Strukturwandel in Gelsenkirchen

Aufstieg. Abstieg. Aufbruch?

Von Marius Elfering |
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Durch den Bergbau ist Gelsenkirchen groß geworden – und dann tief gestürzt. Armut und Arbeitslosigkeit prägen hier das Leben vieler Menschen. Der Niedergang macht der Politik große Probleme. Aber gibt es auch wieder einen Weg aus der Krise?
Ganz am Anfang dieser Recherche stand bei vielen der Zweifel. Eine Langzeitreportage über Gelsenkirchen, seine Einwohner und Einwohnerinnen? Menschen, die ich fragte, ob sie sich vorstellen könnten mitzumachen, mussten oft erst mal darüber nachdenken.
Zu sehr, das war ihr Gefühl, wurde die Stadt in den vergangenen Jahren niedergeschrieben. Nur kurz hingeschaut, Probleme nicht ausreichend identifiziert, Journalistinnen und Journalisten kamen häufig nur für die schnelle Schlagzeile.
„Bewohner der ärmsten Stadt Deutschlands erzählen von ihrem Kontostand“, „Gelsenkirchen ist am ärmsten dran“ oder auch „Arm, ärmer, Gelsenkirchen“, hieß es dann dort. Viele hier hatten das Gefühl, dass solche Berichte der Stadt nicht gerecht, die Auslöser der großen Probleme nicht hinreichend beleuchtet und mögliche Lösungen erst gar nicht thematisiert werden.

In drei Teilen begleitet das „Zeitfragen“-Feature Menschen, die darum kämpfen, dass sich in Gelsenkirchen etwas bessert – für sie ganz persönlich und die Stadt als solche. Den zweiten Teil können Sie hier nachhören - und am 31. Mai erfahren Sie dann, wie es weitergeht.

Eine Langzeitreportage über Gelsenkirchen? Letztlich sagten doch die meisten zu. Sie wollen erzählen, von den riesigen Problemen ihrer Stadt, von der Hässlichkeit, der Schönheit, von den 18 Stadtteilen, durch deren Mitte der Rhein-Herne-Kanal fließt, von Klischees und Vorurteilen, von den Träumen, den Plänen, den Niederlagen und den Siegen.

Stadt der tausend Feuer

Auf einer Eckbank in einer Kneipe sitzt ein Mann, breites Grinsen, herzliche Art, Glatze. Sein Name: Thomas Wesselborg. Aber eigentlich nennen ihn alle nur Thommi. Seit 36 Jahren führt er die „Destille“ in Gelsenkirchen-Buer. Eine Kneipe, am Rande einer breiten Hauptstraße, im Norden der Stadt, die an Spieltagen des FC Schalke 04 von vielen Fußballfans angesteuert wird.
„Hi Marie, grüß dich, Bahn verpasst, oder? Ich war heute auch zu spät, alles gut, alles gut. Luca machst du uns mal was zu trinken?“ Thomas Wesselborg ist Gelsenkirchener durch und durch. Als Kind, so erzählt er es gerne, sei er im Tante-Emma-Laden seiner Mutter mit Mehl aufgewogen worden.
Thomas Wesselborg hinter seinem Bier an einem Kneipentisch
Seit 1985 führt Thomas Wesselborg seine "Destille".© Deutschlandradio / Marius Elfering
Gelsenkirchen, wenn ich das jetzt von meinem Geburtsjahr oder von meiner ersten Erinnerung an betrachte, hat sich in erster Linie in meinen Augen gewandelt“, sagt er. „Von einer schmutzigen, schwarzen Industriestadt, mit vielen Arbeitern, aber auch mit viel Leben und mit viel Herz, zu einer wahnsinnig grünen, erholungsnahen Stadt, mit zu wenig Industrie und zu wenig Wirtschaft, aber sehr liebenswert und einfach freundlich und nahe.“
Mitte der 1920er-Jahre gehörte Gelsenkirchen zu den größten Bergbauzentren Europas. Die Nachfrage nach Arbeitern war riesig, Gelsenkirchen bekam den Spitznamen: „Stadt der tausend Feuer.“ Und auch nach dem Krieg sorgte das Wirtschaftswunder für eine riesige Nachfrage nach Kohle.

