Polnisch ab der 1. Klasse
Für Brandenburgs Regionen abseits des Berliner Speckgürtels gelten düstere Bevölkerungsprognosen. Im uckermärkischen Gartz aber haben Verwaltung und Bürger eine Lösung: Viele Neu-Brandenburger kommen hier aus der Nachbarschaft – aus Polen.
Die Ferien sind gerade vorüber. Malgorzata Tarzynska unterrichtet ein Dutzend Fünftklässler im muttersprachlichen Polnisch-Unterricht. Es sind polnische Kinder, die mit ihren Eltern nach Gartz an der Oder gezogen sind. Oder sogar hier geboren wurden.
"Meiner Meinung nach funktioniert es sehr gut, wie ich beobachte, besonders für die Kinder, die hier in Deutschland geboren sind oder sehr früh umgezogen sind, die auch hier zum Kindergarten gegangen sind. Sie sprechen fließend deutsch. Sie beherrschen die Sprache sehr gut und sie sind manchmal sehr gute Schüler."
Die 38-jährige Lehrerin selbst wohnt nicht in Gartz, sondern im polnischen Gryfino, 15 Autominuten entfernt. Seit zwei Jahren ist sie Lehrerin an der Grundschule Gartz. Regulär unterrichtet sie Englisch und Kunst, dazu kommen die muttersprachlichen Stunden für die polnischen Schüler. 212 Kinder besuchen die Grundschule in Gartz, 60 von ihnen sind Polen, deren Familien in Gartz und den umliegenden Dörfern eine neue Heimat gefunden haben.
"Also es funktioniert prima. Die Kinder mögen sich und sie spielen zusammen, und ich finde das sehr toll, dass sie ohne Probleme miteinander umgehen."
Zusätzlicher Deutschunterricht für einige Schüler
Manche Kinder sind schon in Deutschland in den Kindergarten gegangen, viele lernen ihre Muttersprache erst in der Schule. Ein Kind, das in die vierte oder fünfte Klasse kommt und noch gar kein Deutsch spricht, wird besonders auf die Schulzeit vorbereitet, sagt Schulleiterin Birgit Venzke.
"Es muss die Sprache lernen, es muss im Fachunterricht mitarbeiten können, es muss die zweite Fremdsprache, also Englisch, lernen, da stürmt ganz, ganz viel auf die Kinder ein. Aber wir haben in diesem Jahr gottseidank es wieder erreicht, dass wir für diese Kinder, die noch nicht so lange - sprich: noch nicht zwei Jahre - in Deutschland sind, zusätzlichen Deutschunterricht von uns aus anbieten können. Also wir haben vom Schulamt da einen Pool bekommen, so dass wir diese Kinder besser auf die Lebenswelt vorbereiten können."
Seit 1990 verliert die ostdeutsche Provinz kontinuierlich Einwohner. Die Gartzer haben erkannt, dass sie, hoch oben im Nordosten, vom Großraum Berlin nicht profitieren können.
"Und wir haben eben gesehen, dass wir eben nur die Chance haben, uns umzudrehen und auf Stettin zu schauen und davon zu profitieren", sagt Amtsdirektor Frank Gotzmann.
"Die Bevölkerungsprognosen für den äußeren Verflechtungsraum von Brandenburg, gerade hier im Nordosten von Brandenburg, sagen ja, dass wir 33 bis 50 Prozent in den nächsten Jahren, bis 2030, verlieren sollen. Und das wollten wir so für uns nicht akzeptieren und haben eben geschaut: Was können wir machen. Und da lag es eben auf der Hand. Wir haben gesehen: Wir haben ne Großstadt vor der Tür …"
"Und wir haben eben gesehen, dass wir eben nur die Chance haben, uns umzudrehen und auf Stettin zu schauen und davon zu profitieren", sagt Amtsdirektor Frank Gotzmann.
