Im Moment der Niederlage, dem Moment, an dem man ganz unten angelangt ist, kann es sein, dass neben all der Frustration, der Plan- und Hilflosigkeit, etwas anderes entsteht: der unbedingte Wille, es wieder nach oben zu schaffen.
Vor einem guten Jahr habe ich Politikerinnen, Unternehmer, Einwohner und Einwohnerinnen Gelsenkirchens zum ersten Mal geschrieben oder angerufen und sie gefragt, ob sie sich begleiten lassen würden.
Ob sie darüber sprechen wollen, wie das ist, in Gelsenkirchen zu leben und für eine bessere Zukunft der Stadt zu kämpfen: Der Stadt, die als die ärmste in Deutschland gilt. Immer wieder ging es in den Folgemonaten um die großen Probleme: die Armut, die Arbeitslosigkeit, die Stigmatisierung der Menschen und ihrer Stadt.
In drei Teilen begleitet die „Zeitfragen“-Serie „Strukturwandel in Gelsenkirchen – Aufstieg. Abstieg. Aufbruch?“ Menschen, die darum kämpfen, dass sich in Gelsenkirchen etwas bessert – für sie ganz persönlich und die Stadt als solche. Wie ist die wirtschaftliche Situation und wie lebt es sich dort? Ganz am Anfang der Recherche stand bei vielen der Zweifel, heißt es im ersten Teil. Wie die Stadt aus der „Vergeblichkeitsfalle“ kommen kann, war ein Thema in Teil zwei.
Und doch richtete sich bei den meisten hier der Blick auch immer nach vorne, sodass sich letztlich neben all der Frustration die Frage in den Mittelpunkt drängte: Wie kann eine bessere Zukunft für Gelsenkirchen aussehen?
Wie kann die Zukunft aussehen?
Im April 2022 steht Karin Welge, die Oberbürgermeisterin Gelsenkirchens, in einer großen Halle und spricht in ein Mikrofon. „Sehr geehrte Regionaldirektoren, meine sehr geehrten Damen und Herren des Lenkungskreis Bergbau, Sie sind eigentlich die Alterfahreneren in dem Thema als ich, trotzdem habe ich heute die Aufgabe, ein Grußwort zu sprechen.“
An der Decke über ihr hängen Hunderte geflochtene Drahtkörbe. In den Kauenkörben bewahrten die Bergmänner, die hier in der Zeche Westerholt bis 2008 arbeiteten, ihre Alltagskleidung auf. Nun, gut 14 Jahre später, stehen hier Männer und Frauen in Geschäftskleidung vor Karin Welge, als diese einige Grußworte an den sogenannten Lenkungskreis zur Bergbauflächenvereinbarung richtet.
Es folgen zwei Stunden Vorträge unterschiedlichster Vertreter und Vertreterinnen aus verschiedenen Städten, die Projekte vorstellen, die gerade in ihren Kommunen realisiert werden. „Beispielhafte Wirtschaftsflächenentwicklung“ nennen sie das.
Oberbürgermeisterin Karin Welge kennt das Projekt schon aus ihrer Zeit als Kämmerin.© Deutschlandradio / Marius Elfering
Auch das Gelände, auf dem der Termin an diesem Tag stattfindet, ist solch ein Vorhaben. Auf der
Projektseite der Neuen Zeche Westerholt spricht man von dem Ziel, „den Zechenstandort als Motor für die Region vielfältig und multifunktional in den Bereichen Arbeit, Bildung, Energie und Wohnen zu qualifizieren.“ Kurzum: Hier wird abgerissen, gebaut, verändert.
Ich bin von Anfang an in dem Prozess, zumindest am Rande, dabei gewesen, nachher etwas intensiver als Kämmerin, als es um die Verträge ging. Und ich sage Ihnen ganz ehrlich: Auch ich bin manchmal in der Situation, so ein bisschen Schnappatmung zu kriegen, zu sagen: Geht das nicht schneller, warum dauert das so lange? Verlieren wir nicht auf der Strecke die Leute?