Zechen, Stahlwerke, Nähereien

Nicht nur die Kohleindustrie brachte damals Arbeit. Auch die Eisen- und Stahlwerke sowie die Textilindustrie machten Gelsenkirchen zu einem der Industriezentren Deutschlands. Während alleine in den Nähereien der Stadt damals gut 7500 Beschäftigte arbeiteten, bildeten die Zechen die noch größeren Arbeitgeber.
Allein in der Großzeche Graf Bismarck, die damals zu den produktivsten und modernsten Europas gehört, arbeiteten mehr als 6000 Menschen. Die Stadt bot Arbeit, sie bot die Chance auf Aufstieg.
„Die Fördertürme, das war für uns eigentlich das Größte. Und die rauchenden Schlote vor allen Dingen. Das war meine größte Erinnerung: Die Wolken, die selbstproduzierten Wolken der großen Industriefirmen, das war immer so das, was ich am meisten mitgekriegt habe“, erzählt Thomas Wesselborg.
„Wir haben halt nur das wahrgenommen: Was ist die Kulisse, dieses Ding? Uns war aber im Grunde genommen nicht klar, dass unsere Eltern teilweise damit ihr Geld verdienen. Eben mein Vater bei Siemens und meine Mutter mit dem Lebensmittelgeschäft, die die ganzen Kumpels ja auch dann im Grunde versorgt hat, wo die Leute aus der direkten Nachbarschaft einkaufen waren, als es noch eben keinen Großhandel gab.“

Krisen verändern Gelsenkirchen massiv

Jahrzehntelang ging das gut. Ende der 50er-Jahre entsteht in Gelsenkirchen eine der ersten Fußgängerzonen im Revier, sie wird zeitweise zu den umsatzstärksten Einkaufsstraßen in Deutschland gehören. Doch dann kommen die Krisen. Die aufkommende Krise der Textilindustrie Ende der 50er-Jahre, die Kohlekrise der 60er-Jahre, die Stahlkrise Anfang der 80er-Jahre. Innerhalb von 30 Jahren gehen allein in Gelsenkirchen etwa 100.000 Arbeitsplätze verloren.

Ich kann immer nur sagen: I love Gelsenkirchen, ehrlich gesagt. Das ist für mich jetzt auch wirklich, wirklich so.

Thomas Wesselborg

Auch Thomas Wesselborgs Mutter musste damals ihren Tante-Emma-Laden aufgeben. Er selbst stürzt sich 1985 ins Abenteuer und wird Kneipier. „Als ich älter wurde, habe ich ja meine Kneipe gemacht und habe natürlich auch hier in der Kneipe gemerkt, dass die Deckel mehr werden, dass die Leute verschwinden, dass immer mehr arbeitslos werden und so weiter und so fort“, erzählt er.
Durchfeierte Nächte, Schalkes Gewinn des UEFA-Cups 1997, die Fußballweltmeisterschaft 2006. Er liebt es, sich an diese Jahre in der Destille zu erinnern. Aber natürlich: Auch er hatte häufig zu kämpfen.
„In einem Jahr musste ich mir auch mal Geld von meinem Vater leihen, der das immer verurteilt hat, dass ich die Kneipe gemacht habe“, erinnert er sich. „Der gesagt hat: Du, mach das nicht, du bist verrückt und so weiter. Was meinst du, wie ich da zu Kreuze gekrochen bin, dass er mir Geld geliehen hat, damit das weiterging, weil war damals so: Wer nichts wird, wird Wirt.“