"Die Bevölkerungsprognosen für den äußeren Verflechtungsraum von Brandenburg, gerade hier im Nordosten von Brandenburg, sagen ja, dass wir 33 bis 50 Prozent in den nächsten Jahren, bis 2030, verlieren sollen. Und das wollten wir so für uns nicht akzeptieren und haben eben geschaut: Was können wir machen. Und da lag es eben auf der Hand. Wir haben gesehen: Wir haben ne Großstadt vor der Tür …"
Und da haben die Gartzer "serdecznie witamy" gesagt, "Herzlich willkommen!" Mittlerweile gibt es Ortsfeuerwehren, die ohne die polnischen Neubürger nicht mehr einsatzfähig wären und es gibt Fußballclubs, die keine elf Mann mehr auf den Platz brächten.
Nun aber haben sich die Schülerzahlen an den drei Grundschulen des Amtsbezirks verdoppelt, berichtet Gotzmann: "Also alle drei Grundschulorte können sich nur deshalb halten, weil wir eben wieder mehr Kinder haben. Wir haben Kinder polnischer Neubürger, wir haben aber auch wieder mehr Kinder von deutschen Familien. Also wir erleben gerade auch den Trend zum Zweit- und Drittkind. Scherzhaft haben wir immer gesagt, dass Schwangerschaften ansteckend sind. Man sieht das schon so in den Dörfern, wenn da ein, zwei schwanger sind, dann wird die dritte, vierte auch ganz schnell schwanger."
Nun aber haben sich die Schülerzahlen an den drei Grundschulen des Amtsbezirks verdoppelt, berichtet Gotzmann: "Also alle drei Grundschulorte können sich nur deshalb halten, weil wir eben wieder mehr Kinder haben. Wir haben Kinder polnischer Neubürger, wir haben aber auch wieder mehr Kinder von deutschen Familien. Also wir erleben gerade auch den Trend zum Zweit- und Drittkind. Scherzhaft haben wir immer gesagt, dass Schwangerschaften ansteckend sind. Man sieht das schon so in den Dörfern, wenn da ein, zwei schwanger sind, dann wird die dritte, vierte auch ganz schnell schwanger."
Viele kommen zurück
Und es kommen auch viele von denen zurück nach Gartz, die in den Jahren nach der Wende abgewandert sind. Und sie finden in Gartz eine Infrastruktur vor, die es ohne die Polen nicht gäbe:
"Ja ja, also das bedingt sich natürlich: Wir sind froh, dass wir wieder die Kindergärten und die Schulen voll haben. Das bedingt natürlich auch den Schülerbusverkehr, und das wird natürlich dann auch wieder attraktiver für Ärzte, sich hier anzusiedeln."
Knapp 7.000 Menschen wohnen im Amtsbezirk, zweieinhalbtausend davon in der Stadt Gartz, deren mittelalterliche Stadtmauer und das imposante Stettiner Tor noch erhalten sind. In einem der alten Ackerbürgerhäuser aus vergangenen Jahrhunderten befindet sich seit einigen Jahren wieder ein Blumenladen. Den es hier lange nicht gab. Es sind polnische Neubürger, die ihn betreiben:
"Also der größte Teil der polnischen Neubürger sind - was wir in Deutschland als Mittelschicht bezeichnen würden - Lehrer, Zahnärzte, Polizisten oder Feuerwehrmänner, die in Polen weiterhin ihren Arbeitsplatz haben. Und auf deutscher Seite ist es oft so, dass die Leute sich dann selbstständig machen. Wir haben einen Blumenladen, wir haben jetzt wieder einen Mittagsimbiss, wir haben 'ne Autowerkstatt, wo junge polnische Familien sozusagen hier 'ne Existenz aufbauen. Und das belebt natürlich die Dörfer ungemein."
