Streit um Wulff und sein Amt bei "ProChrist"

Kirsten Dietrich im Gespräch mit Frank Meyer |
Die Vereinigung "ProChrist" sei eine fundamentalistische Bewegung, erklärt die Theologin und Journalistin Kirsten Dietrich. Sie hält es für nötig, dass der für das Bundespräsidentenamt kandidierende Christian Wulff seinen Kuratoriumsposten dort aufgibt.
Frank Meyer: Die Journalistin und Theologin Kirsten Dietrich hat sich mit solchen missionarischen Bewegungen in Deutschland beschäftigt. Sie ist jetzt hier im Studio von Deutschlandradio Kultur. Frau Dietrich, was unternimmt denn "ProChrist" überhaupt in Deutschland für die Verbreitung des christlichen Glaubens?

Kirsten Dietrich: Ja, "ProChrist" ist keine irgendwie fest umrissene Gemeinde, sondern eine Art christlicher Eventmanager. Und darin unternehmen sie es, mehrmals im Jahr oder auch in einzelnen Veranstaltungen, kleineren Veranstaltungen, größere Veranstaltungen, Missionsveranstaltungen für jede Gemeinde, für jeden Bedarf zu organisieren. Am bekanntesten ist alle zwei bis drei Jahre das sogenannte "ProChrist"-Festival. Da finden mehrere Tage hintereinander Großgottesdienste in einer deutschen Stadt statt und werden dann per Video, Satellit übertragen in ganz viele beteiligte Gemeinden. Das sind also ganz perfekt organisierte Gottesdienste mit Rockband, Theater, Prediger. Das muss man sich wirklich so vorstellen wie so amerikanische Erweckungsgottesdienste, wie man sie aus dem Film kennt. Und daher kommt "ProChrist" auch. Das ist, als es vor 20 Jahren gegründet wurde, hatte es als Starprediger immer den amerikanischen Prediger Billy Graham, das ist sozusagen einer der Urväter des amerikanischen Evangelikalismus.

Meyer: Kann man deshalb sagen, damit kommt auch diese evangelikale Erweckungsbewegung nach Deutschland, wenn "ProChrist" dieses Vorbild so nachahmt?

Dietrich: Das ist auf jeden Fall eines der sichtbarsten Sprachrohre dieser Form des Christentums, ja.

Meyer: Jetzt haben wir ja schon mehrfach gehört diesen Verdacht, diese Unterstellung, das ist eine christlich-fundamentalistische Bewegung, "ProChrist". Ist es das denn?

Dietrich: Ja, es ist eine fundamentalistische Bewegung, wenn man den eigentlichen Sinn des Wortes Fundamentalismus nimmt. Das bedeutet ja eigentlich nicht von der Entstehung her den bärtigen Terroristen, den man heute damit assoziiert, sondern Fundamentalisten, die entstanden Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA, als man sich von christlicher Seite aus wehrte gegen Entwicklungen wie zum Beispiel die Darwin'sche Evolutionstheorie oder moderne Bibelkritik. Man fand, dass das die Wahrheiten der Bibel angriff. Und dagegen formulierte man sogenannte Fundamentals, also fundamentale Glaubenswahrheiten, die gelten sollten gegen jede wissenschaftliche Kritik, gegen jede moderne Entwicklung. Und darauf gründen sich christliche Fundamentalisten. Das ist dann in sich eine ganz unglaublich vielfältige und weit gefächerte Bewegung, aber sie lässt sich auf diesen Kern immer wieder zurückführen – also eine möglichst wörtliche Interpretation der Bibel und ein deutlicher Abstand zu allem, was man als Wissenschaft bezeichnen könnte.

Meyer: Und sind das auch die zentralen Glaubenssätze von "ProChrist", also Darwins Evolutionstheorie ist falsch, wörtlich gilt, was in der Bibel steht?

Dietrich: Ja, das sind natürlich jetzt nicht, die haben da keine festen Glaubenssätze, die da irgendwo so auf gebotsähnlichen Tafeln niedergelegt sind, aber "ProChrist" steht für eine Strömung, die – ich würde sie mit dem Fachbegriff der evangelikalen Strömung bezeichnen –, steht für eine Strömung, ein Christentum, die genau nach diesen Grundlagen die Bibel interpretiert und versucht, ihr Leben zu leben.

