Streitbarer Narziss

Der in Manchester geborene Sänger und Musiker Morrissey wurde in den 1980er-Jahren bekannt mit seiner Band "The Smiths", die noch heute vielen Bands als Vorbild dient. Nach dem Ende der Band machte er Solo-Karriere und genießt unter Fans Kultstatus, wird von der Presse aber wegen seiner scharfzüngigen Texte oft angefeindet.
Als "Pope of the Mope" - "Papst der Trübsal", hat die englische Presse den Rocksänger Morrissey einmal bezeichnet. Eine Beschreibung, der der in Manchester geborene Musiker mit feinfühligen, manchmal weinerlichen oder sarkastischen, aber stets intelligenten Songtexten über die Mühsal der Liebe und des Lebens entsprochen hat. Mehrfach hatte sich der mittlerweile 50-jährige Sänger durch scharfzüngige Kommentare zu politischen und gesellschaftlichen Vorgängen mit der Presse in seinem Heimatland angelegt, die ihn daraufhin des Öfteren mit Nichtbeachtung oder Verrissen seiner Platten abstrafte.

Seine Fans ließen ihn dagegen selten im Stich. Schon als Sänger der Kultband The Smiths wurde dem Sohn einer irisch-katholischen Einwandererfamilie fast bedingungslose Verehrung zuteil. Doch die Band hielt nicht lange. Nach nur fünf Jahren hatte sich der dünnhäutige Narziss Morrissey mit Johnny Marr, seinem musikalischen Partner und Gitarristen der Gruppe, überworfen und The Smiths 1987 kurzerhand aufgelöst. Seitdem veröffentlicht der Künstler seine Platten mit ebenso großem Erfolg unter eigenem Namen.

Der englische Journalist, Autor und TV-Produzent Len Brown hat nun ein Buch über die Karriere von Stephen Patrick Morrissey veröffentlicht, das mehr als nur eine Biografie ist. Brown traf Morrissey in den letzten 25 Jahren fast regelmäßig zu ausführlichen Interviews und langen Gesprächen und konnte sich so ein gutes Bild über die Ansichten und Gedanken des Musikers machen.

Neben diesen großen Interviews, die in Auszügen unverändert abgedruckt wurden, gab es über die Jahre immer wieder regen Gedankenaustausch über Telefon oder Fax. So formte sich das Bild eines äußerst sensiblen, oft schüchternen und dabei dennoch streibaren Beobachters der englischen Gesellschaft, der bis heute kein Fettnäpfchen ausließ und kein kontroverses Thema scheute, um seine Ansichten über ungerechte oder falsche Entwicklungen oder Vorgänge öffentlich zu machen.

Davon gibt es für den kämpferischen Vegetarier und - nach eigener Aussage - zölibatär lebenden Morrissey eine ganze Menge. Ob es um Jugendkriminalität, das englische Königshaus, Politik oder Sexualität geht: Morrissey hat sich in seinen Texten mit diesen und vielen weiteren Themen derart offen, ironisch und provokant auseinandergesetzt, dass er damit meist irgendeine gesellschaftliche Gruppierung gegen sich aufbrachte. Vor allem seine nicht ganz eindeutigen Texte über den täglichen Rassismus in England wurden und werden kontrovers diskutiert und führten bis zum Vorwurf der Parteinahme für die rechtsgerichtete National Front. Brown zitiert etliche dieser Texte, setzt sie in Bezug zu Interviewaussagen Morrisseys und interpretiert sie kritisch.

Ein empfehlenswertes und aufschlussreiches Buch, das durch Browns geistvolle Analyse einen außerordentlich interessantesten Einblick in die Denkweise eines der faszinierendsten Musiker Großbritanniens liefert. Trotz der Nähe und Offenheit, die für Morrissey gegenüber Medienvertretern ungewöhnlich ist, bleibt Len Brown dabei ein jederzeit objektiver und kritischer Beobachter des von ihm Porträtierten.

Len Brown hat für Zeitungen wie The Guardian, The Observer, New Musical Express und viele andere geschrieben und hat für die BBC, ITV und Channel Four etliche Musikerporträts produziert.

Besprochen von Uwe Wohlmacher

Len Brown: Im Gespräch mit Morrissey
Aus dem Englischen von Henning Dedekind und Karin Lembke
Hannibal Verlag Innsbruck
422 Seiten. 29,90 Euro
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