Karin Welge
Wenn es um die zukünftige Entwicklung Gelsenkirchens geht, lohnt sich ein Blick auf dieses Projekt. Neben Wohnungen und Unternehmensstandorten sollen auf dem Gelände der Zeche Westerholt auch Kunst und Industriekultur ihren Platz finden.
Mit Visionen und Pioniergeist
Der Charme des alten Zechengeländes, eine bessere Anbindung durch eine neue Haltestelle für S-Bahnen – vieles klingt nach Visionen, nach Zukunft. Da die Zeche Westerholt genau auf der Stadtgrenze zwischen Herten und Gelsenkirchen liegt, realisieren die beiden Städte das Projekt gemeinsam.
„Es ist richtig, dass wir Pionier sind, weil wir natürlich von diesem Strukturwandel so maßgeblich betroffen sind, dass er bei uns quasi alle Stadtteile in relativer Gleichwertigkeit irgendwo betrifft“, sagt Karin Welge. „Und weil wir wirklich auch gezeigt haben, dass Industriebrachen keine Industriebrachen bleiben müssen.“
2011 befasste sich das Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung mit der Frage, ob und inwieweit große Leuchtturmprojekte, wie die Planung neuer Stadtquartiere, die langfristige Entwicklung dieser Städte beeinflussen können. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung standen unterschiedliche Fallbeispiele wie der Dresdner Neumarkt oder die Hamburger Hafencity.
Die Erkenntnis: Damit solche Großprojekte den Städten einen positiven Schub geben können, müssen mehrere Grundelemente vorhanden sein: Das Projekt muss eine „authentische Erzählung“ vermitteln. Es soll in eine Geschichte gegossen werden, die im Bestfall auf den eigenen Traditionen und der Historie der Stadt aufbaut.
Der Nutzungsmix ist entscheidend
Außerdem kommt es auf den Nutzungsmix an: Neue oder neu gestaltete Quartiere sollten Platz für Wohnungen, kulturelle Einrichtungen, Büros und Gastronomie bieten. Und zuletzt: funktionale und gestalterische Leuchttürme. Die Menschen identifizieren sich mit einem Erkennungsmerkmal ihres Quartiers. Außerdem kann das zusätzlich Strahlkraft nach außen entwickeln. Ein Beispiel dafür: die Elbphilharmonie in Hamburg.
Doch Projekte wie die Zeche Westerholt, die in eine ähnliche Richtung gehen und sich mit Quartiersentwicklung beschäftigen, werden Gelsenkirchen nicht allein aus der Krise bringen. Es braucht mehr. Zukunftsweisende Projekte, wo es nur geht. Und tatsächlich gibt es in Gelsenkirchen einige Ideen.
Neben Wohnungen und Unternehmen sollen auf dem alten Gelände der Zeche Westerholt auch Kunst und Kultur ihren Platz finden.© Deutschlandradio / Marius Elfering
So setzt man beispielsweise – als einer der wirtschaftlichen Schwerpunkte – auf das Potenzial von Wasserstoff. Das Ziel hierbei ist es, den Stadthafen so umzubauen, dass das gesamte Gebiet mit Hilfe von Wasserstoff klimaneutral wird. Doch als Vorreiter in dem Bereich wahrgenommen zu werden, ist schwierig.
Einige Kilometer entfernt, in Duisburg, ist man schon deutlich weiter. In der Presse ist zum Teil schon von „der neuen Wasserstoff-Hauptstadt“ die Rede. Solche begrifflichen Reduzierungen will Karin Welge aber ohnehin vermeiden.
„Meine Vision ist: Ja, Wasserstoff wird ein Teil der arbeitsmarktpolitischen Arbeitsplatzsicherung sein, der energiewirtschaftlichen Zukunft dieser Stadt sein. Ich halte aber einen Titel ‚Wasserstoffstadt Gelsenkirchen‘ für deutlich zu verkürzt.“
Dass Karin Welge solch ein Label scheut, ist kein Zufall, sondern hat mit einem besonderen Zeitraum in der jüngeren Stadtgeschichte zu tun.
