Klassik ist nicht zwangsläufig Kunst
Das bürgerliche Publikum in Deutschland stellt klassische Musik noch immer über alles - und spricht anderen Genres den künstlerischen Anspruch ab. Die Journalistin Arlette-Louise Ndakoze hält diese Unterscheidung zwischen ernster und unterhaltsamer Musik für Unfug.
Einbrechende E-Gitarren-Riffs unter dem flink gespielten Thema einer Solo-Gitarre auf dunklen Bassdrums; eine weite, brüchige Stimme, die schreit, als würden ihre Bänder bald auseinanderfallen; ein, zwei, drei Wiederholungen, dann ein anderes Klangmuster, die Stimme wird weicher, lässt Vokale ertönen, die sich erheben über die Instrumente; dann ein Bruch, ruhige Klänge, akustische Gitarren, Luft holen, bevor es wieder enger wird zwischen Gitarren und Drums.
Ich lasse mich treiben mit dem Song "Faiseurs de Mondes" der Band Alcest, eine Band, dessen Genre nicht eindeutig ist: Metal, Post-Rock - manch einer spricht von Shoegazing. Doch eins steht fest: Alcests Musik ist Kunst.
Moment mal - Kunst in der Musik? Ist das nicht jene Rubrik, die für die Klassik reserviert ist? Wie selbstverständlich bedienen Medien und Komponisten immerwährend diskutierte Klischees und Schubladen, setzen "ernste Musik" in den Gegensatz zur "Unterhaltungsmusik", die E- zur U-Musik, die eine Gattung, die zu fördern sei, gegenüber der anderen, die scheinbar weniger wertvoll sei.
Das Bürgertum erhebt seinen persönlichen Geschmack zur Kunst
Und immer ist es die Klassik, die das künstlerische Primat für sich beansprucht. Nicht weil dies vom Genre her gerechtfertigt wäre, sondern weil ein meist älteres und bürgerliches Publikum dies so empfindet. Es erhebt seinen persönlichen Geschmack zur Kunst und reduziert sie gleichzeitig auf ausgefeilte kompositorische Technik.
Eine aufwendige Komposition hat allerdings wenig mit Kunst zu tun. Musik wird dann künstlerisch, wenn sie eine ästhetische Erfahrung herbeiführt, in der Emotionales mit Praktischem und Intellektuellem zusammenkommt. Der Philosoph John Dewey bemerkt hierzu, das Emotionale füge Teile zu einem einmaligen Ganzen zusammen. Das Intellektuelle gebe ihm eine Bedeutung. Und das Praktische schaffe eine Beziehung der Musik zu Vorgängen der realen Welt.
Ästhetik zu erfahren, heißt also, sich durch Musik mit seiner Umgebung verbunden zu fühlen, Emotion entwickeln zu lassen zu etwas, das bedeutungsvoll ist - und das in einer Wechselbeziehung. Die Erfahrung des Musikers zu erkennen, bedeutet umgekehrt, selbst eine zu machen. Und dies setzt wiederum frühere Erfahrungen voraus, die es ermöglichen, im jeweils neuen Stück das Originelle, des Komponisten eigene Sprache zu entdecken.
Entscheidend ist der persönliche Höreindruck
Wenn in Alcests Song die Instrumente zusammenkommen, die Stimme, die E-Gitarre, das Schlagzeug ineinander übergehen und sich wieder lösen, um ein Instrument oder einen Rhythmus atmen zu lassen, kommt dies einem Gespräch zwischen den Instrumenten gleich - ein Gespräch, in das ich mich mit all meinen Sinnen selbst hineinbegebe.
Entscheidend ist der persönliche Höreindruck und nicht das überlieferte Einsortieren in musikalische Kategorien wie "ernst" oder "unterhaltsam". Und nicht nur der Klassikanhänger nimmt Ästhetisches nach seinem persönlichen Geschmack wahr. Ein anderer ist dem Metal und ein dritter dem Soul zugetan. Das macht es zwar schwierig zu urteilen, welche musikalischen Kompositionen jenseits der Genres künstlerisch sind, möglich ist es aber dennoch.
Es bedarf dazu eines unabhängigen Hörens, das sich vom Gewohnten löst, um der Musik in all ihren Formen gerecht zu werden. Doch so weit sind wir zumindest in Deutschland noch nicht gekommen. Noch immer stellen wir die Klassik über alles, sprechen anderen Genres indirekt den künstlerischen Anspruch ab.
Wären wir bereit, uns frei von Vorurteilen der Musik zu widmen, würden nicht nur musikalische, sondern auch gesellschaftliche Schranken fallen, würde ein Klassikfan dem Lebensgefühl des Metal-Genießers näherkommen, würde er den anderen Musikliebhaber als einen Teil von sich selbst, die Klassik mithin als einen Teil des Metals verstehen.
Arlette-Louise Ndakoze, 1983 in Burundi geboren, studierte Frankreichstudien (Philosophie, Literatur und Geschichte) in Berlin und Ruanda und arbeitet derzeit als freie Journalistin für Deutschlandradio und den Berliner Radiosender 88,4.