"Einen Persilschein auszustellen, ist verfehlt"
Die Einstufung dreier Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer könnte im Bundesrat am Widerstand der Länder mit grüner Beteiligung scheitern. Der Grüne Bundestagsabgeordnete Tom Koenigs kritisiert das Konzept als verfehlt.
Der Menschrechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag kritisiert die Einstufung dreier nordafrikanischer Staaten als sichere Herkunftsländer als verfehltes Konzept. Damit werde Tunesien, Algerien und Marokko suggeriert, bei ihnen sei alles in Ordnung, so Tom Koenigs am Freitag im Deutschlandradio Kultur.
Der Grünen-Politiker forderte stattdessen rechtsstaatliche Verfahren beim Grenzübertritt und Informationen in den Ländern über die Gefahren der Flucht und die Chancen eines Asylantrags. Wenn es keine weiteren Verhandlungen gebe, könne man dem nicht zustimmen, sagte Koenigs mit Blick auf den grünen Regierungschef Kretschmann in Baden-Württemberg. Am kommenden Freitag stimmt der Bundesrat über das vom Bundestag bereits gebilligte Gesetzesvorhaben ab.
Forderung nach schnellen Verfahren
"Wenn man ein Signal setzen will, […] soll man nicht diesen Ländern sagen, bei Euch ist alles in Ordnung! Wie geht man denn da mit den Menschenrechtsverteidigern in diesen Ländern um?"
In allen drei Ländern gebe es politische Verfolgungen, zum Beispiel sei Homosexualität verboten.
"Denen sozusagen einen Persilschein auszustellen, ist verfehlt."
Aus diesen Ländern bekämen schon jetzt sehr wenige einen Schutzstatus. Gebraucht würden stattdessen "schnelle Verfahren und gute Integration".
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Wie sicher sind Algerien, Tunesien und Marokko? Wie sehr können sich die Bürger darauf verlassen, dass ihre Menschen- und Freiheitsrechte dort garantiert sind? Das ist eine faktische Frage, und es ist eine politische – seit Monaten schon. Der Bundestag hat diese Länder zu sogenannten sicheren Herkunftsstaaten erklärt – mit der Mehrheit von Union und SPD –, der Bundesrat muss dem in einer Woche zustimmen, damit es Gesetz werden kann. Eine Mehrheit gibt es dort nur, wenn Länder zustimmen, die auch von den Grünen regiert werden, und da sind die Zweifel groß. Warum? Am Telefon ist Tom Koenigs, der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag. Guten Morgen!
Tom Koenigs: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Sind die drei genannten Länder – Tunesien, Algerien und Marokko – Länder, die ihre Bürger politisch verfolgen?
Koenigs: Es gibt in allen drei Ländern politische Verfolgungen, zum Beispiel von Homosexuellen – Homosexualität ist in allen drei Ländern verboten –, und es gibt auch Verfolgung von Leuten, die politisch andersdenkend sind. Deshalb glaube ich, die als sichere Herkunftsländer, denen sozusagen einen Persilschein auszustellen, ist verfehlt. Ganz abgesehen davon …
Frenzel: Herr Koenigs, es werden aber im Moment nur unter einem Prozent der Asylbewerber aus diesen Ländern anerkannt, und im Moment können Algerier, Tunesier und Marokkaner ja ohne jede Einschränkung hier Asyl beantragen. Das muss doch bedeuten, dass es in den Ländern kaum Verfolgung gibt.
Koenigs: Es beantragen sehr wenige, da haben Sie recht, sehr wenige diese Schutzstatus und haben auch sehr wenige einen solchen Schutzstatus bekommen. Im ersten Quartal diesen Jahres sind das 25, 26 in jedem Land, in Tunesien nur drei. Das heißt, ein Mengenproblem gibt es gar nicht, deshalb ist das Konzept auch verfehlt. Man will ja die Anzahl derer, die hier Schutzstatus beantragen, verringern, das kann man aber dadurch gar nicht machen. Und in der Gesetzesvorlage steht auch, die Vereinfachungsaspekte sind gering – so steht es da wörtlich drin. Das heißt, man macht ein Konzept, das eigentlich gar nicht sinnvoll ist für das, was man braucht, nämlich schnelle Verfahren und gute Integration.
Frenzel: Das ist aber alles ein Konzept, Herr Koenigs, das Ihren grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg in der Frage der Westbalkanstaaten damals offenbar überzeugt hat, er hat nämlich zugestimmt mit Baden-Württemberg.
Koenigs: Nein, das Konzept hat ihn nicht überzeugt, das hat er auch gesagt, sondern es gab ein Paket von Maßnahmen, die auch Verbesserungen für diejenigen, die nun einen Schutzstatus haben, und zwar für alle mit sich brachten. Das war ein Integrationspaket. Und da hat er dann in einer Abwägung das minderwichtige Problem, nämlich das In-Kauf-Nehmen, dass eben dort Herkunftsländer als sicher bezeichnet werden, hat er akzeptiert, um die Verbesserungen für die vielen zur Integration hinzubekommen. In diesem Fall jetzt hat die CDU oder die Regierung überhaupt keine Verbesserungen angeboten, und deshalb hat es keine Verhandlungen gegeben, und ich vermute, man wird dieses Konzept auch ablehnen.