Die Friseurin im Salon "Oder so" heißt Barbara Werner. Barbara Werner ist Polin, obwohl ihr Name sehr deutsch klingt, genau wie ihr brandenburgischer Akzent. Denn sie war eine der ersten Polinnen in Gartz. Eine Pionierin: "Also 1998, wo ich hier nach Gartz gekommen bin … also ich glaube, ich war die zweite polnische Frau hier. Waren keine Polen hier."
Die Bodenpreise sind auf deutscher Seite günstiger
Sie hatte vorher in Berlin gewohnt, kam der Liebe wegen. Ihr Sohn ist hier geboren und geht in die Schule in Gartz. Polnisch spricht er nicht, der muttersprachliche Unterricht ist freiwillig. Er hat ihn verweigert, sagt Barbara Werner, die gerade eine Kundin empfängt.
"Ich habe ganz viele Freunde, heute. Also es ist meine Heimat auch hier. Ich würde niemals von hier weg sein können. Ich bin auch sehr aktiv hier, ich arbeite auch hier, ich hab ganz viele Freunde, mein Kind spielt Fußball - hier, diese ganzen Fußballvereine, das ist mein Ein und Alles."
Die offenen Arme der Gartzer und die Nähe zur Heimat sind das eine. Es gibt einen weiteren Grund für den Zuzug der polnischen Neubürger: Die Bodenpreise sind diesseits erheblich günstiger als jenseits der Oder.
Amtsdirektor Gotzmann: "Zwischen Gartz und Stettin liegen 20 Kilometer. Die zehn Kilometer auf deutscher Seite liegen zwischen drei, vier und zehn Euro, maximal zehn Euro für 'ne dörfliche Lage, und auf polnischer Seite fangen wir bei 75 Euro an für nichterschlossenes Bauland. Da können Sie sich sozusagen ein Stückchen Acker kaufen, und müssen sehen, wenn sie da ein Haus bauen wollen, dass Sie da Strom und Wasser irgendwie hinkriegen."
Amtsdirektor Gotzmann: "Zwischen Gartz und Stettin liegen 20 Kilometer. Die zehn Kilometer auf deutscher Seite liegen zwischen drei, vier und zehn Euro, maximal zehn Euro für 'ne dörfliche Lage, und auf polnischer Seite fangen wir bei 75 Euro an für nichterschlossenes Bauland. Da können Sie sich sozusagen ein Stückchen Acker kaufen, und müssen sehen, wenn sie da ein Haus bauen wollen, dass Sie da Strom und Wasser irgendwie hinkriegen."
Zwölf bis 14 Prozent der Einwohner sind polnische Neubürgerm, schätzt Amtsdirektor Gotzmann. Gartz hat den Trend zur Verödung gestoppt: Seit 2011 ist das Bevölkerungssaldo stabil, zuletzt stiegen die Einwohnerzahlen sogar leicht. Zum Wohl auch der Gemeindefinanzen.
"Die Schlüsselzuweisungen des Landes sind in den letzten Jahren etwas erhöht worden. Und dann kommt hinzu, dass die Bevölkerung insgesamt etwas gesunken ist, wir aber einen leichten Anstieg haben, so dass wir 'ne höhere Veredelung sozusagen pro Kopf haben. Und dadurch geht es uns in den letzten Jahren sehr gut. Auch den Gemeindefinanzen geht es sehr gut."
Nach UN-Kriterien ist die Uckermark "unbesiedeltes Land"
Und der Wohnraum in Gartz wird langsam knapp, auch das ist ungewöhnlich für die Uckermark, die nach Kriterien der Vereinten Nationen als "unbesiedeltes Land" gilt. Doch die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Gartz hat gut zu tun. Zwei der drei Büromitarbeiter sind Polen. Eleonora Szulc ist eine von ihnen. Sie wohnt in der Nachbargemeinde Tantow, ihre Kinder gehen in die Gartzer Grundschule:
"Früher habe ich in Stettin gewohnt, und seit 2011, seit fast sechs Jahren, wohne ich hier in Tantow. Ich wollte, dass meine Kinder sehr gut Deutsch können. Und deshalb bin ich hier. Das alles funktioniert sehr gut. Und ich finde die Schule mit deutscher Sprache und polnischer Sprache auch sehr toll."