Wenn ein funktionierendes System zusammenbricht

Im Stadtteil Rotthausen, im Gelsenkirchener Süden, steht eine Frau mit blonden Haaren, gerahmter Brille und breitem Lächeln in einem Flur, durch dessen Fenster die Sonne hineinscheint. Karin Welge, seit November 2020 Oberbürgermeisterin in Gelsenkirchen, Mitglied der SPD, ist zur Eröffnung des neuen Quartierbüros eingeladen worden.
Die Stadt selbst spricht in Bezug auf Rotthausen von einem Stadtteil, der in Bereichen der Armutsbekämpfung, Bildung und der Wohnungsmarktentwicklung „Handlungsbedarfe erzeuge“. In Zukunft sollen hier im Stadtteilbüro niedrigschwellige Angebote geschaffen werden, um Menschen in unterschiedlichsten Bereichen zu helfen, zum Beispiel bei der Suche nach Arbeit.
Termine wie diesen hat Karin Welge viele. Ein Foto für die Lokalpresse, eine Ansprache in einem großen Saal mit hohen Fenstern, Glückwünsche hier, Glückwünsche da.
„Gelsenkirchen ist eine Stadt, die stolz auf funktionierende Strukturen, auf Wirtschaftskompetenz mit großen Gewinnmargen gesetzt hat, über viele Jahre“, sagt sie. „Und das System ist relativ schnell zusammengebrochen. Das macht was mit einer Stadt. Und wenn ein gut funktionierendes System zusammenbricht, dann passieren viele Dinge. Meistens ist es so, dass starke Menschen abwandern. Und die, die nicht die Kraft oder möglicherweise in dem Kontext keine andere Perspektive haben, dableiben.

„Es gibt keine einfache alles erklärende Wahrheit“

Die Klischees und Vorurteile gegenüber Gelsenkirchen kennt natürlich auch sie. Nicht nur von der Straße, nicht nur aus der Presse, sondern auch aus der Politik.
Was ich auch manchmal schon gehört habe in Berlin und auch ein bisschen in Brüssel, und da mache ich mir manchmal auch ein bisschen Sorgen: ‚Da kommen die vom Ruhrgebiet, die kommen betteln und schimpfen.‘ Und es gibt sie nicht, diese einfache und alles erklärende Wahrheit. Es ist schon ein bisschen komplizierter“, sagt sie.
Karin Welge posiert hinter einem Stehtisch für ein Foto.
Seit November 2020 ist Karin Welge Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen.© Deutschlandradio / Marius Elfering
Ende der 50er-Jahre lag die Einwohnerzahl in Gelsenkirchen bei beinahe 400.000 Menschen. Heute bei etwa 260.000. Die Abwanderung brachte massive Herausforderungen: Leerstand von Wohnungen und Häusern, Schrottimmobilien, Straßenzüge, die verwahrlosen oder drohen, in diese Situation abzurutschen. Das sind Probleme, die Gelsenkirchen seit Jahren beschäftigen.
In den letzten Jahren hat die Stadt über 50 Problemimmobilien aufgekauft. Viele von ihnen wurden abgerissen. Doch solche Rückbauprogramm blieben lange auf der Strecke.
„Das hat eben damit zu tun, dass es in den Jahren vorher keine fiskalischen Rahmenbedingungen gab, wirklich gute, große, teure Rückbauprogramme zu initiieren und die wahr zu machen, sondern das Geld erst mal für struktursichernde Maßnahmen, Arbeitsmarktpolitik, Reparatur der notwendigsten Sachen verwandt worden ist“, erklärt die Politikerin.
„Weil natürlich auch das Steueraufkommen nur noch die Hälfte war, ich aber eine Infrastruktur hatte, Straßengrößen etc., die einen Unterhaltungsaufwand und Betreuungsaufwand produziert haben, dem ich nicht mehr gerecht werden konnte.“ An diesem Morgen in Rotthausen hat Karin Welge ihren Termin beendet. An der Straße wartet sie auf ihren Fahrer, dann geht es zurück in die Innenstadt.“

