Strömende Traumsucht
Der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu ist ein Beschreibungskünstler von weltliterarischem Rang. In den in "Nostalgia" enthaltenen drei Erzählungen geht es um Kindheits- und Jugenderlebnisse in den 60er- und 70er-Jahren. Mit melancholischem Ton greifen sie kühn ins Fantastische aus.
Der 1956 geborene Autor versteht sich darauf, die realistische Beschreibung ins Irreale umkippen zu lassen, dem Irrealen aber durch Detailschärfe den Anschein des Realen zu geben. Nach dem furiosen Einstieg öffnet sich das Buch zum Breitwand-Erinnerungskino der "Nostalgia". Drei umfangreiche Erzählungen widmen sich, ehrgeizig mit Größen wie Proust oder Nabokov wetteifernd und zugleich kühn ins Fantastische ausgreifend, dem Zauber und den Schrecken von Kindheits- und Jugenderlebnissen vor dem Hintergrund der sechziger und siebziger Jahre.
"Mendebilus" erzählt von den Kinderspielen zwischen den unwirtlichen, noch halb in rostzerfressenen Baugerüsten steckenden Wohnblöcken von Bukarest. Mit den gegenseitigen infantilen Gemeinheiten ist es erst einmal vorbei, als der Wunderknabe Mendebilus auftaucht, ein ätherisches und sehr gelehrtes Bürschchen, das versponnene Theorien über die Entstehung der Welt vorträgt. Die Kinder sitzen tagelang gebannt um ihn geschart, und die Eltern wundern sich, "wie sauber unsere baumwollenen Unterhemden neuerdings waren". Traum und Wirklichkeit lassen sich auch in dieser Geschichte kaum scheiden.
Mircea Cartarescu ist ein Beschreibungskünstler von weltliterarischem Rang; auf Dialoge verzichtet er dagegen fast völlig. Zum Schönsten des Buches gehören die Schilderungen von städtischen und dörflich-vorstädtischen Panoramen voller Pracht und Verfall, von Straßen, Plätzen und Landschaften, meist im "rötlich goldenen Licht" der späten Nachmittage oder im "purpurnen Dunst" des frühen Abends: "Nasen und Backenknochen der Giebel-Gorgonen warfen gestochen scharfe Schatten auf ganze Hauswände, die Fenster füllten sich mit Blut, und ein kleines Mädchen im blauen Kleid, das vor den schmiedeeisernen Speeren am Tor ihres Elternhauses stehengeblieben war, rührte alte, sehr alte Erinnerungen auf."
Giorgio de Chirico ist der Maler, der mit solchen Einstellungen immer wieder zitiert wird, an einer Stelle wird das berühmte Bild "Geheimnis und Melancholie einer Straße" exakt nachgezeichnet. Pittura metafisica - das wollen auch die überwiegend auf optische Eindrücke fixierten Beschreibungen Cartarescus sein, und wie bei de Chirico wirkt die im einzelnen scharf konturierte Darstellung im ganzen surreal und kulissenhaft. Vom "Einströmen des Traumes in das wirkliche Leben" hat Gérard de Nerval gesprochen; auch der düstere Romantiker gehört zu den sensiblen Heroen Cartarescus.
Diese strömende Traumsucht, diese ästhetisierenden Fluchten zu "alten Erinnerungen" setzen die Farb- und Trostlosigkeit des Gegenwärtigen voraus. Aber nicht nur an die späte Ceausescu-Diktatur, unter der das erstmals 1989 in von der Zensur gekürzter Fassung erschienene Buch entstand, ist zu denken, sondern auch an das pessimistische Lebensgefühl, das der Exilrumäne Cioran beschrieben hat. Nostalgie, das ist ein "banges Herzstocken angesichts des Ruins aller Dinge".
Etwas problematisch ist die Überfülle des schön und schaurig Geträumten, des Märchenhaften und Visionären in der längsten Erzählung "REM", in der die Ferienzeit bei "Tante Aura" am Stadtrand für ein kleines Mädchen zum Ausflug in eine bizarre Wunder-Welt gerät. Gelegentlich wird es hier des "Purpurnen" und der Melancholie zuviel; es besteht die Gefahr, daß die Erzählung, mit einer Formulierung des Autors, zum "großen Kunstgewerbeladen" für Surreales wird.
"REM" ist zugleich eine Variation auf Borges' berühmte Erzählung vom "Aleph", jenem geheimnisvollen Punkt auf der Kellertreppe eines dilettantischen Poeten, der das simultane Erleben aller Vorgänge des Universums ermöglicht. Das wirkt in der Wiederkehr bei Cartarescu - ebenso wie einige weitere Borges-Anleihen, etwa die Spiegelangst - bisweilen unfrisch. Bestes Borges-Erbe sind allerdings die Eleganz und die Genauigkeit des Stils.