Für ihren Chef Karol Siwiec ist es eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Er hat im Rahmen eines deutsch-polnischen Projektes 2001 sein Abitur in Gartz gemacht. Seit zwei Jahren ist er Geschäftsführer der Wohnungsbaugesellschaft und hat vor allem mit polnischen Kunden zu tun:
"Das Klientel ist sehr unterschiedlich. Ich kann Ihnen sagen: Der Neu-Zuzug ist grob gerechnet 70-80 Prozent der polnische Teil."
Viele Polen, die mit ihren Familien hier leben, pendeln zur Arbeit ins nahe Polen. Manchmal ist der Umzug nach Deutschland aber nur der erste Schritt, sagt Karol Siwiec, der selbst im polnischen Stargard wohnt.
Viele Polen, die mit ihren Familien hier leben, pendeln zur Arbeit ins nahe Polen. Manchmal ist der Umzug nach Deutschland aber nur der erste Schritt, sagt Karol Siwiec, der selbst im polnischen Stargard wohnt.
"Da gibt es beispielsweise in Tantow den neuesten Zuzug: Sie hatten ihre Arbeitsplätze in Polen, in Stettin, sind hier 'rüber gezogen, und allmählich sehe ich: Die haben sich eine Arbeit in Deutschland gesucht", sagt Karol Siwiec.
Ganz anders ist das Bild in Löcknitz
Alle reden über Integration - und die Gartzer machen es einfach. Das alles passiert ziemlich geräuschlos. Von der Polenfeindlichkeit, die man der Grenzregion an Oder und Neiße nachsagt, ist nichts zu spüren - anders als zum Beispiel im 30 Kilometer entfernten Löcknitz, in Mecklenburg-Vorpommern. Dort wohnen ähnlich viele Polen, aber es wurden Scheiben polnischer Autos eingeworfen, die NPD macht massiv Stimmung mit Parolen wie "Löcknitz bleibt Deutsch" und erhielt damit Wahlergebnisse von 20 Prozent.
"Also unsere Eltern gehen total offen miteinander um, deutsche und polnische, und die deutschen Eltern sind jetzt schon so weit, dass sie sagen: 'Also wir wollen, dass unsere Kinder auch Polnisch lernen können, wenn sie das möchten'", sagt Schulleiterin Birgit Venzke.
Gesagt, getan, aus der Idee wurde ein Pilotprojekt. Wenn alles gut geht, wird dort ab dem nächsten Schuljahr regulärer Polnisch-Unterricht angeboten. Für alle Kinder und ab der ersten Klasse. Und weil "Polnisch ab der 1. Klasse" bisher in Brandenburg neu ist, werden die Gartzer eine Reise in die Lausitz antreten.
Schulleiterin Birgit Venzke sagt: "Der Werdegang wird so sein, dass wir uns – da es Deutsch-Polnisch als Projekt in Brandenburg noch nicht gibt, wahrscheinlich an eine sorbische Schule wenden werden, wo Wendisch als Sprache für die deutschen Kinder mit angeboten wird, so dass man sich anschauen kann, wie kann es gemacht werden. Dann wird ein Konzept geschrieben. Da sind natürlich der Schulträger und das Schulamt involviert, und wir haben uns vorgenommen, das im nächsten Jahr dann soweit zu haben, dass es dann anlaufen kann."
Es sind mal wieder die Kinder, die vormachen, wie es geht. Szulc sagt: "Wenn es um Kinder geht: Das ist kein Unterschied: Wenn meine Tochter oder mein Sohn mit polnischen oder mit deutschen Kindern spielen - das ist egal."