„Normalisierungsprozesse von Problemen“

Ich treffe Franck Eckardt. Er ist Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar und kommt selbst aus Gelsenkirchen. Eckardt kennt sich mit Städten in der Krise aus. In den vergangenen Jahren hat er unter anderem anhand des Stadtteils Schalke zu diesem Thema geforscht.
„Also, es gibt Krisen, die entstehen durch Ereignisse, entstehen durch Fehlentscheidungen. Und es gibt eben Krisen wie Strukturkrisen, wenn man sie so bezeichnen will, in denen Gelsenkirchen sich befindet, die irgendwie zur Normalität werden“, erklärt er.
„Genau das passiert eigentlich hier im nördlichen Ruhrgebiet, im südlichen nicht. Da ist es anders. Aber wenn Sie nach Recklinghausen fahren, nach Castrop-Rauxel, Gladbeck, Bottrop, Oberhausen, finden Sie eigentlich dieselben Normalisierungsprozesse von Problemen.“
Wenn Frank Eckardt von „Normalisierungsprozessen von Problemen“ spricht, lohnt sich ein Blick auf die nackten Zahlen und was sie für die Menschen bedeuten: In den vergangenen Jahren geriet Gelsenkirchen immer wieder als „ärmste Stadt Deutschlands“ in die Schlagzeilen.
Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung bezifferte 2019 das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in Gelsenkirchen mit 16.203 Euro – bundesweit der letzte Platz. Die Arbeitslosenquote lag im Oktober 2021 bei 12,0 Prozent, mehr als doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt.
„Man möchte kein Krisennarrativ, man möchte nicht sich als Krisenstadt darstellen, man möchte nicht so gesehen werden und man möchte lieber von Strukturwandel, von Aufbruch, von Umbau und so weiter reden“, sagt Franck Eckardt. „Verständlich, psychologisch sehr verständlich, aber andererseits ist das so eine selektive Wahrnehmung auf die Stadt, wo dann eben halt viele Probleme aus der Sicht geraten und genau das ist Teil des Problems.“
Viele Städte, die sich in einem Zustand der Dauerkrise befinden, verbindet vor allem eines: Wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die sich stark verändert haben.

Wirtschaftlicher Abstieg, hohe Kinderarmut

Gelsenkirchen mit dem Niedergang der Kohleindustrie, der Stahlindustrie und der Textilindustrie. Bremerhaven mit den Strukturkrisen im Schiffsbau und der Hochseefischerei. Städte in Ostdeutschland, wie Hoyerswerda, in denen die Fabriken nach der Wende dichtgemacht wurden, Menschen wegzogen, Städte plötzlich verlassen waren.
Viele Faktoren mögen sich in diesen Städten voneinander unterscheiden, aber der wirtschaftliche Abstieg durch den Wegfall von Industriezweigen, er zieht sich häufig durch. Auch international: Detroit mit dem massiven Wegfall der Arbeitsplätze in der Automobilindustrie. Manchester, Liverpool, die Liste ist lang. Auch die Folgen ähneln sich häufig: Arbeitslosigkeit, das niedrige Pro-Kopf-Einkommen, eine hohe Abwanderung. Und hinter all diesen Zahlen stecken konkrete Geschichten, Menschen, die betroffen sind.
Ein gutes Beispiel dafür: die Kinderarmut. Ende 2019 befasste sich die Bertelsmann Stiftung mit Kinderarmut in Deutschland. Das Ergebnis: 13,8 Prozent aller Kinder unter 18 Jahren lebten in Familien, die die Grundsicherung bezogen. In Gelsenkirchen lag der Wert bei 41,5 Prozent.

Es ist richtig eine Hassliebe. Ich hasse Gelsenkirchen, aber ohne ist auch doof.

Stella

Wenn Stella, eine junge Frau mit kreisrunder Brille, schwarzen Haaren und nachdenklicher Stimme, an ihre Kindheit zurückdenkt, dann kommt ihr als erstes ein Bild in den Sinn: sie und ihre Mutter in der gemeinsamen Wohnung. Eine Matratze, einen Wasserkocher, viel mehr hatten sie nicht.
Daran erinnert sich die 21-Jährige. „Ich war immer mit meiner Mutter alleine, wir hatten auch nie viel Geld. Das hat man auch sehr gemerkt. So andere Kinder haben dann zu Weihnachten direkt eine Wii bekommen mit total vielen Spielen. Und ich war dann froh, wenn es dann doch für irgendwas gereicht hat.“
Kinderarmut ist kein alleiniges Problem Gelsenkirchens. In Bremen lag der Anteil der Kinder in Familien, die die Grundsicherung bezogen 2019 bei 31,6 Prozent. In Wilhelmshaven bei 33,8. In Brandenburg an der Havel bei 24,9 Prozent. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Doch einige Regionen und Städte sind besonders betroffen. Gelsenkirchen gehört dazu.