Der frühere Traum von der „Solarstadt“
Rund um die Jahrtausendwende tat sich in Gelsenkirchen plötzlich ein Weg raus aus der Krise auf. In der Stadt hatten sich nach und nach Unternehmen aus der Solarindustrie niedergelassen. Es schien, als könne Gelsenkirchen eine Vorreiterstadt im Bereich der Solarzellenproduktion werden. Plötzlich gab man sich den Beinamen: „Solarstadt Gelsenkirchen.“ Der gelingende Strukturwandel – er schien zum Greifen nah.
Hans-Peter Schmitz-Borchert ist ein groß gewachsener Mann, der für deutliche Worte immer gerne zu haben ist: graue Haare, Lederjacke. Er war viele Jahre lang der Geschäftsführer des Wissenschaftsparks in Gelsenkirchen. Genau auf diesen Wissenschaftspark blickten damals alle, die sich mit der Solarstadt Gelsenkirchen beschäftigten.
Hier führten alle Stränge zusammen, hier bastelte man gemeinsam mit den Unternehmen, der Politik und der Stadtgesellschaft am neuen Image und an der wirtschaftlichen Zukunft.
„Solar Valley im Ruhrgebiet. Wir haben Ende der 90er-Jahre hier die Energie für einen kleinen Preis aus erneuerbaren Energien. So hat man also mindestens noch mal wiederholt den Entwicklungsstrang Industrie mit einem massiven ökonomischen Interesse. Man kann auch sagen: Not“, fasst er die Situation zusammen.
„Wir haben das Interesse der Stadt, vor dem Hintergrund der zusammenbrechenden Schwerindustrie, Textilindustrie et cetera, einen neuen Impuls zu entwickeln. Wir haben gleichzeitig ein Interesse des Landes, auch ihre Städte zu unterstützen, wiederum vor dem Hintergrund der zusammenbrechenden Schwerindustrie. Die anderen, die da drumherum sind, die spielen auf dieses Ziel zu. Und so entstand eben 1994 der Wissenschaftspark für Fotovoltaik.“
Ähnliche Ansätze gab es damals in unterschiedlichen Städten Deutschlands, beispielsweise in Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt. Auch dort setzt man um die Jahrtausendwende auf die groß angelegte Produktion von Solarzellen und ist überzeugt von den wirtschaftlichen Chancen für die Stadt.
Trotz unerfüllter Hoffnungen ein Erfolg
In Gelsenkirchen beginnt man damals, in Superlativen zu denken. Die Solaranlage auf dem Dach des Wissenschaftsparks war einst die größte ihrer Art weltweit.
Wie groß zumindest die politische Euphorie in der Stadt war, das kann man auch heute noch auf der Website der Stadt Gelsenkirchen sehen. Dort findet sich ein Artikel aus dem Jahr 2008 mit dem Titel: „Die Solarstadt Gelsenkirchen wächst.“
Darin wendet sich der ehemalige Bürgermeister Frank Baranowski an die Bürgerinnen und Bürger. Es sind Sätze wie „Eine sonnige Nachricht folgt der nächsten“ oder auch „Ich habe das deutliche Gefühl: Es wird was mit der Solarstadt Gelsenkirchen“, die zeigen, wie optimistisch man damals in der Stadt war.
Doch die Hoffnungen, sie erfüllen sich nicht, die erhofften 10.000 neuen Arbeitsplätze für Gelsenkirchen durch das Projekt „Solarstadt“ werden nie erreicht.
Die massiven Kürzungen bei der Solarförderung lassen damals die Euphorie schwinden. Die schlechter werdende Stimmung und der Preisverfall für die Produktion von Solarmodulen, durch die Konkurrenz in Asien, führen dazu, dass die in der Stadt ansässigen Solarunternehmen nach und nach Insolvenz anmelden. Der Traum von der „Solarstadt“ Gelsenkirchen war Geschichte. Der Beiname verschwand wieder.
