Deutschschweizer Wort des Jahres „Strommangellage“
Das Deutschschweizer Wort des Jahres ist "Strommangellage" - für unseren Kritiker ein gutes Beispiel dafür, wie schöpferisch die deutsche Sprache ist. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Der Stechschritt der Komposita
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Das Deutschschweizer Wort des Jahres lautet "Strommangellage". Das sei mal wieder typisch, meint André Hatting in seinem sprachkritischen Kommentar: Wenn das Deutsche neue, lange Wörter bilde, bastele es sich seine Komposita wie im Lego-Baukasten.
War ja wieder klar: hier Angst und Verzagtheit, dort Aktion und Gegenschlag. Während die Deutsch sprechenden Schweizerinnen und Schweizer nur dräuendes Ungemach im Kopf haben und selbigen furchtsam hinter dem Fünfsilber "Strommangellage" einziehen, gehen die frankophonen erhobenen Hauptes in die Offensive: "Boycotter, boykottieren!"
Das heißt: Zur Tat schreiten, sich nix gefallen lassen! "Aux armes, citoyens / Formez vos bataillons". Okay, das ist die Nationalhymne des Nachbarn. Aber der Geist ist der gleiche – und er spiegelt sich in der Sprache wider.
Soll mir jetzt niemand mit Goethe kommen, von wegen Namen seien Schall und Rauch. Im Gegenteil: "Wörter machen Leute". So heißt ja nicht zufällig der Bestseller des kürzlich verstorbenen Wolf Schneider. Und der muss es wissen, der war ja so was wie der Deutschlehrer der Nation.
Land der Spießer und Schisser
Wie nah Sprache und Geisteshaltung einander sind, zeigte das Frühjahr 2020. Das war der erste Höhepunkt der Coronakrise – die Zeit der Hamsterkäufe: In Frankreich werden Wein und Kondome knapp, in Deutschland Desinfektionsmittel und Klopapier.
Der Frankophone denkt an Genuss und Gefühl, getragen von der Leichtigkeit einer melodiös dahingleitenden Sprache. Der Deutschsprecher denkt ans Reinigen und Darmentleeren. Land der Dichter und Denker? Wir sind das Land der Spießer und Schisser! Angetrieben vom erbarmungslosen Stechschritt unserer Komposita.
Die hat übrigens schon der Schriftsteller Mark Twain mit einer Mischung aus Faszination und Grauen betrachtet: Stadtverordnetenversammlungen, Flüssiggaslieferungsabkommen, Strommangellage …
Majestätischer Marsch der Wörter
"Diese Dinger," schreibt Twain 1878, "sind keine Wörter, es sind Buchstabenprozessionen. (...) Man kann jederzeit eine deutsche Zeitung aufschlagen und sie majestätisch quer über die Seite marschieren sehen – und wenn man nur einen Funken Phantasie besitzt, kann man auch die Banner sehen und die Musik hören."
Recht hat er! Wobei, mir kommt da gerade noch ein anderer Gedanke.
Vielleicht findet er die deutsche Sprache insgeheim ja gar nicht schrecklich. Schließlich hat er als Ami sogar versucht, sie zu lernen. Mit eher mäßigem Erfolg. Vielleicht ist Mark Twain in Wahrheit einfach nur neidisch. Auf die ungeheure Produktivität des Deutschen.
Die Sprache als Lego-Baukasten
Denn kaum eine andere Sprache bietet die Möglichkeit, Wörter beliebig aneinanderzustecken wie in einem Lego-Baukasten.
Auf diese Weise entstehen immer wieder verblüffende Neuschöpfungen. Und die können wir dann nach Herzenslust zu ellenlangen Satzgirlanden aneinanderhängen. Der österreichische Autor Thomas Bernhard war ein Meister darin.
In dieser Hinsicht könnten man Deutsch also immerhin auch als Sprache der Ingenieure bezeichnen.
Ja, und was ist mit dem Italienischen? Ehrlich, mich hätte wirklich mal interessiert, was das Wort des Jahres im italienisch sprechenden Teil der Schweiz ist. Vielleicht "Putinversteher". Das heißt auf Italienisch nämlich: "Putinversteher".