„Beim Einkaufen immer zweimal gucken“

Stellas Kindheit und Jugend verläuft nicht geradlinig. Sie hat Aggressionsprobleme, sie schwänzt die Schule, mit 14 Jahren schickt das Jugendamt Stella in ein Heim in Baden-Württemberg. Doch als sie nach zwei Jahren wieder zurück nach Gelsenkirchen kommt, geht es mit den Problemen weiter. Sie nimmt Drogen, sie streitet sich darum, ob ihr Schulabschluss aus Baden-Württemberg in Nordrhein-Westfalen anerkannt wird und läuft immer wieder gegen verschlossene Türen.
Auch Armut bleibt ein Thema in ihrem Leben – bis heute. Man merkt, dass wir zum Beispiel beim Einkaufen immer zweimal gucken, ob wir was mitnehmen, was wir wirklich brauchen“, erzählt sie.
„Zum Beispiel auch in der Freizeitgestaltung zwischen mir und meiner Mutter. Wir können jetzt nicht unbedingt spontan sagen: Ja, komm, wir fahren jetzt, keine Ahnung, nach Oberhausen ins Centro und gucken uns das da an, gönnen uns eine Pommes-Currywurst oder was.“
Stella kämpft um ihre Zukunft. Sie möchte das Fachabitur machen – mindestens, wie sie sagt. Sie möchte die Armut hinter sich lassen. Und sie ist sauer.
Wenn es wirklich so wäre: Dass jeder Mensch hier in Deutschland, egal ob Gelsenkirchen oder nicht, aber das ist ja ein System, jeder Mensch von Anfang an die gleichen Chancen hätte, dann wären das nicht so Sachen, wie dass nachgewiesen worden ist, dass Armut vererbbar ist. Dann wäre das nicht so, weil dann hätte ja jeder Hans-Philipp, der geboren wird, die Chance, Arzt zu werden. Prinzipiell, wenn er auch das Potenzial mitbringt.“

Jugendliche mit vielschichtigen Problemen

Im „Förderkorb“, einer katholischen Jugendberufshilfeeinrichtung, treffe ich Yuri. Er ist 18 Jahre alt. Ein zurückhaltender, junger Mann, bei dem man merkt, wie sehr er nachdenkt, bevor er sich und sein Leben in die richtigen Worte gießen kann. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er in Cuxhaven, später dann zog er mit seiner Familie nach Gelsenkirchen.

Was ist Gelsenkirchen für mich? Gelsenkirchen ist ein Dorf.

Yuri

Seine Eltern kamen aus Syrien nach Deutschland. Sie führten Lebensmittelgeschäfte, handelten mit Gold, bauten sich immer wieder unterschiedliche Existenzen hier auf. An Geldsorgen, sagt Yuri, kann er sich nicht erinnern. Dafür vor allem an eines: dass er von klein auf zu Hause helfen musste, bei der Arbeit immer eingespannt war.
„Seit ich zurückdenken kann, war ich schon mit im Laden dabei, oder mein Vater wollte mir etwas beibringen. Oder ich sollte dabeistehen, mir was angucken, davon was lernen, mit den Kunden reden. Seit ich zurückdenken kann. Immer“, erzählt er.
Das Pflichtgefühl gegenüber seiner Familie – es begleitet Yuri seit jeher. „Ich lasse meine Mutter nicht zehn Stunden dastehen, wenn ich gerade Zeit habe und sie auch ablösen kann. Ich glaube, es hat auch mit der Mentalität meines Vaters zu tun. Der wollte schon sein Leben lang selbstständig sein und nicht für andere arbeiten und was für sich selbst aufbauen, selbst etwas erreichen und was hinterlassen quasi, was für uns hinterlassen.“
Yuri interessiert sich für Philosophie, er schreibt Gedichte. Er ist zuvorkommend, höflich, hat im vergangenen Jahr seinen Realschulabschluss gemacht. Und doch: Jetzt steht er da – und er weiß nicht, wie es für ihn weitergeht.
Ihm wurde in seinem Leben viel abverlangt. Arbeit für die Familie, Arbeit für die Schule, Pläne für die Zukunft schmieden. Eigentlich stand er schon immer unter Druck. „Ich habe genug fürs Arbeitsleben. Ich habe keine Lust mehr.“
Die Probleme der Jugendlichen hier sind so vielschichtig wie die Probleme der Stadt. Vielleicht ist das der Grund, warum sie so schwer zu lösen sind.

