Strudel aus Hass und Ignoranz
Sigrid Falkenstein rekonstruiert die Geschichte ihrer Tante Anna, die von den Nazis als "lebensunwert" und "angeboren schwachsinnig" geschmäht wurde, später zwangssterilisiert und dann eingewiesen und vergessen. Ihre Nichte gibt ihr das Leben zurück.
Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch lässt niemanden kalt. Denn es erinnert nicht nur an Anna Lehnkering, die zum Opfer der NS-Euthanasie wurde. Es wirft zugleich eindringlich die Frage auf, wie wir auch heute noch mit Behinderung umgehen.
Anna Lehnkering wird am 2. August 1915 im Ruhrgebiet geboren. Ihre Eltern betreiben eine Gastwirtschaft. Es sind politisch und wirtschaftlich schwierige Zeiten. Der Familie geht nicht gut. Der Vater trinkt und stirbt im Dezember 1921 an Leberzirrhose. Die Mutter schlägt sich von da allein mit ihren drei kleinen Kindern durch, mit Anna und ihren zwei älteren Brüdern.
Als Anna vier Jahre alt ist, bemerken ihre Eltern erste Veränderungen: Sie ist unruhig und weint schnell. Zwei Jahre später bescheinigt dies auch ein Arzt. Er verordnet Lebertran und Ruhe und stellt das Mädchen aufgrund seiner "schwachen Konstitution" ein Jahr von der Einschulung zurück. Als Anna mit sieben Jahren dann doch in die Schule kommt, muss sie schon bald an eine Hilfsschule wechseln. Warum, bleibt unklar.
Genau diese Unklarheit zieht sich wie ein roter Faden durch Annas Krankengeschichte. Nie erfolgt eine genaue Diagnostik. Sie wird von Ärzten und Pflegern als "lästig", "schwierig", "mürrisch" "faul" und "lebensunwert" geschmäht und als "angeboren schwachsinnig" abgestempelt, wie es in einer Krankenakte aus dem Jahr 1931 heißt. Damals ist Anna 16 Jahre alt und zum ersten Mal in einer Klinik. Sie darf diese "Kinderanstalt für seelisch Abnorme" zwar nach einem Jahr wieder verlassen, aber im unmenschlichen System der Nationalsozialisten ist sie bereits registriert: 1935 wird Anna zwangssterilisiert. Ein Jahr später wird sie auf Anraten eines Arztes in die "Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau" eingewiesen. Von dort kehrt Anna nie mehr zurück. Am 7. März 1940 stirbt sie in der Gaskammer der "Vernichtungsanstalt Grafeneck" in Baden-Württemberg, wohin man sie zusammen mit 457 anderen Patientinnen und Patienten deportiert hat.
Aufgeschrieben hat Anna Lehnkerings erschütternde Geschichte ihre Nichte: Sigrid Falkenstein stieß durch einen Zufall auf das Schicksal ihre Tante. Bei einer Recherche im Internet. Niemand hatte ihr von Anna erzählt. Sie war einfach vergessen worden, auch von ihrer Familie. Das Buch liest sich wie eine Abbitte. Jedes Kapitel beginnt als Brief mit der Anrede "Liebe Anna". Da versucht jemand Worte zu finden für etwas, das man nicht erklären kann. Sigrid Falkenstein stellt Fakten gegen Vergessen. Mit unglaublicher Akribie hat sie sich durch Archive gewühlt, Krankenakten gelesen, Ämter zur Mithilfe aufgefordert und eingehend ihre Familie befragt. Nichts bleibt außen vor, auch Historisches nicht, selbst die Namen der Täter werden genannt, und man erfährt viel über die Karriere, die diese Männer auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch machten. Das macht traurig und fassungslos.
Aber viel wichtiger ist: Seite für Seite erhält Anna Lehnkering in gewisser Weise ihr Leben zurück. Sie ist nicht länger anonym und vergessen, sondern sie wird zum Sinnbild für Opfer der NS-Euthanasie - an die die Erinnerung so schwer fällt und deren Schicksal bis heute nicht wirklich aufgearbeitet ist. Auch das macht dieses Buch deutlich.
Und je tiefer man Einblick erhält in diesen Strudel aus Hass und Ignoranz, dem Anna zum Opfer fiel, umso dringlicher pocht die Frage: Wie gehen wir eigentlich heute mit Behinderung um - in einer Zeit, in der es unlängst die Ankündigung von Forschern gab, demnächst bei Schwangeren per Blutbild noch mehr Behinderungen erkennen zu können als heute schon; in einer Zeit, in der 90 Prozent aller Embryonen abgetrieben werden, bei denen Verdacht auf eine Trisomie 23 besteht.