Meyer: Wie ist das mit dem Missionsanspruch, hat diese Gruppe den Anspruch, alle Nichtgläubigen, auch die Juden und die Muslime zu missionieren?

Dietrich: Na ja, im Prinzip hat das natürlich jede christliche Gruppe, das steht so in der Bibel am Ende des Matthäusevangeliums.

Meyer: Aber es wird ja sehr verschieden praktisch auf die ausübt.

Dietrich: Ja, die evangelische und katholische Kirche in Deutschland versuchen sich da vor einer möglichst wörtlichen Ausführung – inzwischen muss man sagen – möglichst fernzuhalten. Für die evangelikalen Gruppen ist das ein Herzstück ihrer Arbeit natürlich, da scheuen sie auch keine Kosten und Mühen. Also Beispiel ist ja dieses Missionarsehepaar mit drei Kindern, das im Jemen entführt worden ist, wo die Eltern und ein Sohn immer noch verschwunden sind. Die beiden Mädchen sind inzwischen wieder zurück, leben bei den frommen Großeltern. In evangelikalen Medien wird regelmäßig über die berichtet, und die ganze Gemeinde steht nach wie vor hinter der Mission, egal welches Opfer das gekostet hat. Das Gleiche in jüdischen Gemeinden: Da beklagen sich die jüdischen Gemeinden in Deutschland, dass christliche Missionare vor allem unter russischen Spätaussiedlern tätig sind, die aus Russland kommen, wenig verwurzelt sind im jüdischen Glauben und von den Christen dann mit vor allen Dingen auch materiellen Versprechungen, aber auch mit dem Versprechen von Gemeinschaft gelockt werden. Also das ist ein Thema, das sehr, sehr virulent in diesen Gemeinschaften ist, und wo man wenig darauf achtet, was man inzwischen zum Beispiel gelernt hat über das Miteinander von Kulturen oder den Dialog von Religionen.

Meyer: Können Sie sagen, wie groß diese Bewegung eigentlich ist, also "ProChrist", wie viele Menschen gehören da eigentlich dazu?

Dietrich: Na ja, "ProChrist" wie gesagt selber ist ja nur dieser Verein, der diese Missionsveranstaltungen organisiert. Zu diesem evangelikalen Christentum kann man sagen, weltweit schätzt man ungefähr ein Viertel aller Christen und wachsend, in Deutschland ist der Anteil geringer, da schätzt man – die Zahlen sind wirklich sehr, sehr schwer zu bekommen –, man schätzt ungefähr, 1,5 Millionen Christen gehören dazu, wobei das auch wieder ganz vielfältig sind. Die Hälfte davon ist organisiert in irgendwelchen kleinen Freikirchen, die andere Hälfte ist organisiert in der EKD, also in der Evangelischen Kirche Deutschlands und ihren verschiedenen Landeskirchen.

Meyer: Das heißt, die evangelische Landeskirche unterstützt diese Bewegung durchaus?

Dietrich: Inzwischen tut sie es, oder man muss genauer sagen, man hat sich angenähert. In den 70er-, 80er-Jahren, da haben die evangelischen Landeskirchen, die waren politisch, und die Evangelikalen haben gebetet, da hat man wenig sich zu sagen gehabt. Und das hat sich geändert so seit, ja, dem Jahr 2000 ungefähr, seit 2005, 2006 hat man sich aneinander angenähert. Die evangelische Kirche macht sich "ProChrist" auch zu eigen – nicht unbedingt, weil man da jetzt Heerscharen von Menschen missionieren möchte, denn Untersuchungen zeigen, "ProChrist" predigt vor allen Dingen zu den schon Bekehrten, also zu den Menschen, die dieser Bewegung sowieso nahestehen, und stützt die eher, als dass es neue Mitglieder gewinnt. Aber eben um dieses Stützen der etablierten Mitglieder, darum geht es den evangelischen Kirchen, da hat man ein Potenzial erkannt, das man lange Jahre vernachlässigt hat. Und deswegen nähert sich die Evangelische Kirche in Deutschland diesen frommen Christen sehr deutlich in den letzten Jahren wieder an.

