Streitschrift in eigener Sache
Für Leopold von Ranke, den Guru der deutschen Historiographie des 19. Jahrhunderts, war es klar: Die Geschichtsschreibung habe sich in der Tradition der "Artes Liberales" - der liberalen Künste - zu bewegen und gehöre im Grunde zur Rhetorik. Die Werke des, zweifelsohne, schriftstellerisch begabten Ranke wurden seinerzeit allgemein als literarische Gattung betrachtet, und in den Familien des deutschen Bildungsbürgertums pflegte man sich abends daraus vorzulesen.
Ob gesellschaftliche und politische Ereignisse eher als Fakten analysiert und interpretiert oder aber narrativ präsentiert werden sollten, darum rankt sich unter den Vertretern der Historikerzunft international spätestens seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine methodische Grundsatzdiskussion.
"Literarische Erzählung oder kritische Analyse", unter diesem Titel hat der Wiener Picus Verlag in seiner Reihe "Wiener Vorlesungen" einen Essay von Hans-Ulrich Wehler veröffentlicht, der sich auch als Streitschrift in eigener Sache verstehen lässt. Wehler, Jahrgang 1931, gehört zu den Gründervätern der sogenannten Bielefelder Schule. Diese Schule brach mit der bis dahin in Westdeutschland übermächtigen Personen- und Ereignisgeschichte, um sich sozialwissenschaftlichen und psychoanalytischen Fragen zu öffnen. Allerdings wurde den Bielefeldern bald schon Dogmatismus und Theorielastigkeit vorgeworfen. Mehr noch: Weltweit bildete sich Ende der siebziger Jahre eine starke Strömung gegen alle Formen einer vorrangig an Strukturen und Prozessen orientierten analytischen Geschichtswissenschaft. Die Welt müsse, so die Vertreter einer erzählenden Geschichtswissenschaft, als ein einziger Text linguistisch entziffert werden. An die Stelle der Frage nach dem "Warum" solle die Frage nach dem "Wie" treten.
Mit einigen Konkurrenten seiner eigenen "theoriegeleiteten" und u. a. von Max Weber inspirierten Geschichtswissenschaft geht Wehler hart ins Gericht. In dem Franzosen Michel Foucault sieht er einen Aufklärungsfeind, seine Diskurstheorie habe sich für die Geschichtswissenschaft als fruchtlos erwiesen. Die Thesen des US-Amerikaners Hayden White zu einer narrativen, literarischen Geschichtsschreibung findet Wehler schlicht abstrus, da sie einem simplen Relativismus im Umgang mit der historischen Wahrheit in die Hände spielten. Alles in allem werden in diesem Essay indes die Vorzüge und Nachteile erzählender Formen der Historiographie auf der einen und sozialwissenschaftlich geprägter Geschichtsanalyse auf der anderen Seite genau notiert und sorgfältig abgewogen. Dabei zeigt Wehler auch, wie schwer die Trennlinien zwischen kritischer Analyse und literarischer Erzählung mitunter zu ziehen sind. Schließlich hatte einst auch Leopold von Ranke seine Geschichtserzählungen auf wissenschaftlich-empirischer Basis präsentiert.
Rezensiert von Martin Sander
Hans-Ulrich Wehler,
Literarische Erzählung oder kritische Analyse? Ein Duell in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft.
Wiener Vorlesungen, Bd. 131, Picus Verlag, 60 S., 7,90 EUR
"Literarische Erzählung oder kritische Analyse", unter diesem Titel hat der Wiener Picus Verlag in seiner Reihe "Wiener Vorlesungen" einen Essay von Hans-Ulrich Wehler veröffentlicht, der sich auch als Streitschrift in eigener Sache verstehen lässt. Wehler, Jahrgang 1931, gehört zu den Gründervätern der sogenannten Bielefelder Schule. Diese Schule brach mit der bis dahin in Westdeutschland übermächtigen Personen- und Ereignisgeschichte, um sich sozialwissenschaftlichen und psychoanalytischen Fragen zu öffnen. Allerdings wurde den Bielefeldern bald schon Dogmatismus und Theorielastigkeit vorgeworfen. Mehr noch: Weltweit bildete sich Ende der siebziger Jahre eine starke Strömung gegen alle Formen einer vorrangig an Strukturen und Prozessen orientierten analytischen Geschichtswissenschaft. Die Welt müsse, so die Vertreter einer erzählenden Geschichtswissenschaft, als ein einziger Text linguistisch entziffert werden. An die Stelle der Frage nach dem "Warum" solle die Frage nach dem "Wie" treten.
Mit einigen Konkurrenten seiner eigenen "theoriegeleiteten" und u. a. von Max Weber inspirierten Geschichtswissenschaft geht Wehler hart ins Gericht. In dem Franzosen Michel Foucault sieht er einen Aufklärungsfeind, seine Diskurstheorie habe sich für die Geschichtswissenschaft als fruchtlos erwiesen. Die Thesen des US-Amerikaners Hayden White zu einer narrativen, literarischen Geschichtsschreibung findet Wehler schlicht abstrus, da sie einem simplen Relativismus im Umgang mit der historischen Wahrheit in die Hände spielten. Alles in allem werden in diesem Essay indes die Vorzüge und Nachteile erzählender Formen der Historiographie auf der einen und sozialwissenschaftlich geprägter Geschichtsanalyse auf der anderen Seite genau notiert und sorgfältig abgewogen. Dabei zeigt Wehler auch, wie schwer die Trennlinien zwischen kritischer Analyse und literarischer Erzählung mitunter zu ziehen sind. Schließlich hatte einst auch Leopold von Ranke seine Geschichtserzählungen auf wissenschaftlich-empirischer Basis präsentiert.
Rezensiert von Martin Sander
Hans-Ulrich Wehler,
Literarische Erzählung oder kritische Analyse? Ein Duell in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft.
Wiener Vorlesungen, Bd. 131, Picus Verlag, 60 S., 7,90 EUR