Strömung jüdischer Mystik

Von Carten Hueck |
Madonna, die nicht-jüdische Pop-Ikone, hat wie etliche andere Stars des internationalen Showbusiness, die Kabbala entdeckt, jene im Mittelalter entstandene Strömung jüdischer Mystik. "Adler unter den Kabbalisten" wird Isaak Luria genannt, der im 16. Jahrhundert die Kabbala systematisiert und mit seinen Lehren noch einmal entscheidend bereichert hat. Von Gerold Necker ist im Verlag der Weltreligionen nun eine "Einführung in die lurianische Kabbala" erschienen.
Isaak ben Salomo Luria Aschkenasi ist einer der einflussreichsten jüdischen Mystiker. Und Gerold Neckers Einführung in sein Denken ist ein zunächst dankenswertes Unternehmen - denn was weiß der Nicht-Kabbalist schon Verlässliches über Kabbala? Einerseits wird sie als esoterisches Wellnessingredienz konsumiert, andererseits umgibt sie der Schleier einer Geheimlehre.

Aus dem Hebräischen übersetzt, heißt Kabbala: Tradition oder Überlieferung. Von der Thora ausgehend, beschäftigten sich seit der Spätantike jüdische Gelehrte in elitären Zirkeln immer wieder mit Buchstabenmystik und Zahlensymbolik. Sie wollten Gott näher kommen, suchten nach der verborgenen Wahrheit der fünf Bücher Moses. Kabbala ist Ausdruck dieser Strömung jüdischer Mystik..

"Kabbala gilt im doppelten Sinne als Geheimlehre: Zum einen behandelt sie die Grundfragen und tiefsten Geheimnisse des menschlichen Daseins, der himmlischen Welt und der Schöpfung, zum anderen wurde sie innerhalb eines ausgewählten Kreises von Eingeweihten tradiert. Ihren klassischen Ausdruck haben die kabbalistischen Lehren um 1300 im "Buch des Glanzes" (Sefer ha-Zohar, auf deutsch bekannt als "Der Sohar") gefunden, dessen wichtigste Rezeption und letzte innovative Interpretation die Kabbala des Isaac Luria darstellt."

So Gerold Necker in seiner übersichtlich gegliederten Einführung. Auf knapp 250 Seiten stellt er dem Leser die lurianische Kabbala vor. Der wird unvorbereitet allerdings wenig davon haben. Die Rabbinerin Eveline Goodman-Thau weist darauf hin, dass die Beschäftigung mit Kabbala unbedingt eines Lehrers bedarf.

Eveline Goodman-Thau: ""Die Kabbala hat viele Formen. Sie ist eine praktische Kabbala, wo Leute Riten machen. Sie ist eine textuelle, sie ist eine Zahlenlehre, weil natürlich die Buchstaben auch Zahlen sind. Wir sehen, wir haben hier zu tun mit Sprache, wir haben zu tun mit Begegnungen zwischen Mensch und Gott, mit Begegnungen mit dem Text, mit Begegnungen mit andere Traditionen, Begegnungen mit anderen Zugangsweisen. Kabbala heißt, du hast einen Lehrer und der gibt dir das. Du kannst das nicht aus dem Text lernen."

Vor allem aber bedarf es eines menschlichen Reifeprozesses, um Kabbala zu verstehen und anzuwenden. Sie ist weder etwas für Teenies, noch für Eltern, wenn sie mit kleinen Kindern oder Karriereplanung beschäftigt sind.

Eveline Goodman-Thau: ""Darum, bis du 40 Jahre alt bist, darfst du keine Kabbala lernen und nachdem du reif geworden bist und schon alles andere Normale gelernt hast sozusagen, kannst du jetzt den Text auf einer anderen Ebene kennen lernen, kabbalistisch. Aber die wirklichen Geheimnisse haben wir nicht. Weil die sind nicht aufgeschrieben. Die muss man wirklich von einem
Lehrer, der das von seinem Lehrer bekommen hat weiter. Und darum ist es auch eine esoterische Tradition geblieben. Aber ich würde es so beschreiben, dass der Prozess, den man durchmacht, wenn man Kabbala lernt bei einem Lehrer, ist ein fast holistischer Prozess. Es gibt überhaupt keine Zugangsweisen, die du rauslassen kannst. Also deine Vernunft ist hier involviert, deine Spontaneität, deine Vorstellungskraft."