Und dennoch glaubt Hans-Peter Schmitz-Borchert nicht, dass alles umsonst war.
Es hat funktioniert. Auf eine Weise, weil wir den Leuten Mut gemacht haben. Wir haben es geschafft, dass von Gelsenkirchen in einem anderen Ton gesprochen wurde. Es wurde nicht mehr nur über Schalke geredet, sondern es wurde über den Wissenschaftspark gesprochen und über Stadtentwicklung und Ansätze, die hier nachgerade auch realisiert wurden. Also insofern ist das ein Erfolg.
Hans-Peter Schmitz-Borchert
Doch wie kann die Wende heute, 2022, gelingen?
„Wir müssen nach vorne schauen“
Einige Monate vor dem letzten Treffen mit Karin Welge sprach ich mit Matteo Große-Kampmann, einem Unternehmer, der sich bewusst dafür entschieden hat, mit seinem Start-up im Bereich der IT-Sicherheit in Gelsenkirchen zu bleiben.
"Wir waren ja mal wer": Diese Haltung kommt für den Unternehmer Matteo Große-Kampmann nicht infrage, er richtet den Blick in die Zukunft.© Marius Elfering
Auch er fragte sich: Wie kann Gelsenkirchen interessanter für die Neuansiedlung von Unternehmen werden?
„Dieses ewige Nach-hinten-Schauen und: ‚Wir waren ja mal wer‘. Das ist so ein bisschen der falsche Weg. Man muss halt schauen: Wie können wir jetzt wieder nach vorne kommen? Das ist, glaube ich, die große Herausforderung hier. Es gibt da viele, die da eben dran arbeiten, dass es so ist“, sagt er.
Jetzt arbeiten wir auch selber in einer Branche, die zumindest tendenziell eher zukunftsgerichtet ist. Ich glaube, das, das ist eben der Weg, dass man sagt: Wir müssen nach vorne schauen, wir müssen hier irgendwie was tun – und das muss dann eben auch entsprechend gefördert werden.
Matteo Große-Kampmann
Es gehe darum, einen Ausgleich unterschiedlichster Branchen und Unternehmen zu finden. Zwischen solchen Ansiedlungen, die vielleicht nicht viele Arbeitsplätze schaffen, aber mit Zukunft, Innovation und Fortschritt verbunden werden. Und Unternehmen, die Arbeitsplätze in großem Stil schaffen, in einer Stadt, in der die Arbeitslosenquote im April 2022 bei 11,4 Prozent liegt.
„Wir brauchen natürlich gut ausgebildete Fachkräfte, aber wir müssen auch schauen, dass wir auch Arbeitsplätze schaffen für nicht-akademisch Ausgebildete“, sagt der Unternehmer.
Einer Studie zufolge, die im Auftrag der KFW-Bank angefertigt wurde, lassen sich die Standortfaktoren, die Städte in Zukunft für die Ansiedlung von Unternehmen attraktiv machen, in fünf Leitlinien zusammenfassen.
Ein verbessertes Image als Ziel
Neben der Aufgabe, genügend Wirtschaftsflächen und eine gute Verkehrsanbindung zu schaffen, müssen die Städte noch weitere Faktoren berücksichtigen, um für Unternehmen interessant zu sein: Der Wohnraum muss bezahlbar und bedarfsgerecht sein. In den meisten Städten fehlt es insbesondere an 2- bis 3-Zimmer-Wohnungen. Soziale Infrastrukturen wie Hausarztpraxen, Schulen und Kindergärten sollten in den Stadtquartieren möglichst attraktiv sein.
Und zuletzt: Eine Stadt, die für kulturelle Vielfalt und Weltoffenheit steht, ist für die Ansiedlung möglicher Arbeitskräfte attraktiver. Es geht hierbei um eines: ein verbessertes Image.