Besprochen von Kim Kindermann
Sigrid Falkenstein / Frank Schneider: Annas Spuren. Ein Opfer der NS-"Euthanasie"
Herbig, München 2012
192 Seiten, 17,99 Euro
Anna Lehnkering wird am 2. August 1915 im Ruhrgebiet geboren. Ihre Eltern betreiben eine Gastwirtschaft. Es sind politisch und wirtschaftlich schwierige Zeiten. Der Familie geht nicht gut. Der Vater trinkt und stirbt im Dezember 1921 an Leberzirrhose. Die Mutter schlägt sich von da allein mit ihren drei kleinen Kindern durch, mit Anna und ihren zwei älteren Brüdern.
Als Anna vier Jahre alt ist, bemerken ihre Eltern erste Veränderungen: Sie ist unruhig und weint schnell. Zwei Jahre später bescheinigt dies auch ein Arzt. Er verordnet Lebertran und Ruhe und stellt das Mädchen aufgrund seiner "schwachen Konstitution" ein Jahr von der Einschulung zurück. Als Anna mit sieben Jahren dann doch in die Schule kommt, muss sie schon bald an eine Hilfsschule wechseln. Warum, bleibt unklar.
Genau diese Unklarheit zieht sich wie ein roter Faden durch Annas Krankengeschichte. Nie erfolgt eine genaue Diagnostik. Sie wird von Ärzten und Pflegern als "lästig", "schwierig", "mürrisch" "faul" und "lebensunwert" geschmäht und als "angeboren schwachsinnig" abgestempelt, wie es in einer Krankenakte aus dem Jahr 1931 heißt. Damals ist Anna 16 Jahre alt und zum ersten Mal in einer Klinik. Sie darf diese "Kinderanstalt für seelisch Abnorme" zwar nach einem Jahr wieder verlassen, aber im unmenschlichen System der Nationalsozialisten ist sie bereits registriert: 1935 wird Anna zwangssterilisiert. Ein Jahr später wird sie auf Anraten eines Arztes in die "Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau" eingewiesen. Von dort kehrt Anna nie mehr zurück. Am 7. März 1940 stirbt sie in der Gaskammer der "Vernichtungsanstalt Grafeneck" in Baden-Württemberg, wohin man sie zusammen mit 457 anderen Patientinnen und Patienten deportiert hat.
Aufgeschrieben hat Anna Lehnkerings erschütternde Geschichte ihre Nichte: Sigrid Falkenstein stieß durch einen Zufall auf das Schicksal ihre Tante. Bei einer Recherche im Internet. Niemand hatte ihr von Anna erzählt. Sie war einfach vergessen worden, auch von ihrer Familie. Das Buch liest sich wie eine Abbitte. Jedes Kapitel beginnt als Brief mit der Anrede "Liebe Anna". Da versucht jemand Worte zu finden für etwas, das man nicht erklären kann. Sigrid Falkenstein stellt Fakten gegen Vergessen. Mit unglaublicher Akribie hat sie sich durch Archive gewühlt, Krankenakten gelesen, Ämter zur Mithilfe aufgefordert und eingehend ihre Familie befragt. Nichts bleibt außen vor, auch Historisches nicht, selbst die Namen der Täter werden genannt, und man erfährt viel über die Karriere, die diese Männer auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch machten. Das macht traurig und fassungslos.
Aber viel wichtiger ist: Seite für Seite erhält Anna Lehnkering in gewisser Weise ihr Leben zurück. Sie ist nicht länger anonym und vergessen, sondern sie wird zum Sinnbild für Opfer der NS-Euthanasie - an die die Erinnerung so schwer fällt und deren Schicksal bis heute nicht wirklich aufgearbeitet ist. Auch das macht dieses Buch deutlich.
Und je tiefer man Einblick erhält in diesen Strudel aus Hass und Ignoranz, dem Anna zum Opfer fiel, umso dringlicher pocht die Frage: Wie gehen wir eigentlich heute mit Behinderung um - in einer Zeit, in der es unlängst die Ankündigung von Forschern gab, demnächst bei Schwangeren per Blutbild noch mehr Behinderungen erkennen zu können als heute schon; in einer Zeit, in der 90 Prozent aller Embryonen abgetrieben werden, bei denen Verdacht auf eine Trisomie 23 besteht.
Besprochen von Kim Kindermann
Sigrid Falkenstein / Frank Schneider: Annas Spuren. Ein Opfer der NS-"Euthanasie"
Herbig, München 2012
192 Seiten, 17,99 Euro