"Ich will Licht ins Dunkel bringen"
Weil er schreibt, dass die Polen im Zweiten Weltkrieg Tausende Juden umgebracht hätten und weil er seinen Landsleuten in der Flüchtlingskrise Empathielosigkeit vorwirft, soll dem Historiker Jan Tomasz Gross der Verdienstorden aberkannt werden. Doch das ficht ihn nicht an.
1996 wurde dem polnisch-amerikanischen Historiker Jan Tomasz Gross der polnische Verdienstorden verliehen wegen seiner Verdienste um die Verständigung zwischen Polen und anderen Völkern. Jetzt fordern viele, ihm diesen Orden wieder abzuerkennen. Der an der Universität von Princeton lehrende Gross sieht darin vor allem eine Reaktion auf seine Haltung in der Flüchtlingskrise.
Nachdem er in einem Artikel auf die Verpflichtung Polens zur Aufnahme von Flüchtlingen hingewiesen habe, habe er als "Verräter" gegolten, sagt der Historiker. Seit Jahrhunderten hätten Polen massenhaft aus politischen und wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen. "Und nun diese Empathielosigkeit!"
Bisher sei er allerdings nicht offiziell aufgefordert worden, den polnischen Verdienstorden zurückzugeben. "Aber wenn ein Botschafter kommt und den Orden will, gäbe ich ihn zurück. Und wenn ich eine schriftliche Aufforderung dazu kriege, werde ich sie einrahmen und aufhängen."
In Polen umstritten ist Gross auch wegen seiner Thesen zur Nazi-Kollaboration in Polen während des Zweiten Weltkriegs. Zum Beispiel, dass Polen während des Zweiten Weltkriegs mehr polnische Juden als gegnerische Deutsche getötet hätten. So seien 25.000 – 30.000 Deutsche während der deutschen Besatzung Polens umgebracht worden. "Die Zahl der polnischen Juden, die von Polen getötet wurden oder denunziert worden sind, ist um ein Vielfaches höher", betonte der Historiker. "Das tut weh, aber es ist eine Tatsache."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Der Historiker Jan Gross muss möglicherweise den Polnischen Verdienstorden zurückgeben, der ihm vor 20 Jahren für seine Tätigkeit in der polnischen Opposition verliehen wurde. Der 1969 in die USA emigrierte Wissenschaftler löst immer wieder erhitzte Debatten in Polen aus, denn er schreibt über den Antisemitismus und die Kollaboration der Polen während der Nazi-Besatzung, zuletzt in einem Artikel, der in 20 Ländern, hierzulande in der "Welt" erschienen ist. Mit dem amerikanischen Historiker, der derzeit in Israel an einem neuen Buch schreibt, hat Sabine Adler gesprochen.
Sabine Adler: Jan Gross, das polnische Präsidialamt soll rund 2.000 Anträge bekommen haben mit der Aufforderung, Ihnen den Polnischen Verdienstorden abzuerkennen, vermutlich wegen Ihres Artikels, in dem Sie geschrieben haben, dass die Polen im Zweiten Weltkrieg mehr polnische Juden getötet haben als gegnerische Deutsche. Das tut offenbar sehr weh.
Jan Gross: Das tut weh, aber es ist eine Tatsache. Es ist relativ einfach, nachzurechnen, wie viele Deutsche von Polen während der deutschen Besatzung getötet wurden, 25.000 bis 30.000. Die Zahl der polnischen Juden, die von Polen getötet wurden oder denunziert worden sind, ist um ein Vielfaches höher.
Adler: Können Sie Zahlen nennen?
Gross: Man weiß, dass ungefähr zehn bis 20 Prozent der Getto-Insassen geflohen sind. Dann gab es eine Welle, als die lokale Bevölkerung ihre jüdischen Nachbarn umgebracht hat. In Jedwabne und anderen Städten, das waren ebenfalls viele Tausende Juden.
Und in dem sogenannten "dritten Kapitel" des Holocaust, nach der Vernichtung der Gettos, dem Massenmord in den Vernichtungslagern, wo 200.000 bis 250.000 versuchten zu fliehen und sich unter der polnischen Bevölkerung zu verstecken, waren es Polen, die halfen bei der sogenannten "Judenjagd", die häufig von den Deutschen organisiert, aber oft von der polnischen Bevölkerung unterstützt wurde. Nur 40.000 polnische Juden haben überlebt. Es sind viele Zehntausende, die zweifellos von Polen getötet wurden.
Adler: Ihnen soll der Polnische Verdienstorden aberkannt werden. Verstehen Sie das als einen Angriff auf Sie als kritische Stimme?
"Und nun diese Empathielosigkeit!"
Gross: Das ist eine Reaktion auf den Artikel. Darin ging es mir hauptsächlich um die Verpflichtung Polens, Flüchtlinge aufzunehmen. Polen haben seit Jahrhunderten massenhaft aus politischen und wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen. Und nun diese Empathielosigkeit! Danach galt ich als Verräter und so weiter.
Adler: Die neue politische Klasse versucht Polen ein neues Image zu geben. Mehr Patriotismus, mehr Stolz, mehr Vaterlandsliebe. Wird das gelingen?
Gross: Bei solchen Dingen kann man nichts fälschen, zumal in Zeiten von Rede- und Diskussionsfreiheit. Geschichte glorifiziert darzustellen, wird durchschaut werden. Es gab etliche Umfragen seit dem Jahr 2000 zu der Frage, wer im Krieg mehr gelitten hat, die Juden oder die Polen. Die große Mehrheit sagte, die Polen hätten mehr oder genauso gelitten wie die Juden. Dabei sind drei Millionen polnische Juden getötet worden.
Die Bevölkerung weiß das noch immer nicht, und deswegen lösen meine Bücher und Artikel immer wieder eine derartige Hysterie aus. Die Regierung sollte mehr für den Geschichtsunterricht tun, aber ich fürchte, dass sie versuchen, eine eindimensionale, heroische Sicht auf die Geschichte lehren würden, was das Land intellektuell schwächen würde. Es geht in Richtung Autoritarismus.
"Ich will niemanden provozieren"
Adler: Einige Polen scheinen Ihre Bücher als Provokation zu verstehen. Ist für Sie, Herr Gross, die Provokation der effektivste Weg, eine Debatte anzustoßen?
Gross: Ich will niemanden provozieren. Was ich schreibe, gibt der Gegenstand vor. Meine Argumentation begründe ich mit genau geprüften Fakten. Ich will Licht ins Dunkel bringen, wo das noch nicht geschehen ist. Daraus entstehen Debatten, weil im Krieg Heldentum, Brutalität und Kriminalität oft vermischt sind.
Adler: Noch mal zu dem Orden. Haben Sie schon daran gedacht, ihn zurückzugeben?
Gross: Bislang wollte das niemand. Aber wenn ein Botschafter kommt und den Orden will, gebe ich ihn zurück. Und wenn ich eine schriftliche Aufforderung kriege, werde ich sie einrahmen und aufhängen.
von Billerbeck: Der Historiker Jan Gross, um dessen Forschungsergebnisse ein erbitterter Streit in Polen tobt. Sabine Adler hat mit ihm gesprochen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.