Umweltschutz und Tradition prallen aufeinander
07:56 Minuten
In Brandenburg wurden im letzten Jagdjahr fast 200.000 Paarhufer wie Rehwild oder Wildschweine erlegt. Wegen der Schäden im Wald ist das für die einen immer noch zu wenig. Andere klagen über das Verschwinden des verantwortungsvollen Jagens.
Er ist von der alten Schule. Auf seinem traditionellen Lodenhut prangen links die Anstecker vom Landesjagdverband Brandenburg und ein silberner Keiler. Über der Schulter trägt er die Doppelflinte, kunstvoll graviert mit Renaissance-Laub und Waldmotiven. Sein knielanger waldgrüner Mantel schleift auf den Sprossen der Leiter, als er auf den Hochsitz klettert. Die Sonne steht tief, um 18 Uhr abends. Nichts regt sich auf der Lichtung.
"Jäger ist praktisch Schützer vom Wald und vom Wild. Früher waren wir Naturschützer, zu DDR-Zeiten. Heute sind wir nach dem Bundesgesetz keine Naturschützer mehr, sondern ganz böse Buben."
Arno Stranz ist Jäger mit Leib und Seele, seit seiner Kindheit zieht es ihn fast täglich in den Wald. In Wollin, der kleinen Ortschaft an der A2 im Westen Brandenburgs, ist er eine echte Institution. Denn er beliefert Nachbarn und Freunde mit dem sogenannten Wildbret, mehr Bio geht nicht.
"Ich gehe nicht nur zur Jagd, weil ich schießen will. Ich gehe raus: Erholung, gucken, was passiert in der Natur."
Schäden durch gestiegenen Wildbestand
Ein völlig anderes Jagdverständnis hat Mathias Graf von Schwerin. Er ist Vorsitzender des Ökologischen Jagdverbands Brandenburg-Berlin und führt heute einen Forstbetrieb in Werneuchen, nordöstlich von Berlin. Geht es nach ihm, ist die Jagd keine Freizeitbeschäftigung, sondern ein Dienst an der Natur.
"Jagd kann sich in der heutigen Zeit nicht mehr leisten, ein traditionsgeführtes Hobby zu sein. Im Gebiet des Landes Brandenburg hat sich innerhalb der letzten 65 Jahre, auf Basis gesicherter Quellen, der Wildbestand circa verzehnfacht. Das liegt daran, dass wir in der Landwirtschaft erhebliche Mengen von Nährstoff Jahr für Jahr produzieren, die natürlich auch den Wildtieren zur Verfügung stehen und deswegen gibt es für Wildtiere keine Notzeiten mehr. Sie können sich eigentlich beliebig reproduzieren."
Die vielen Rehe und Wildschweine können dem Wald aber erheblich schaden. Auch die heißen Sommer mit wenig Regen setzen ihm zu. Hanna von Versen arbeitet im Forstbetrieb von Graf von Schwerin und ist Jägerin. Die Verhältnisse im Wald hätten sich in den letzten 50 Jahren grundlegend verändert.
"Was, glaube ich, auch noch eine Rolle spielt, ist, dass nach dem Krieg, nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere, der Wunsch nach heiler Welt groß war und nach einer Form von unbeschwertem Naturgenuss, vielleicht auch einer unschuldigen Heimatverbundenheit und insofern eine größere Hemmung war, Tiere zu schießen, und eher der Wunsch da war, sie zu bewahren. Es ist aber heute so, dass diese Naturidylle, wenn man sie denn so empfinden mag, sehr trügerisch ist, weil der Klimawandel einfach dafür sorgt, dass unsere Ökosysteme extrem labil und bedroht sind."
Naturverjüngung und Waldumbau vs. Tierwohl
Damit der Wald auch zukünftig bestehen könne und die Artenvielfalt erhalten bleibe, werde Naturverjüngung und Waldumbau dringend benötigt. Die Jagd ist für Graf von Schwerin und seine Kolleg:innen daher in erster Linie Schädlingsbekämpfung.
"Wir müssen den Wald verjüngen. Es wird viel gepflanzt. Und diese hohen Wildbestände, die in der Flur und im Wald sind, belasten einfach die Waldverjüngung, die essen die Waldverjüngung auf und das ist das Problem, das man entweder mit sehr teuren Zäunen lösen kann, lösen in Anführungszeichen, oder mit einer handwerklich modernen, effektiven Jagd."
