Erhard Schüttpelz ist Professor für Medientheorie an der Universität Siegen und Projektleiter im Sonderforschungsbereich "Medien der Kooperation". Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Religionsgeschichte, Medienanthropologie und Weltliteratur. Zuletzt erschien der Blog-Beitrag "Thomas Thiel gärtnert für Siegen / Wartungsarbeiten an einer Freisprechanlage / Verwirrte Leser finden eigene Klarheit" (Merkur, 26. Februar 2019).
Die Goldene Regel und die Meinungsfreiheit
04:07 Minuten
Der Philosoph Dieter Schönecker wurde von Kollegen für die Einladung rechter Politiker zu einem Seminar kritisiert. Er prangert dies als Einschränkung der Meinungsfreiheit an. Zwei Kollegen, Erhard Schüttpelz und Nadine Taha, widersprechen ihm.
An unserer Universität kündigt ein Philosophieprofessor ein Seminar zur Meinungsfreiheit an. Das Programm besteht darin, zwei rechtspopulistische Professoren und zwei rechtsradikale Politiker einzuladen. Niemand an der Universität bestreitet sein Recht zu dieser Einladung. Unser Protest richtet sich gegen die öffentlichen Veranstaltungen der zwei Politiker, die ohne wissenschaftliches Niveau stattfinden. Der Philosoph besteht auf seinem Recht und fühlt sich dennoch als Opfer unserer Proteste. Anschließend hält er uns im Deutschlandfunk Kultur die Goldene Regel entgegen: Bitte behandelt mich so, dass meine Meinungsfreiheit bestehen bleibt, wie Ihr auch hofft, dass Eure Meinungsfreiheit bestehen bleibt, wenn die von mir eingeladenen rechten Politiker einmal in unserem Land das Sagen haben werden. In unseren Ohren klingt das wie eine Drohung.
Andere behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte
Nicht nur deshalb fragen wir uns, ob der Philosoph, mit Namen Dieter Schönecker, die Goldene Regel ganz verstanden hat. Die Goldene Regel kann ja nicht darin bestehen, dass einer sagt: Behandelt mich so, wie ich mich selbst behandeln würde. Die Goldene Regel sagt: Bitte behandle Andere so, wie Du behandelt werden möchtest, wenn Du einer von ihnen wärest. Sagen wir zum Beispiel: eine Frau, Ausländerin, behindert, schwul.
Dies zu beachten haben wir den Philosophen bei einer Veranstaltung im letzten Jahr gebeten. Daraufhin hat er uns als "Feinde der Freiheit" bezeichnet. Denn "Feinde der Freiheit" sind für ihn alle, die sich dagegen aussprechen, Marc Jongen und Thilo Sarrazin an unserer Universität öffentlich sprechen zu lassen. Wie können wir es wagen?
Robust genug für die neuen Verhältnisse?
Stell Dir vor, Du seist eine Frau mit Migrationshintergrund, hast eine christliche Erziehung genossen und bist in einem Land aufgewachsen, das schon lange Zeit Einwanderungsland ist, in dem der Rassismus aber nie ganz verschwunden ist.
Die Universität erscheint Dir als der Ort, an dem sich Gedanken und Persönlichkeiten frei entfalten können. Dann aber lädt ein Professor an Deine Universität den Publizisten ein, der den Rassismus in diesem schönen Land wieder hoffähig gemacht hat und in Deutschland den rechtsradikalen Mythos vom "Bevölkerungsaustausch" mitprägt, den auch der Attentäter von Christchurch aufgesogen hat. Und dazu lädt er noch den Chefideologen einer Partei ein, die vielsagend schweigt, wenn es zum Amoklauf in einer Moschee kommt, und das Wort vom "Bevölkerungsaustausch" in ihr Programm aufgenommen hat.
Nächstenliebe ist auf einmal etwas für Schneeflocken und Du bist für die neuen Verhältnisse nicht robust genug, sagen die Eingeladenen.
Ein Schutzraum für Gedanken und Menschen
Die Universität ist ein Schutzraum, nicht nur für Gedanken, sondern auch für Menschen, und seit dem Mittelalter für Fremde, Migranten, Exilanten jeder Couleur. Innerhalb ihrer Mauern nennt sich niemand Feind oder Feindin, zumindest dann nicht, wenn wissenschaftlich diskutiert wird. Man nennt sich "Kommilitonin", und das heißt "Mitstreiterin", für die Sache der Wissenschaft und ja, der Freiheit. Mit Mitstreitern kann man trefflich streiten, aber man streitet nur deshalb mit allen verfügbaren Argumenten, weil der Streit in aller Freundschaft stattfindet – dafür ist die Universität da. Und die Goldene Regel lautet: "Behandle andere so, wie Du an ihrer Stelle behandelt werden möchtest."
Wer möchte an seiner Universität als Frau oder Mann mit Migrationshintergrund so behandelt werden, dass sich auf einmal Rassisten mit eigenen Plakatständen freuen, einem endlich einmal unter Berufung auf die Meinungsfreiheit sagen zu können, dass Menschen mit Deinem Namen oder mit Deinem Aussehen oder mit Deiner Religion in diesem Land unerwünscht sind?
Wer möchte an seiner Universität als Frau oder Mann mit Migrationshintergrund so behandelt werden, dass sich auf einmal Rassisten mit eigenen Plakatständen freuen, einem endlich einmal unter Berufung auf die Meinungsfreiheit sagen zu können, dass Menschen mit Deinem Namen oder mit Deinem Aussehen oder mit Deiner Religion in diesem Land unerwünscht sind?
Auf diese Konfrontation läuft momentan alles hinaus, wenn die Fremdenfeindlichkeit um sich greift und den Schutzraum der Universität durchlöchert. Die Goldene Regel gilt für alle Menschen. Und an der Universität kann sie hoffentlich auch die Professoren vor der Hybris bewahren, ihre Privilegien für das Einzige zu halten, was zählt.
Nadine Taha ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich "Medien der Kooperation" an der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Science and Technology Studies, Schnittstellen von Medientheorie und Industriegeschichte sowie Praxistheorien. Zuletzt war sie Mitherausgeberin von "Susan Leigh Star: Grenzobjekte und Medienforschung" (Transcript 2017).