Meyer: Würden Sie denn sagen, diese missionarischen Christen, diese evangelikalen Christen von "ProChrist" sind in irgendeiner Weise politisch gefährlich für dieses Land?

Dietrich: Politisch gefährlich würde ich so direkt nicht sagen, denn sie halten sich am Rand des Parteigeschehens. Also ich denke, Tagespolitik gehört da nicht unbedingt zu den Dingen, die im Namen Jesu wichtig, nützlich und richtig zu tun sind. Ich glaube eher, es ist schwierig für Menschen, die in diesen Gruppierungen drin sind und aber nicht direkt ins Raster reinpassen, also natürlich ganz eklatant für Menschen, die zum Beispiel homosexuell sind. Die finden in evangelikalen Gemeinden keinen Ort, die finden niemanden, der sie so akzeptiert, wie sie sind. Die werden konfrontiert mit Beispielen von bekehrten Homosexuellen, von Homosexuellen, die durchs Gebet geheilt wurden und jetzt ein glückliches Familienleben führen. Also da bleibt dann nur, entweder an seinem eigenen Sein zu zerbrechen oder diese Gemeinschaften zu verlassen.

Meyer: Die Gemeinschaft "ProChrist" hat sich ja vielfältige politische Unterstützung organisiert. Also wir sind ausgegangen von Christian Wulff, der da im Kuratorium sitzt, es gibt noch viele andere: Günther Beckstein, der frühere bayrische Ministerpräsident zum Beispiel, Hans-Joachim Vogel von der SPD ist dabei. Haben Sie eine Idee, wie "ProChrist" diese Politiker anlockt, da Unterstützung zu leisten?

Dietrich: Ich glaube, das spiegelt so ein bisschen das ganze Spektrum, was es in diesem frommen Bereich auch gibt. Also da sind ja auch Menschen im Kuratorium wie zum Beispiel Golfprofi Bernhard Langer, der ist wirklich erweckter Christ, das vertritt er auch ganz offensiv und missionarisch. Und dann gibt es andere dabei wie zum Beispiel diese Politiker. Da vermute ich, das ist eine ganz normale Kuratoriumstätigkeit unter vielen. Gerade Beckstein, auch Peter Hahne zum Beispiel, der Journalist ...

Meyer: … der ZDF-Journalist …

Dietrich: ... die sind ja selber auch aktiv in den Leitungsgremien der Evangelischen Kirche in Deutschland. Also da gibt es da Vernetzungen. Ich glaube, das funktioniert eher so über dieses politische Netzwerk der Kirchen.

Meyer: Und was halten Sie persönlich von der Vorstellung, dass der künftige Bundespräsident, womöglich Christian Wulff, Mitglied ist im Kuratorium von "ProChrist", von so einer evangelikalen Bewegung?

Dietrich: Na, ich finde, der Streit um Christian Wulff und "ProChrist" zeigt noch mal sehr deutlich, dass jede Religion immer auch irrationale Elemente hat. Das vergisst man in Deutschland so leicht, weil die Religion, vor allem die christliche Religion bei uns so gut und so glatt funktionierend in Staat und Gesellschaft eingebunden ist. Aber diese Religionen haben irrationale Elemente, und vor allen Dingen vertreten sie eine Eigengesetzlichkeit, die sagt, letztendlich ist Gott die höchste Autorität, die wir haben. Dafür stehen diese Gruppen. Und dafür steht aber meines Erachtens nicht der Bundespräsident – der sollte dafür stehen, dass wir in einem Rechtsstaat leben und dass da die Autorität liegt. Und deswegen finde ich es nicht richtig, ich finde es sogar nötig, dass Christian Wulff von diesem Amt zurücktritt, selbst wenn es für ihn nur wahrscheinlich ein Kuratoriumsposten unter vielen ist.

Meyer: Der Präsidentschaftskandidat Christian Wulff und die evangelikalen Christen bei "ProChrist". Darüber haben wir hier geredet mit der Journalistin und Theologin Kirsten Dietrich. Ich danke Ihnen herzlich!
Christian Wulff
Christian Wulff© AP