„Wir haben eine Menge zu tun“

In einem Konferenzsaal, im fünften Stock des Hans-Sachs-Hauses in Gelsenkirchen, sitzt Karin Welge mit ihrem Mitarbeiterstab. Lagebesprechung nennen sie das hier, gemeinsam gehen sie die Termine der nächsten Zeit durch, besprechen, wie Karin Welge sich zu verhalten hat, was sie wissen muss, welche Termine sich warum lohnen.
Ich habe gerade eben diese Nachläufer in der Post gehabt vom Städtetag, das ist wieder tierisch viel Material, kriege ich da noch irgendwas zu? Schickt ihr mir das per Mail in den Urlaub? Und wissen wir denn schon, ob die in Düsseldorf oder in Köln tagen? Weil, wenn die in Köln tagen, dann schaffe ich das ja kaum abends“, sagt sie.
Der Städtetag, die Prinzenproklamation, ein Bürgerfest, Besuch beim Schützenverein. Welge und ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen stecken mitten in der Vorbereitung zur Verabschiedung des aktuellen Haushalts der Stadt. Eine stressige Zeit, doch auch für die anderen Termine muss noch Platz bleiben – neben all den Krisenherden.

Zu viel Tradition ist eine Gefahr. Ein gesundes Maß an Tradition ist ein Fundament.

Karin Welge

Es gibt Momente, in denen ich merke, wie groß das Verlangen der Menschen in Gelsenkirchen ist, nach vorne zu blicken und nicht immer nur nach Schuldigen zu suchen.
Natürlich ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht alles richtig gemacht worden. Aber wir beide sitzen doch jetzt nicht hier, um zu identifizieren, wer ist der bestmögliche, höflichste Schuldige. Jetzt kann ich ja sagen, die erste Oberbürgermeisterin, sehr arrogant: ‚Ich mache es anders. Das waren die Männer, die haben es nicht geblickt.‘ Aber jetzt mal ganz ehrlich: Mit welcher Arroganz und Überheblichkeit würde ich hier auftreten? Ich glaube, wir haben eine Menge zu tun“, sagt Karin Welge.
„Dazu gehört natürlich auch zu sagen: War das schon klug? Man kann auch jetzt die Frage stellen: Hätte man nicht früher auf ein Rückbauprogramm setzen müssen? Ich will aber auch da jetzt keine Lanze für jeden brechen, aber ich will Ihnen schon sagen, ich bin ja jetzt selber auch ziemlich intensiv in dem Alltagsprozess: Wenn Sie in diesem Geschehen so gefangen sind, dass Sie immer Feuerwehrstrategie haben und immer kleine Feuer neu löschen müssen, dann legen Sie halt nicht den Schlauch schon in den Stadtteil X, weil Sie natürlich auch immer nur Ressourcen einer gewissen Größenordnung haben.“

Knappe Ressourcen und ihre Folgen

Die Knappheit der Ressourcen: Sie ist die Folge vergangener Entscheidungen – mit weitreichenden Folgen für die Zukunft: Reiche Städte wie München oder Baden-Baden auf der einen Seite. Arme Städte wie Duisburg, Halle, Herne und auch Gelsenkirchen auf der anderen. Das hat Konsequenzen.
„Wenn sie in einer Familie leben, wo es weder für ein Auto reicht, noch für Urlaub, noch für ein tolles Paar Sneakers für die Kinder. Und die Kinder sagen: ‚Kann ich haben? Ich habe eine tolle Idee, Mama, ich würde ganz gerne das und das machen.‘ Und der Mann sagt: ‚Wisst ihr was? Dann bauen wir uns hinten ein schönes kleines Häuschen und, und, und.‘ Dann sagt der, die, das Familienoberhaupt oder das Familienkomitee, oder wir würden in einer Stadt sagen dann am Ende des Tages der Rat, weil er ja den Haushalt beschließen muss: ‚Dafür haben wir kein Geld, dafür haben wir kein Geld, dafür haben wir kein Geld.‘ Auch dann passiert was mit Menschen“, erklärt sie.
„Die Ideen werden sukzessive nicht mehr ganz so euphorisch platziert, die Kraft in die Konzeptionierung eines tollen Endprodukts nimmt automatisch ein bisschen ab. Und wenn ich ganz, ganz, ganz, ganz großes Pech habe, dann sagt irgendwann in drei, vier Jahren später gar keiner mehr irgendwas und hat eine Idee und sagt: Mach du mal!“