Karin Welge und die anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Lenkungskreises Bergbau laufen eine lange gerade Straße auf dem Außengelände der neuen Zeche Westerholt entlang. Der Fototermin wartet. Bauhelme auf dem Kopf, lächeln, ein Bild, das im Bestfall nach Zukunft und Perspektive aussieht.
Leuchtturmprojekte als Anstoß für mehr
Karin Welge vermeidet es, sich auf einen Wirtschaftsfaktor, auf ein einzelnes Projekt festzulegen, dass die Zukunft der Stadt entscheidend verändern könnte, sei es der Bau eines neuen Bildungscampus, die Neue Zeche Westerholt oder die Wasserstoffwirtschaft. Leuchtturmprojekte seien wichtig, meint sie. Doch das alleine reiche nicht.
„Ich finde, es kann ein Leuchtturm für Gelsenkirchen sein, dass Gelsenkirchen in zehn Jahren gut läuft, zufriedene Bürger hat, für seine Kinder und Jugendlichen gute Arbeitsplätze anbieten kann, ihnen die bestmögliche Bildung gibt und die Leute gute Laune haben. Dass das nicht im Sinne von ‚Wir sind jetzt Wasserstoffstadt‘, ‚wir sind Solarstadt‘, ‚wir sind die Stadt der 1000 Feuer‘ ist, das mag möglicherweise keiner im Kalkül haben“, sagt sie.
Aber es geht mir ja auch nicht darum, die ‚Karin-Welge-Stadt‘ organisieren zu wollen oder in einem Geschichtsbuch mit einem Wasserstoff oder einem anderen Stoff in Verbindung gebracht zu werden, sondern es geht mir am Ende des Tages darum, diese Stadt voranzubringen. Und meine These ist: Ein Stoff alleine wird es nicht sein, aus dem die Träume der Stadt morgen sind.
Karin Welge
Karin Welge redet gerne von „Stabilisierung der Demokratie“, von Gelsenkirchen als „Schmelztiegel der verschiedenen Nationen“, dass man „Pionier“ sein könne auf unterschiedlichsten Ebenen. Doch sind nicht auch das Etiketten und Beinamen, die sie der Stadt gibt? Und braucht es diese nicht vielleicht gerade auch, um im öffentlichen Bewusstsein anders wahrgenommen zu werden?
„Was ist Karlsruhe zum Beispiel? Ich versuche einfach mal, in gleiche Größenordnungen zu kommen“, gibt sie die Frage zurück. „Dass Sie getriggert werden von vielen Leuten draußen, ist mir schon klar. Und dass Sie mich natürlich auch ein bisschen provozieren müssen, verstehe ich ja auch ganz gut. Aber geben Sie mir doch mal zum Beispiel – Karlsruhe.“
Es stimmt: Viele Städte werden nicht mit einem bestimmten Label, einem Slogan, einem Etikett in Verbindung gebracht und fahren gut damit. Was allerdings auch stimmt: Gelsenkirchen wird mit einem Attribut verbunden.
Weg vom Makel der „ärmsten Stadt“
Immer dann, wenn wieder eine neue Studie zum Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland in den Medien auftaucht, heißt es: „Gelsenkirchen, die ärmste Stadt Deutschlands.“ Dieses Label rückt immer wieder in den Mittelpunkt.
Im April 2022 hat die Hans-Böckler-Stiftung abermals eine Einkommensstudie veröffentlicht. Gelsenkirchen lag beim verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen, dieses Mal mit 17.015 Euro, wieder auf dem letzten Platz. Wieder erschienen Berichte, wieder kamen Reporter und Reporterinnen.
„Die Frage lautet: Nervt mich das? Ich will versuchen, doppelt zu antworten: ja und nein. Ja, es nervt mich deswegen, weil es meine Menschen traurig macht. Weil es genau diesen Enttäuschungsmodus produziert und nicht den Motivationsmodus. Das macht mich traurig“, sagt die Oberbürgermeisterin.
