nein.
Vielleicht ist der Wedding auch nur eine Besonderheit. Das Klischee beginnt dort, wo der Kopf zu denken aufhört.