Impulse setzen, trotz knapper Haushaltsmittel

Wenn nie Geld für die großen Sprünge da ist, dann bleibt der Wettbewerb der Ideen auf der Strecke. Einer Stadt sieht man das an. Es lässt sich aber auch in Zahlen ausdrücken.
„Wir haben einen Haushalt, der weit mehr als eine Milliarde ist. Von diesem Haushalt gehen 500 Millionen, also ungefähr die Hälfte, in Soziallastentransfer. Dann gehören dazu an die 100 Millionen für den Landschaftsverband, für Eingliederungshilfe und für die Unterstützung von Menschen mit Handicaps. Da gehören weit mehr als 110 Millionen dazu, die Warmmiete für die SGB II Kunden zu bezahlen. Da gehören zig Millionen zur sogenannten Altenhilfe beziehungsweise Hilfe zur Pflege, zur Jugendhilfe“, erklärt Karin Welge.
„Dann haben Sie eine Idee davon, wenn ich in einer anderen Stadt Oberbürgermeisterin wäre, dann hätte ich möglicherweise 100 Millionen, die ich an die kreativen Kräfte des Rates verteilen könnte. Ich rufe den Wettbewerb der besten Ideen auf und die heizen sich gegenseitig auf. Dann sage ich: Ist gar nicht so schlimm, wenn zehn Ideen auf der Strecke bleiben, dann haben wir nächstes oder übernächstes Jahr noch Geld.“
Eine Stadt wie Gelsenkirchen braucht auch die Hoffnung. Aber wenn Pläne schlichtweg nicht umsetzbar sind, dann ist die Gefahr der Frustration in der Bevölkerung groß.
„Ich könnte natürlich rein theoretisch sagen, machen wir trotzdem. Ich bin so mutig und hole so ein bisschen die Faust raus, bin dann sehr progressiv und sage, wie so bayerische Menschen das manchmal sagen: ‚Des machen ma einfach.‘ Kann ich natürlich tun. Gute Presse: ‚Die kämpft für uns!‘ Aber ich kriege eins nicht zustande. Ich kriege keinen genehmigten Haushalt.“
Karin Welge ist am Anfang ihrer Amtszeit. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob sie mit dafür sorgen kann, dass die Stadt wieder auf die Beine kommt.
“Wir werden von vornherein nicht so schnell auf diese klassische Überholspur kommen, dass nach dem Ende meiner ersten Amtszeit Gelsenkirchen jetzt überall ganz anders aussieht“, sagt sie. „Was für mich aber wichtig und bedeutsam ist: Impulse zu setzen, ein neues Bild zu kriegen, weg von diesen Klischees und Vorurteilen. Die können nichts, die haben keine Ideen. Die machen es nicht anders. Und weg von dem ‚depressiv und larmoyant‘ und ‚Da ist es nicht schön‘.“

Orte zwischen Vergangenheit und Zukunft

An einem kalten, sonnigen Spätherbsttag duckt sich Yuri unter einigen Ästen hindurch und führt mich einen Trampelpfad entlang.
In seiner Freizeit macht er sich gerne auf den Weg zu verlassenen Orten in Gelsenkirchen. Schulen, alte Fabrikhallen – oder wie heute: das Verwaltungsgebäude der früheren Kokerei Alma. Ein großer verlassener Backsteinbau, mit eingeschlagenen Fenstern, Schutt auf dem Boden und Graffitis an den Wänden. Wenn Yuri hier ist, so scheint es mir in diesem Moment, dann treffen die Vergangenheit und die Zukunft der Stadt aufeinander.
Blick in das verlassene Verwaltungsgebäude der ehemaligen Kokerei Alma in Gelsenkirchen mit Graffitis an der Wand
Das verlassene Verwaltungsgebäude der ehemaligen Kokerei Alma: Yuri kommt in seiner Freizeit gerne an solche Orte.© Deutschlandradio / Marius Elfering
„Hat seinen Charme. Kann keiner was anderes erzählen“, sagt er. „Klar macht man sich Gedanken, was hier mal hätte sein können. Wer die Menschen waren, die hier gelebt haben. Wie es dazu kam, dass alles auseinanderfällt.“
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Die Frage, wie Städte wie Gelsenkirchen sich selbst in eine Lage bringen können, in welcher eine positive Entwicklung wieder möglich ist, stellt auch die Frage in den Fokus: Was macht gute Stadtentwicklung aus? Im 20. Jahrhundert stand bei der Diskussion dieser Frage vor allem der Begriff der „Funktionalen Stadtentwicklung“ im Fokus. Sie definierte Wohnen, Arbeiten, Erholen und Verkehr als die vier städtischen Hauptfunktionen, an welchen sich Stadtplanung orientieren soll.