Der Wolliner Traditionsjäger Arno Stranz sieht das anders. Er sitzt jetzt seit gut zwei Stunden auf dem Hochsitz, die Sonne ist schon fast verschwunden, noch immer regt sich nichts. Die Tiere müssen gestört worden sein. In Stranz’ Jagdgebiet leben mittlerweile acht bestätigte Wolfsrudel, die den Wildbestand dort deutlich minimieren. Im ganzen Land Brandenburg sind es sogar etwa 500 Wölfe, so viele wie in keinem anderen Bundesland. Landwirte fürchten um ihre Tiere.
Trotz aller Schäden: Jäger Stranz hängt sehr an den Traditionen. Er müsse mit ansehen, wie altes Wissen verloren gehe, die Verbindung zur Natur und zum Mond, der "Sonne des Jägers". Wildtiere sehe er per se nicht als Schädlinge, die vogelfrei zum Abschuss stünden.
"Früher war der Rehbock: 1. Mai, erst die kleinen, ab 16. Mai die großen. Und 15. Oktober war Ruhe. Heute: Dürfen sie schießen bis im Januar hinein, wenn die schon wieder ein neues Gehörn schieben. – Und das ist okay? – Ne, das ist nicht okay, in meinen Augen nicht, aber heute: Jedes Wild, was knabbert, ist ein Schädling in der Forst. Kann ich weiter nichts dazu sagen."
"Früher war der Rehbock: 1. Mai, erst die kleinen, ab 16. Mai die großen. Und 15. Oktober war Ruhe. Heute: Dürfen sie schießen bis im Januar hinein, wenn die schon wieder ein neues Gehörn schieben. – Und das ist okay? – Ne, das ist nicht okay, in meinen Augen nicht, aber heute: Jedes Wild, was knabbert, ist ein Schädling in der Forst. Kann ich weiter nichts dazu sagen."
Auch Stranz’ Jagd-Freund Hartmut Otto kann das nicht begreifen. Als ortskundiger Jäger weist er den Schützen bei Drückjagden ihren Platz zu. Es macht ihm Sorgen, dass die das Wild gar nicht mehr identifizieren, also präzise nach Alter, Geschlecht und Tierart beurteilen können. Steht da nun ein Keiler oder Überläufer, Schmalreh, Ricke oder Bock?
"Durch meine Tätigkeit erlebe ich heute eine Vielfalt von Jägern, die ganzjährig überhaupt keine Möglichkeit haben, zur Jagd zu gehen, die haben nirgendwo die Möglichkeit, kommen aus den Altbundesländern, kommen aus Holland, von Dänemark, Norwegen. Die haben die Möglichkeit, hier zu einer Drückjagd, über das Internet sind die ausgeschrieben, diese Jagden, die kommen nur, um Beute zu machen. Und dann wird geschossen, auf Teufel komm raus, obwohl mal sagt, Rehwild wird nur geschossen, wenn man es denn auch ansprechen kann. Also durch die Waffen, die wir heute haben, wir haben also auch welche mit Magazin, da wissen wir genau, batz, batz, batz, siehst du hinterher schießen und dann machen sie Gulasch."
Dem Wald geht es schlecht
Die Tiere leiden. Und mit ihnen das Ansehen der Jäger:innen. Dabei übernehmen die auch echte Naturschutzaufgaben. Sie schaffen Äsungsflächen für das Wild – das sind kleine, geschützte Wildäcker mit ausgewählten Früchten, Kräutern und Sträuchern. Die sind gerade angesichts intensiver Landwirtschaft wichtig für selten gewordene Vögel, Insekten und Niederwild. Fakt ist: Dem Wald geht’s schlecht. Naturverjüngung wird dringend benötigt. Doch Laubbäume haben es auf dem sandigen Waldboden in Brandenburg schwer. Umso mehr müsse man schützen, was da ist.
"Die Kugel ist das billigste", schimpft Hartmut Otto.
"Die konservativen Jäger fühlen sich als Anwalt des Wildes. Es ist aber so, dass im Ökosystem Wald die Bäume die schwächeren oder die schwächsten sind", kontert Graf von Schwerin.
Die einen Töten, um den Wildbestand zu reduzieren, die anderen, um das Wild zu verwerten. Klimawandel stoppen? Wildtiere waidschutzgerecht jagen? Es stehen ökologische Interessen gegen alte Traditionen. Verantwortung wollen die Brandenburger Jäger:innen alle übernehmen. Sie sehen sich als Naturschützer: Die einen schützen den Wald, die anderen das Wild.
Die Sonne ist gerade untergegangen, als Arno Stranz, nach drei Stunden auf dem Posten, abdrückt. Ein Rehbock. Er bricht einen Kiefernzweig, legt ihn erst auf die Schusswunde, dann ins Maul des Bocks, und klemmt ihn sich schließlich auf die rechte Seite seines Lodenhutes. Waidmannsheil.