Und: „Nein, es macht mich auf der anderen Seite nicht traurig, weil es natürlich ein Teil der objektiven Realität ist. Es müsste eigentlich dazu führen, dass übergeordnete Strukturen sagen: Die Divergenz zwischen Heilbronn und Gelsenkirchen ist eine so immense, dass wir von Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in einem modernen Deutschland 2022 nicht mehr sprechen können.“
Ökonomische Spaltung – ein weiterreichendes Problem
Es ist die Frage danach, ob überhaupt ein gesamtgesellschaftliches Interesse daran besteht, dass es nicht immer wieder heißt: „Die armen Städte werden ärmer. Die reichen Städte werden reicher.“
Das ist die Frage: Was ist ein gesundes Deutschland von morgen? Deswegen bin ich gar nicht jemand, der sagt: Ich zieh jetzt hier so meine Kreise um Gelsenkirchen. Sondern, ich sage: Verpennen wir in Deutschland nicht Zukunftschancen, wenn hier 20.000 junge Menschen sich nicht entwickeln können und es im Grunde genommen, in anderen Städten, 100.000 Menschen scheißegal ist.
Das ist doch etwas, was im höchsten Maße eine demokratische Frage ist. Was brauchen wir denn für ein stabiles Deutschland?
Karin Welge
Ganz im Westen Gelsenkirchens hängt, wie in so vielen Gärten der Stadt, eine Flagge des FC Schalke 04. Zwei Hunde liegen mal in ihrem Körbchen, mal auf dem Rasen. An einem Tisch sitzt Thomas Wesselborg, kurz Thommi, und durchtrennt ein Stück Erdbeerrolle mit einer Gabel. Ein Überbleibsel vom Geburtstag seines Neffen.
Er schiebt mir einen Teller rüber mit der einen Hälfte und setzt sich dann vor seinen Teller mit der anderen. Seitdem er seine Kneipe, die „Destille“, die er hier in der Stadt 36 Jahre lang führte, verkauft hat, bleibt ihm mehr Zeit für sich. Er genießt diese Monate.
Seine Kneipe „Destille“ hat Thomas Wesselborg inzwischen verkauft.© Deutschlandradio / Marius Elfering
Vor ihm auf dem Tisch liegen alte Zeitungsberichte. Sie zeigen das Gelsenkirchen seiner Kindheit, die rauchenden Schlote, eine Stadt in ihrer Hochzeit. Thommi blickt durch den Garten auf das Haus, in dem er lebt und in dem er aufgewachsen ist.
Auch ihn beschäftigt die Zukunft seiner Stadt immer wieder. Wenn er darüber nachdenkt, wie genau eine solche gute Zukunft aussehen soll, dann projiziert er diese Frage zunächst auf sein eigenes Leben in Gelsenkirchen. Er gerät dann ins Schwärmen darüber, was diese Stadt für ihn jetzt schon zu einem lebenswerten Ort macht.
„Ich fühle mich hier zu Hause“
„Gelsenkirchen macht die Menschen aus und die Treffen und die freundschaftliche Verbundenheit und der Zusammenhalt.“, sagt er. „Das ist einfach das, was mir das Gefühl der Heimat gibt auch und wo ich eben weiß, ich kann hier immer wieder ankommen. Ich fühle mich einfach auch sicher hier.“
Die Verbundenheit, all die Gefühle, die seine Heimat in ihm auslösen – sie sind es, die er sich für andere wünscht, wenn er über die Zukunft spricht. „Da würde ich mir halt wünschen, dass auch in zehn Jahren auch die Kinder von heute sagen: Ich fühle mich hier zu Hause.“
Es klingt einfach: Die Menschen sollen sich hier wohlfühlen, sich mit ihrer Stadt identifizieren. Und doch umfasst dieser einfache Wunsch all die komplexen Elemente, die Stadtplanung auszeichnen. Letztlich geht es um Lebensqualität.
