Streit um EU-Kommissionspräsident

Machtkampf wäre ein "schlechtes Signal"

Guntram Wolff: Direktor der Denkfabrik Bruegel.
Guntram Wolff: Direktor der Denkfabrik Bruegel. © picture alliance / Bruegel / dpa
Moderation: Korbinian Frenzel |
Bei der Nominierung des neuen EU-Kommissionspräsidenten müsse das Votum des Europäischen Parlaments respektiert werden, fordert Guntram Wolff, Direktor der Brüsseler Denkfabrik Bruegel.
Korbinian Frenzel: "Europa wird direkt ins Herz getroffen" – Jürgen Habermas hat sich zu Wort gemeldet, diese starken Worte benutzt, weil er sich Sorgen macht um das Vertrauen der Bürger in die Europäische Union. Das würde schwer beschädigt, sagt Habermas, wenn die Staats- und Regierungschefs das Wahlergebnis der Europawahl am Ende wirklich ignorierten und nicht Jean-Claude Juncker, den Spitzenkandidaten der Christdemokraten, zum Kommissionspräsidenten machten, wenn sie sich stattdessen – und da spricht er was aus, was sehr viele in den letzten Tagen kritisiert haben –, wenn sie sich stattdessen im Hinterzimmer auf einen anderen verständigen würden.
Deutschland und die Kanzlerin bekommen in der Habermas'schen Analyse so richtig ihr Fett weg. Zu Recht, zu Unrecht? Darüber spreche ich jetzt mit Guntram Wolff, dem Chef der Brüsseler Denkfabrik "Bruegel". Einen schönen guten Morgen!
Guntram Wolff: Guten Morgen!
Frenzel: "Wir müssen aufhören, eine hochgefährliche halb-hegemoniale Stellung in alter deutscher Manier rücksichtslos auszuspielen", das sagt Habermas. Herr Wolff, bevor wir über Frau Merkel den Stab brechen oder auch nicht, erst mal vielleicht in der Frage der Analyse: Hat Deutschland diese halb-hegemoniale Stellung und ist sie gefährlich für die EU?
Wolff: Also Deutschland hat sicherlich eine sehr starke Stellung und ist eigentlich die unausgesprochene Führungsmacht sicherlich in den Entscheidungsgremien. Ohne Deutschland geht nur sehr wenig. Allerdings kann ich nicht erkennen, dass diese Macht irgendwie systematisch schlecht genutzt wird, im Gegenteil, ich denke, Deutschland hat die richtigen Impulse und wichtige Impulse für weitere Integration gegeben in den letzten Jahren.
Ich denke, wir müssen noch weitergehen, an einigen Stellen mehr Integration haben, insbesondere müssen wir uns darauf einigen, dass weiter Lasten besser verteilt werden in der EU, Risiken geteilt werden und so weiter. Und da erwarte ich eigentlich, dass wir weiterhin in diese Richtung gehen werden.
"Weil Deutschland einfach wirtschaftlich sehr viel stärker ist"
Frenzel: Die Kritik, wenn ich das richtig verstehe, geht ja nicht so sehr mitunter um die Fragen des "Was" sondern des "Wie", wie also Deutschland, wie die Bundesregierung – auch im Vergleich zu früher, im Vergleich zu Bundesregierungen der alten Bundesrepublik – eben sehr viel machtvoller auftritt in Brüssel. Können Sie diese Kritik teilen, können Sie das nachvollziehen?
Wolff: Ja, also ich meine, es ist schon ... Die Situation ist auf jeden Fall anders geworden, weil Deutschland einfach wirtschaftlich sehr viel stärker ist und der große Partner, nämlich Frankreich, derzeit wirtschaftlich sehr schwach ist. Also ich denke, wir haben vor allem ein Problem gerade auf der französischen Seite, weil Frankreich eben derzeit sowohl wirtschaftlich schwach ist wie auch politisch schwach.
Also ich würde eher sagen, es liegt an den Partnern, dass das Gleichgewicht ein bisschen in der deutsch-französischen Achse aus dem Gleichgewicht gekommen ist, als an Deutschland. Also wir müssen mehr Wachstum, mehr wirtschaftliche Kraft in Frankreich haben, darum geht es letztendlich.
Frenzel: Das heißt, die anderen sind zu schwach, nicht Deutschland zu stark?
Wolff: Ja. Also Frankreich ist in der Tat zu schwach und verschleppt wichtige Reformen. Es wird Zeit, dass Frankreich wirklich ernsthaft Reformen vorantreibt, um dort eine Einigung letztendlich und wirtschaftliche Stärkung hinzukriegen.
"Dann wäre es in der Tat ein schlechtes Signal"
Frenzel: Nun kommt ja der aktuelle Ärger auch über Deutschland, der nicht nur von Habermas formuliert wurde, sondern auch von vielen anderen, ganz aktuell auf, weil sich die Staats- und Regierungschefs so zögerlich zeigen, was die Besetzung der Kommissionsspitze angeht. Ist es aus Ihrer Sicht falsch, dass sie nicht dem Votum des Europaparlaments folgen und Juncker aufs Schild heben?