Gerade die phantastische Literatur bedarf, nur scheinbar paradox, der "realistischen" Exaktheit, um nicht in mysteriöse Fabelei abzusinken - die Meisterwerke dieser Disziplin, von Poe über Kubin bis Kafka, machen es deutlich. Cartarescu reiht sich ein in diese große Tradition. Zu rühmen ist die vorzügliche Übersetzung von Gerhardt Csejka. Dank ihrer Geschmeidigkeit bereit "Nostalgia" ein geradezu rauschhaftes Vergnügen.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Mircea Cartarescu: Nostalgia. Erzählungen.
Aus dem Rumänischen übersetzt von Gerhardt Csejka.
Suhrkamp Verlag 2009, 416 S., 24,80 Euro
"Mendebilus" erzählt von den Kinderspielen zwischen den unwirtlichen, noch halb in rostzerfressenen Baugerüsten steckenden Wohnblöcken von Bukarest. Mit den gegenseitigen infantilen Gemeinheiten ist es erst einmal vorbei, als der Wunderknabe Mendebilus auftaucht, ein ätherisches und sehr gelehrtes Bürschchen, das versponnene Theorien über die Entstehung der Welt vorträgt. Die Kinder sitzen tagelang gebannt um ihn geschart, und die Eltern wundern sich, "wie sauber unsere baumwollenen Unterhemden neuerdings waren". Traum und Wirklichkeit lassen sich auch in dieser Geschichte kaum scheiden.
Mircea Cartarescu ist ein Beschreibungskünstler von weltliterarischem Rang; auf Dialoge verzichtet er dagegen fast völlig. Zum Schönsten des Buches gehören die Schilderungen von städtischen und dörflich-vorstädtischen Panoramen voller Pracht und Verfall, von Straßen, Plätzen und Landschaften, meist im "rötlich goldenen Licht" der späten Nachmittage oder im "purpurnen Dunst" des frühen Abends: "Nasen und Backenknochen der Giebel-Gorgonen warfen gestochen scharfe Schatten auf ganze Hauswände, die Fenster füllten sich mit Blut, und ein kleines Mädchen im blauen Kleid, das vor den schmiedeeisernen Speeren am Tor ihres Elternhauses stehengeblieben war, rührte alte, sehr alte Erinnerungen auf."
Giorgio de Chirico ist der Maler, der mit solchen Einstellungen immer wieder zitiert wird, an einer Stelle wird das berühmte Bild "Geheimnis und Melancholie einer Straße" exakt nachgezeichnet. Pittura metafisica - das wollen auch die überwiegend auf optische Eindrücke fixierten Beschreibungen Cartarescus sein, und wie bei de Chirico wirkt die im einzelnen scharf konturierte Darstellung im ganzen surreal und kulissenhaft. Vom "Einströmen des Traumes in das wirkliche Leben" hat Gérard de Nerval gesprochen; auch der düstere Romantiker gehört zu den sensiblen Heroen Cartarescus.
Diese strömende Traumsucht, diese ästhetisierenden Fluchten zu "alten Erinnerungen" setzen die Farb- und Trostlosigkeit des Gegenwärtigen voraus. Aber nicht nur an die späte Ceausescu-Diktatur, unter der das erstmals 1989 in von der Zensur gekürzter Fassung erschienene Buch entstand, ist zu denken, sondern auch an das pessimistische Lebensgefühl, das der Exilrumäne Cioran beschrieben hat. Nostalgie, das ist ein "banges Herzstocken angesichts des Ruins aller Dinge".
Etwas problematisch ist die Überfülle des schön und schaurig Geträumten, des Märchenhaften und Visionären in der längsten Erzählung "REM", in der die Ferienzeit bei "Tante Aura" am Stadtrand für ein kleines Mädchen zum Ausflug in eine bizarre Wunder-Welt gerät. Gelegentlich wird es hier des "Purpurnen" und der Melancholie zuviel; es besteht die Gefahr, daß die Erzählung, mit einer Formulierung des Autors, zum "großen Kunstgewerbeladen" für Surreales wird.
"REM" ist zugleich eine Variation auf Borges' berühmte Erzählung vom "Aleph", jenem geheimnisvollen Punkt auf der Kellertreppe eines dilettantischen Poeten, der das simultane Erleben aller Vorgänge des Universums ermöglicht. Das wirkt in der Wiederkehr bei Cartarescu - ebenso wie einige weitere Borges-Anleihen, etwa die Spiegelangst - bisweilen unfrisch. Bestes Borges-Erbe sind allerdings die Eleganz und die Genauigkeit des Stils.
Gerade die phantastische Literatur bedarf, nur scheinbar paradox, der "realistischen" Exaktheit, um nicht in mysteriöse Fabelei abzusinken - die Meisterwerke dieser Disziplin, von Poe über Kubin bis Kafka, machen es deutlich. Cartarescu reiht sich ein in diese große Tradition. Zu rühmen ist die vorzügliche Übersetzung von Gerhardt Csejka. Dank ihrer Geschmeidigkeit bereit "Nostalgia" ein geradezu rauschhaftes Vergnügen.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Mircea Cartarescu: Nostalgia. Erzählungen.
Aus dem Rumänischen übersetzt von Gerhardt Csejka.
Suhrkamp Verlag 2009, 416 S., 24,80 Euro