Das ist entscheidend: Dass die Leute hier die Möglichkeit haben, in zehn, 20 Jahren die Sachen zu finden, die sie gerne machen wollen, und eine Perspektive. Dass sie wirklich die Möglichkeit hätten, dann hier sich eben auch zu verwirklichen. Das wäre ganz schön.
Thomas Wesselborg
Der Vergleich mit anderen Städten schmerzt
Thommi wünscht sich, wie viele andere Menschen, die ich in der Stadt treffe, einen besseren Austausch zwischen Kommunalpolitik, Wirtschaft und den Bürgerinnen und Bürgern. Eine klare und ehrliche Kommunikation zu Erfolgen und Rückschlägen – manchmal vermisst er diese. Auch von der Stadtspitze.
Er macht etwas, das bei den Niederlagen der vergangenen Jahre naheliegt: Er zieht Vergleiche zu anderen Städten. Das Fußballmuseum? Ging nach Dortmund. Gelsenkirchen als Solarstadt? Erst große Hoffnungen und dann doch kein Erfolg. Wasserstoff? Da sei Duisburg vorne.
Die Stadt, die Menschen, sie würden es versuchen, meint Thommi. Immer und immer wieder. Aus ihm spricht die Sehnsucht. „Irgendwann darf es auch mal gerne positiv enden.“
Gelsenkirchen, eine Stadt in der Dauerkrise, ist zu vielschichtig, um hier den einen Weg zurück nach oben zu skizzieren. Die Dynamik einer Stadt, der Weg in eine bessere Zukunft, diese Dinge sind nicht auf eine einfache Formel zu bringen.
Stimmen zwischen Niederlage und Aufbruch
In Gelsenkirchen treffen, wie in jeder anderen Stadt, Probleme auf Chancen, Niederlagen auf Siege, Desillusionierung auf Hoffnungen und Träume.
Doch eines kann man machen: zuhören. Verstehen wollen, was die Menschen, die sich mit der Zukunft krisengeschüttelter Städte beschäftigen oder selbst von diesen Krisen betroffen sind, beschäftigt. Und anerkennen, dass es in Deutschland Städte gibt, die den Anschluss verlieren und die Aufmerksamkeit brauchen.
Für junge Leute gibt es in dieser Stadt gar nichts. Wirklich null, also es gibt keinen Ort, wo Sie tanzen können, wo sie ausgehen können und wir haben diese Riesenhallen, die echt so eine Atmosphäre haben. Ja, warum macht man nichts?
Franck Eckardt, Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung, Bauhaus-Universität Weimar
Gute Konkurrenz belebt das Geschäft. Ich lade jeden ein, jeden Tag mit mir auch in den kritischen Diskurs zu gehen, um jede Idee für Gelsenkirchen.
Karin Welge
Ich kenne ja sehr viele Jugendliche aus meinem Alter oder mit denen ich befreundet bin, denen es halt auch scheiße geht, aus mehr als einem Grund, ob es jetzt Drogen sind oder familiäre Gründe oder irgendwas mit den Ämtern.
Yuri, ein 18-Jähriger aus Gelsenkirchen
Es sind bestimmt Hunderte Jugendliche in Gelsenkirchen, die total viel auf dem Kasten haben, weil Gelsenkirchen ist ja eine riesen Stadt. Wie viele Tausend Einwohner haben wir?
Stella, eine 21-Jährige aus Gelsenkirchen
Ich glaube, das Entscheidende ist, dass man eine Idee entwickelt und dann fragt: Was kostet es? Was braucht die Stadt Gelsenkirchen, damit sie diese Idee mit einer Zukunftsperspektive realisieren kann?
Carsten Kühl, Leiter des Deutschen Instituts für Urbanistik
Da sind natürlich viele Sachen, die Gelsenkirchen eigentlich wirklich sehr, sehr lebenswert machen und auch für die Zukunft.