Wolff: Ja, das Europaparlament hat jetzt erst mal noch gar nicht gewählt. Wir brauchen ein Europaparlament, das wählt und sich erst mal überhaupt für einen Kandidaten klar ausspricht. Ich gehe davon aus, dass, sobald sich das dann formiert, wir tatsächlich eine Mehrheit im Europaparlament haben werden, die sich ausspricht für den Spitzenkandidaten der europäischen Volkspartei, also den Jean-Claude Juncker. Aber bis jetzt ist das nicht geschehen. Aber ich denke, ich gehe davon aus, dass das passiert.
Und dann wäre es in der Tat ein schlechtes Signal, wenn wir dann einen Machtkampf hätten zwischen dem Europäischen Rat, der jemand anderen haben möchte, und dem Parlament, das vielleicht doch dann eher den Juncker haben möchte.
Frenzel: Aber die Staats- und Regierungschefs, sie hatten ja in dieser Woche die Chance, zu sagen: Europaparlament, wir haben euer Votum verstanden – das Votum, das ja darin bestand, dass sie gesagt haben, Jean-Claude Juncker soll eine Mehrheit organisieren, soll versuchen, eine Mehrheit für sich zu bekommen. Die Staats- und Regierungschefs hätten ja sagen können, ja, das sehen wir auch so. Sie haben es nicht gesagt, sie haben gesagt, wir wollen das lieber offen halten.
Wolff: Ja, die Staats- und Regierungschefs haben sich noch nicht für einen Kandidaten ausgesprochen. Sie müssen einen Kandidaten vorschlagen. Sie können sinnvollerweise nur dann einen Kandidaten vorschlagen, wenn sie sicher sind, dass dieser Kandidat auch im Europaparlament gewählt wird. Und derzeit hat das Europaparlament ja noch gar nicht getagt. Also wir haben bis jetzt nur eine Entscheidung der Wähler, die die europäische Volkspartei zur größten Partei gemacht haben. Also insofern ...
"Einer dieser übernächtigten Politiker"
Frenzel: Ja, Sie sagen, nur eine Entscheidung der Wähler, aber genau daran entzündet sich ja die Debatte, dass man sagt, man hat gewählt, man hat das Versprechen der Spitzenkandidaten gehabt. Muss das nicht eingelöst werden, dieses Versprechen, um – und das sagt ja Habermas auch –, um der europäischen Demokratie keinen Schaden zuzufügen?
Wolff: Ja, ich denke, wir sollten das einhalten, wenn es eine Mehrheit im Parlament gibt für den Jean-Claude Juncker. Diese Mehrheit haben wir noch nicht, aber wenn es diese Mehrheit gibt, dann sollten wir in der Tat uns für ihn aussprechen.
Frenzel: Steht denn Jean-Claude Juncker, wenn wir mal diese ganzen Überlegungen Spitzenkandidatur hin oder her zurückstellen, steht er denn eigentlich für das, was Europa gerade braucht?
Ich knüpfe mal wieder bei Habermas an, der hat ja auch ausführlich beschrieben in seinen jüngsten Äußerungen, wie Europa Schaden genommen hat in den letzten Jahren durch diese Nachtsitzungen in fensterlosen Räumen, wo dann übernächtigte Politiker rauskamen, und einer dieser übernächtigten Politiker war ja immer Jean-Claude Juncker, ganz vorne mit, neben Merkel und anderen.
Wolff: Ja.
"Entscheidungen um Mitternacht"
Frenzel: Ist er der Richtige?
Wolff: Ja, sehen Sie, ich glaube, das grundsätzliche Problem ist wirklich unser Entscheidungsfindungssystem derzeit. Die Macht ist immer noch vor allem im Rat und vor allem in den Mitgliedsländern. Das heißt, wenn es um harte Entscheidungen geht, dann gibt es Entscheidungen um Mitternacht, weil eben die verschiedenen Finanzminister jeweils eine Entscheidung fällen müssen, und diese Entscheidung muss dann getragen werden auch natürlich von den nationalen Parlamenten, insbesondere, wenn es um Hilfsgelder geht. Also insofern denke ich, was wirklich sich ändern muss mittelfristig, ist das System.
Wir brauchen ein System, in dem wir einen sogenannten europäischen Finanzminister haben, der eben auch harte Entscheidungen schneller fällen kann und dann auch vernünftig demokratisch legitimiert wird durch ein Europäisches Parlament. In diese Richtung müssen wir gehen. Aber dieses System haben wir eben derzeit nicht. Derzeit haben wir ein System, in dem letztendlich die nationalen Finanzminister, die nationalen Politiker die Entscheidungsgewalt haben.
Frenzel: Herr Wolff, zum Abschluss noch eine Frage: Wenn es Juncker nicht wird, wer wird es denn dann? Man hört so wenig Namen im Moment.
Wolff: Ja, das weiß ich auch nicht. Also man hört verschiedene Namen, aber das werden wir sehen, also das ist eine politische Überraschung und späte Entscheidung in der Nacht.
Frenzel: Wir lassen uns weiter überraschen nach Nachtentscheidungen, leider nicht nach der Europawahl. Guntram Wolff, der Chef der Brüsseler Denkfabrik "Bruegel". Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Wolff: Ja, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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