Streit ums Judentum

Wer gilt als Jude und wer darf als solcher reden?

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Flackernde Kerzenflammen in einer Menorah.
Der Autor Max Czollek hat "nur" einen jüdischen Großvater. Deshalb sprechen ihm jetzt einige Menschen sein Jüdisch-Sein ab. (Symbolbild) © Pexels / Geraud Pfeiffer
Gedanken von Ofer Waldman · 01.09.2021
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Muss man von einer jüdischen Mutter abstammen, um als jüdische Stimme im Diskurs zu gelten? Darüber streiten gerade die Publizisten Maxim Biller und Max Czollek. In Wirklichkeit gehe es dabei aber um etwas anderes, meint der Journalist Ofer Waldman.
Ein jüdischer Witz aus dem Jahre 1939 geht ungefähr so: Rotkäppchen irrt durch den deutschen Wald, bis sie auf den bösen Wolf trifft. "Wo gehst du hin, liebes Kind?" Fragt der Wolf. "Ich suche nach meiner guten Oma," antwortet Rotkäppchen. "Oh," sagt der Wolf nachdenklich, "heutzutage sucht jeder nach seiner guten Oma."
Die bitter-ironisch gemeinte "gute Oma" des Jahres 1939 soll natürlich nichtjüdischer Herkunft sein, um ihrem Enkelkind, ob Wolf oder Rotkäppchen, Verfolgung, Vertreibung, Mord zu ersparen.

Judentum wird über die mütterliche Linie weitergegeben

Ich musste an diesen Witz denken, als ich neulich las, dass Maxim Biller und andere dem Lyriker und Publizisten Max Czollek das Recht absprechen, öffentlich als Jude aufzutreten. Sie müssen wissen, der Vater von Czolleks Vater war Jude. Damit erfüllt Czollek tatsächlich die religiösen Zugehörigkeitsvoraussetzungen nicht, nach denen nur der Sohn einer jüdischen Mutter als Jude gilt.
Der Vorwurf an Czollek ist nicht unwesentlich. Wer eine Verbindung zur Opfergemeinschaft der Juden in der Shoa vorweist, hat eine besondere Stellung im öffentlichen Diskurs. Dass Czollek sich betont als Jude vorstellt, verleiht seiner Kritik an der deutschen Gesellschaft ein besonderes Gewicht.
Zu dieser Kritik gehört etwa die Aufforderung an die Deutschen, nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch ihre zunehmend nationalistische Gegenwart aufzuarbeiten. Oder das deutsche Integrationskonzept zu verwerfen. Oder der polemische Vorschlag, einen Zentralrat der Deutschen zu gründen, um so endlich die Vielfältigkeit der Gesellschaft hierzulande anzuerkennen.

Rabbiner dürfte Czollek nicht werden

Der böse Wolf redet von der Oma allerdings nicht, weil er sich mit dem jüdischen Kodex auskennt. Eher kennt er sich mit den Nürnberger Rassengesetzen aus. Diesen zufolge war es egal, ob man väterlicher- oder mütterlicherseits jüdisch war: Beides galt als Todesverdikt. Eine Konvertierung zum Christentum half ebenfalls nicht, der Massenvernichtung zu entkommen. Es ging um Rassismus, nicht um Religion.
Diese Kluft zwischen den jüdischen Zugehörigkeitsgesetzen und der Realität, die die Nürnberger Rassengesetzte geschaffen hat, ist ein dramatischer Teil vieler jüdischer Biografien. Darunter auch der Biografie von Max Czollek.
Doch Czollek hat keine Bewerbung für ein Rabbineramt eingereicht, dazu erfüllt er tatsächlich die Grundvoraussetzungen nicht. Von jemand, der zum Judentum konvertiert, erwartet man ja auch keine rückwirkende jüdische Biografie, die in die KZ zurückreicht.

Ein getarnter gesellschaftspolitischer Streit

Czollek hat aber eine solche Biografie: Sein Großvater Walter Czollek war Häftling in Dachau und Buchenwald, wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie die Vorfahren derer, die seinem Enkelkind nun das Recht absprechen, aus seiner jüdisch geprägten Biografie heraus zu argumentieren.
Auf Hebräisch heißt das Märchen übrigens "Rote Kippa". Ein passendes Wortspiel: Man will Czollek nicht diskreditieren, weil er sich als Jude vorstellt, sondern weil er das konservative Weltbild angreift, weil seine Kippa rot ist. Der Streit um die Deutungshoheit, wer Jude ist und wer nicht, was als antisemitisch gilt und was nicht, welche Kritik an Israel zulässig ist und welche nicht – ist ein getarnter gesellschaftspolitischer Streit.
Die Vielfalt nämlich, die es in der deutschen Gesellschaft gibt, und die Czollek immer wieder thematisiert, die gibt es auch – Überraschung! – in der jüdischen Gesellschaft Deutschlands. Und wo es an Argumenten gegen Czolleks Gesellschaftskritik mangelt, wird er auf die Suche nach der guten, diesmal jüdischen Oma geschickt.

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern Divan Orchesters. In Deutschland erwarb er ein Diplom als Orchestermusiker und spielte unter anderem beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. An der Hebräischen Universität Jerusalem machte er anschließend einen Master in Deutschlandstudien. Derzeit promoviert er und beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.

Porträt des Autors und Journalisten Ofer Waldman
© Tal Alon
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