Nachhaltigkeit statt Funktionalität

Mittlerweile hat sich ein anderer Ansatz in den Mittelpunkt gedrängt: die nachhaltige Stadtentwicklung. Dieser Ansatz rückt ein breiteres Spektrum an unterschiedlichen Dimensionen für eine positive Stadtentwicklung in den Fokus. Nämlich die Verzahnung von ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten.
Eine sinnvolle Verknüpfung dieser Aspekte kann die Lebensbedingungen von Menschen in Städten verbessern und die Städte selbst in eine bessere Ausgangslage für eine gute Zukunft manövrieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Stadt Freiburg, mit insgesamt 59 Zielen, die alle politischen Entscheidungen beeinflussen und als Richtlinie für eine nachhaltige Stadtentwicklung gelten.
Klar ist aber auch: Städte wie Gelsenkirchen haben einen Rückstand bei der Umsetzung dieser Ziele. Nachhaltige Stadtentwicklung – auf dem Papier klingt das gut. In der Realität ist das schwieriger.

„Ziele sind mit Träumen behaftet“

Der 14. Spieltag der 2. Fußball Bundesliga. Schalke, zu diesem Zeitpunkt auf Rang sieben in der Tabelle, trifft auf Werder Bremen. In der „Destille“ von Thomas Wesselborg ist an diesem Tag ordentlich was los. Einige der Fans, die an diesem Tag hier sind, singen, andere lallen nur noch.
Schalke geht in der 82. Minute in Führung, die Stimmung ist ausgelassen. Doch dann kommt ein Bremer Spieler in der Nachspielzeit im Strafraum zu Fall. „Und jetzt gibt es den Elfmeter. Da steht der Reporter natürlich schön blöd da, nachdem er die ganze Zeit gesagt hat: Das kann im Leben keinen Elfmeter geben, aber jetzt gibt es ihn doch.“ Riesenjubel im Bremer Weserstadion. Am Ende durch ein Elfmetertor in der achten Minute der Nachspielzeit. 1:1 zwischen Werder Bremen und Schalke 04.
Aufstieg und Abstieg, Sieg, Niederlage und Stillstand: In Gelsenkirchen, das ist mein Gefühl, liegen diese Dinge so eng beieinander. Bei einem unserer Gespräche habe ich Thomas Wesselborg gefragt, was die Stadt braucht, um wieder auf die Beine zu kommen: Pragmatismus? Oder vielleicht neue Träume?
„Aus dem Pragmatismus entsteht ja ein neuer Traum. Es geht nur durch Ziele und Pläne. Ich würde sogar sagen: Ziele sind mit Träumen behaftet. Pläne sind mit Pragmatismus behaftet. Wie stelle ich mir meine Stadt vor? Ich meine, ich kann Schloss Berge nicht schöner machen, weil es ist wunderschön“, erklärt er.
„Und ich kann auch nicht hier mein Leben verteufeln oder schlecht machen, weil es ist einfach wunderschön und wir haben auch Spaß, und du denkst ja nicht permanent: Oh, wie schlecht geht es mir? Also das sind wir nicht, hier in Gelsenkirchen.“

Autor und Sprecher: Marius Elfering
Regie: Frank Merfort
Technik: Christiane Neumann
Redaktion: Carsten Burtke

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