Thomas Wesselborg
Ich glaube, Gelsenkirchen ist eine maximal unterschätzte Stadt. Man lebt hier gut.
Hans-Peter Schmitz-Borchert
Schalke ist wieder erstklassig
Der 7. Mai 2022. Schalke steigt auf.
„Und jetzt ist Schluss. Jetzt ist Ende. Jetzt ist aus. Und Schalke 04 ist zurück in der ersten Bundesliga. Schalke ist aufgestiegen und der Rest ist eine blau-weiße Party. Und die ersten Zuschauer laufen auf den Platz. Der FC Schalke 04 schafft es, nach diesem schweren Jahr in der zweiten Liga, zurückzukommen. Zurück in die erste Liga, da wo sie nach dem Selbstverständnis dieses Vereins ja eigentlich hingehören.“
Vor der Arena beginnt ein Mann auf einem Dudelsack zu spielen, eine Menschenmenge beginnt sich vor einem der Eingänge zum Stadion zu versammeln, in der sich gerade die Spieler von den Zuschauern feiern lassen.
Während einige Hundert Fans versuchen, von außen in die Arena zu gelangen und schließlich auch von den Ordnern reingelassen werden, macht sich Thommi auf den Weg nach draußen. Wir haben uns für den Fall des Aufstiegs verabredet. Als er mich sieht, macht er kurzen Prozess. Ein Bier in der einen Hand, die andere Faust nach oben gereckt, läuft er auf mich zu und fällt mir in die Arme.
„Jetzt werde ich auch mal körperlich, also Fußball ist körperlich. Fußball ist Körper. Fußball ist Körpereinsatz“, sagt er. Wie es war? Thommi blickt in die Menge, die an ihm vorbeizieht, die den Verein und sich selbst feiert.
„Wir sind eigentlich wieder wer. Obwohl wir ja sowieso vorher schon auch jemand waren. Aber das Selbstbewusstsein, das du dazu kriegst, ist einfach grandios. Und so viel spielt sich im Kopf ab einfach“, sagt er.
„So viel kann man bewegen und so viel kann man machen. Das war heute einfach nur traumhaft. Mir kommen die Tränen, ehrlich gesagt. Das ist einfach nur emotional.“
Der Aufstieg – Symbol für die ganze Stadt?
Es war eine gute Saison für die Schalker Fans. Doch jetzt wird es Zeit, wieder zurückzukehren in die erste Liga. Und Thommi ist sich sicher: Dort gehört nicht nur der Fußballklub hin, sondern seine Stadt als Ganzes. „Guck mal, da vorne, Schalke 04. Guck dich mal einfach um: Was die Leute empfinden. Wie die Leute kämpfen. Jeder hat seine eigene Geschichte hier, also: Krass, wirklich krass.“
"Wie die Leute kämpfen": Der Aufstieg von Schalke 04 ist Sinnbild für die ganze Stadt Gelsenkirchen.© Deutschlandradio / Marius Elfering
Jeder hat seine eigene Geschichte. Ein Jahr Gelsenkirchen. Ein Jahr Abstieg und Aufstieg, in einer Stadt der Extreme. „Gelsenkirchen, die ärmste Stadt Deutschlands“: Irgendwann wollen sie dieses Label hier hinter sich lassen. Es wird ein langer Weg.
Alleine wird ihn Gelsenkirchen vermutlich nicht schaffen. Der Bund, die Länder, andere Städte – sie alle müssen Städten wie Duisburg, Herne, Halle, Bremen oder eben Gelsenkirchen im Blick haben. Damit es für die einen nicht immer weiter nach oben geht, während die anderen zurückbleiben.
Ob die Wende klappt, das wird die Zeit zeigen. Doch an diesem Abend, als die Menschen feiernd und grölend durch ihre Stadt torkeln, da liegt er ein wenig in der Luft: der Aufbruch.
Autor und Sprecher: Marius Elfering
Regie: Frank Merfort
Technik: Hermann Leppich
Redaktion: Carsten Burtke