Isaak Luria, 1534 in Jerusalem geboren, wuchs in Kairo auf. Nach jahrelangen mystischen Studien zog er 1569 nach Safed, einer Stadt im Norden Galiläas. Gerold Necker in seiner Einführung in die lurianische Kabbala:

"Die besondere Qualität der spirituellen Atmosphäre in Safed hatte wohl etwas mit der Situation der im Land Israel als Exilierte aus Spanien lebenden sephardischen Juden zu tun, die einerseits im "Gelobten Land" wohnten, andererseits aus der Heimat vertrieben und von ihren kulturellen Wurzeln abgeschnitten waren. Historisch betrachtet wurde die spirituelle Antwort auf das Trauma der Vertreibung hauptsächlich von zwei Faktoren bestimmt,die sich zum ersten Mal in der jüdischen Geschichte gegenseitig so intensiv beeinflussten, dass sie das geistige Leben im Judentum bis zur Aufklärung entscheidend prägten: messianische und mystische Vorstellungen begannen sich zu durchdringen."

Auf dieser Grundlage entwickelt Luria seine Interpretation der Kabbala. Dabei antwortet er auf die Katastrophe der Vertreibung, gibt der Situation des Exils einen Sinn. Im Vordergrund seiner Lehre stehen die Begriffe "zimzum", "shvirat ha-kelim" und "tikkun olam". Gerold Necker führt Tragweite und Bedeutung dieser Begriffe in einzelnen Kapiteln aus. "Zimzum" bezeichnet den Rückzug Gottes, seine Selbstbeschränkung im Schöpfungsprozess, eine Art selbstgewähltes Exil. "Shvirat ha-kelim" bedeutet "Bruch der Gefäße": das Licht der Schöpfung stiftet auch Unordnung, das Scheitern ist der Schöpfung immanent. "Tikkun olam", die "Reparatur der Welt" ist Aufgabe des Menschen, der in dieser Weise direkt am Schöpfungsprozess beteiligt wird. Er ist aufgefordert, durch sein Verhalten an der Erlösung mitzuarbeiten. Diese erscheint bei Luria als Konsequenz der Geschichte, die Katastrophe ist nicht deren Ende, sondern Aufforderung für weiteres, besseres Handeln.

Rabbinerin Goodman-Thau: ""Das Besondere an der lurianischen Kabbala ist, dass man noch mal den soharischen Text nimmt, die ersten Sätze, also diese Lichtmetaphern und dass man dann sagt, was uns jetzt realgeschichtlich passiert ist, ist genau, was passiert ist, als Gott die Welt geschaffen hat. Ja, dass schon am Anfang ist die Welt zerbrochen. Und wir haben versucht jetzt in der Welt das und das zu machen. Aber die Tatsache, dass wir jetzt vertrieben sind aus Spanien und alles zeigt eigentlich, dass wir in derselben Situation sind wie der Ursprung und dass wir eigentlich wieder von neu anfangen müssen. Dass diese Idealwelt, wie Gott sie gewollt hat, nicht diese Welt ist. Und das Wort ist "Tikkun Olam". Die Reparatur der Welt. Das ist die große Herausforderung dieser lurianischen Kabbala. Es ist also eine ethische Herausforderung."

Gerold Neckers "Einführung in die lurianische Kabbala" gibt eine Ahnung von Weite und Tiefe jüdischer Mystik. Religionswissenschaftlern bietet sie einen überschaubaren Einstieg in die Vielfalt des Themas. Dem Laien vermittelt sie allerdings einen leichten Schwindel angesichts der Dimensionen, die sie eröffnet.