Frenzel: Das heißt, Sie raten Winfried Kretschmann, nein zu sagen im Bundesrat nächste Woche?
Koenigs: Ich glaube, wenn es keine wirklichen Verbesserungen im Verfahren gibt und Verbesserungen für die vielen, die Integration brauchen und Schutz suchen, dann kann man dem nicht zustimmen. Wenn es Verhandlungen gibt, muss man das neu beachten. Ich halte das gesamte Konzept für verfehlt und auch für einen minderwichtigen Fall.
Frenzel: Kann man in diesen Tagen Flüchtlingspolitik machen, ohne sich zum Beispiel in der Hinsicht oder in anderer Hinsicht moralisch schuldig zu machen, Herr Koenigs?
Koenigs: Man macht sich moralisch schuldig, auch wenn man nichts macht. Gegenwärtig geht es drum, schnelle, rechtsstaatlich korrekte und individuelle Asylverfahren zu machen, möglichst am Ort des Grenzübertrittes, das ist die Aufgabe, und da versagt bisher sowohl die europäische Gemeinschaft als auch viele der Einzelstaaten. Daran muss man arbeiten. Das wissen wir allerdings schon seit vielen Jahren.
Frenzel: Ich frage das vor dem Hintergrund, dass die EU, die Sie gerade genannt haben, plant, mit neun Staaten in Nahost und in Afrika ähnliche Deals zu schließen wie auch mit der Türkei. Eines verhindert es ja auf jeden Fall: dass unglaublich viele Menschen im Mittelmeer ertrinken. Kann das falsch sein?
Koenigs: Ich glaube, im Augenblick ist die Situation im Mittelmeer wirklich dramatisch. Man muss in den Herkunftsländern und in den Durchreiseländern alles tun, um zu informieren, darum geht es als Allererstes. Und man muss die Flüchtlinge hier informieren, dass sie denen, die eventuell noch nachkommen, sagen, dass sie hier keinen Schutz finden und die schwierige Reise über das Mittelmeer erst gar nicht antreten. Darum geht es. Man muss Menschen eben retten und Leute vor dieser Gefahr warnen. Das muss man auch in Zusammenarbeit mit diesen Ländern machen, wenn es solch eine Zusammenarbeit gibt. Das ist das Allererste. Wie weit man sich mit diesen Ländern dann einlässt und Verträge macht, das ist eine sehr differenzierte Frage – mit Tunesien kann man das sicher leichter als mit Algerien –, aber das ist eine Frage der Verhandlungen und der Einzelheiten. Es kommt darauf an, ein rechtsstaatliches Verfahren beim Grenzübertritt und eine frühe Information der Flüchtlinge, dass sich die Reise über das Mittelmeer nicht lohnt, sondern lebensgefährlich ist.
Frenzel: Aber Ihre grüne Argumentation, Herr Koenigs, die ist ja dann eigentlich gar nicht so weit weg von der Argumentation derjenigen, die die sicheren Herkunftsländern wollen, denn die sagen ja auch, wir wollen eigentlich ein Signal aussenden: Kommt nicht her, ihr werdet hier keinen Schutz finden. So weit auseinander sind Sie da gar nicht.
Koenigs: Wenn man ein Signal setzen will, dann soll man das Signal setzen, aber man soll nicht diesen Ländern sagen, bei euch ist alles in Ordnung. Wie geht man denn da mit den Menschenrechtsverteidigern in diesen Ländern um, wenn man sagt, bei euch gibt es keine Probleme, es gibt aber Probleme. Nein, man muss die Probleme ansprechen, man muss sagen, diese und diese Defizite gibt es in Ländern wie Algerien, Marokko und Tunesien, und es gibt wenige, die bei uns Schutz finden, das müsst ihr wissen. Aber ansonsten muss man das Verfahren korrekt machen, und zwar sowohl, wenn sie aus dem einen oder aus dem anderen Land kommen, gleich – so steht es auch in der Verfassung: Jeder hat ein Anrecht auf ein korrektes Verfahren.
Frenzel: Das bleibt aber übrigens auch so beim Status sicheres Herkunftsland, jeder hat weiterhin das Anrecht auf ein individuelles Verfahren. Reicht Ihnen das nicht?
Koenigs: Das, was ich kritisiere, ist, dass man den Ländern gegenüber sagt, bei euch ist alles in Ordnung – es ist aber nicht alles in Ordnung. Wenn man ein korrektes Verfahren organisiert, egal wo die Leute herkommen, sind wir zufrieden. Aber das sieht gegenwärtig nicht so aus, sondern der Haupteffekt ist nicht auf das Verfahren, sondern der Haupteffekt ist, dass man den Ländern sagt – und die dann das auch stolz verkünden –, bei euch ist alles in Ordnung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.