Streitkultur

Gute Sitten versus gutes Recht

Eine Jura-Studentin hält in einer Vorlesung an der Universität Osnabrück (Niedersachsen) eine Ausgabe vom Grundgesetz in der Hand.
Das Grundgesetz garantiert dem Bürger viele Freiheiten - doch gleichzeitig entstehen Rechthaberei und juritische Auseinandersetzungen © Friso Gentsch / dpa
Von Eberhard Straub · 02.05.2016
Vordenker eines liberalen Lebensstils hätten persönliche Freiheit an Respekt vor dem Mitmenschen und Benehmen gebunden, so der Publizist Eberhard Straub. Heutzutage sollte man stattdessen durch das "verordnete" Gesetz Rücksichtnahme erzwingen, meint er.
Jeder hat das Recht, sich öffentlich zum Narren zu machen. Auch das gehört zur Meinungsfreiheit. Nicht jeder verfügt über die Weisheit der Narren Shakespeares. Also wurde früher vieles in der Öffentlichkeit nicht weiter beachtet und hatte keine Folgen.
Wenn um einen Sachverhalt gestritten wurde, sollten Vernunft, Sachkenntnis und Leidenschaft überzeugen, verbunden mit der Rücksicht auf den guten Geschmack und die guten Sitten. Witz und Geistesgegenwart waren als scharfes Gewürz höchst willkommen.

So hatten sich das einst die Liberalen gedacht. Sie kämpften für die Freiheiten. Und zugleich wurde von allen Freien erwartet, sich an ungeschriebene Spielregeln zu halten über das, was man tut oder besser unterlässt.

Anstand hat an Autorität eingebüßt

Dazu gehörte, den passenden Ort und die angemessene Gelegenheit zu wählen, um nicht eine gesellige Runde oder eine anders bestimmte Versammlung empfindlich zu stören. Wer glaubte, einen Streit vom Zaun brechen zu müssen, sollte das gedeihliche Zusammenleben nicht aus dem Auge verlieren.
Das Prinzip, sich aus Anstand freiwillig selbst zu beschränken, hat an Autorität mittlerweile eingebüßt. Gesellschaftliche Gepflogenheiten pflegen ja auch zu erstarren oder ihren Sinn zu verlieren, wenn sie über die Zeit nicht erneuert werden.
So ersetzte man ungeschriebene Regeln durch geschriebene, durch gesetzliche Vorschriften. Doch statt Rücksichtnahme fördern diese erst recht die Rücksichtlosigkeit, weil alles erlaubt scheint, was nicht - oder noch nicht - verboten ist.
Freiheit, vom Grundgesetz garantiert, wird ganz persönlich verstanden als Recht, authentisch leben zu dürfen. Jeder Widerspruch wird gereizt als Eingriff in die uneingeschränkte Selbstherrlichkeit wahrgenommen. Streit, bis hin zur juristischen Auseinandersetzung, sorgt für ständige Spannungen, vom Kindergarten angefangen.

Ein verrechtlichtes Zusammenleben wird immer unfriedlicher

Weil alle gelernt haben, Rechte als Privileg zu nutzen, das auch auf Kosten anderer durchzusetzen ist, entsteht ein verrechtlichtes Zusammenleben, das darüber nicht gedeihlich, sondern immer nur noch unfriedlicher wird, bis selbst weitere Gesetze sich alsbald als hilflos erweisen.
Das war schon um 1835 die Sorge des Liberalen Alexis de Tocqueville. Schließlich sei es unmöglich, alle Verderbtheiten des Menschen vorausplanend mit Rechtsvorschriften abzuwehren. Die Freiheiten, die jeder für sich in Anspruch nimmt, provozieren zunehmend Unfreiheiten, die Gesetzgeber und Gerichte anordnen, um auszugleichen, was der Einzelne mit seinem Eigensinn verdirbt.
Rechtsauslegung mag dem Schriftgelehrten eine Sache der Vernunft sein. Kläger oder Beklagte aber zwingt ein Urteil zum Gehorsam, der zudem die Emotion der Streitenden nur selten kühlt.
Charles Duclos, ein französischer Moralist aus dem 18. Jahrhundert, schwärmte, viele seiner aufgeklärten Zeitgenossen hätten es doch herrlich weit gebracht. Denn durch Gesetze würden nur die Gebräuche barbarischer Völker geprägt.

Gesetze können Geschmack und Sitten nicht ersetzen

Bei zivilisierten Völkern hingegen seien es Geschmack und Sitten, die Gesetze verfeinerten, ja sie gelegentlich überflüssig machten. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass Menschen einmal so geschmacklos würden, auf Gebote des Anstandes und des Geschmackes zu verzichten.
Schmähgedichte mögen juristisch erlaubt sein. Aber Hass und Verachtung, ungezügelt, gar anonym in die Welt gesetzt, helfen nicht bei der mühseligen Aufgabe, es zu lernen, einander zu ertragen. Eher kräftig zuschlagen statt elegant treffen zu wollen, ist eine verderbliche Maxime für nachbarschaftlichen Zusammenhalt.
Humanisten forderten daher immer: Leiste dem Anderen oder dem Nächsten, was Du von ihm als Leistung erwartest. Die Narren Shakespeares hatten dergleichen im Sinne. Solche Narren dürfen vermisst werden in einer Gesellschaft von immer mehr peinlichen Rechthabern und friedlosen Gesellen.

Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u.a.: "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit" und "Zur Tyrannei der Werte".

Eberhard Straub
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