Zeitz hofft auf den "Überschwappeffekt"
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Im sachsen-anhaltinischen Zeitz setzte mit der Deindustrialisierung der Verfall ein. Viel Leerstand und marode Bausubstanz – das bedeutet aber auch günstige Mieten. Deswegen wächst in der Stadt die Hoffnung, dass es bald wieder aufwärts geht.
Zeitz liegt auf halber Strecke zwischen Leipzig und Jena. Einst war die Kleinstadt eine stolze Residenz- und Domstadt. Die Nachfahren des Reformators Martin Luther kommen aus Zeitz, der Urenkel war hier Bürgermeister.
Mit Beginn der Industrialisierung war Zeitz eine lebendige Stadt mit Berg- und Maschinenbau und gilt als die Wiege der deutschen Kinderwagenproduktion. Nach dem Mauerfall ging es rasant bergab.
Es wirkt, als wurde die Stadt fluchtartig verlassen
Heute ist Zeitz eine vernarbte Stadt. Geprägt von leerstehenden Gründerzeit-Häusern und Industrieruinen. Kaum ein anderer Ort in Deutschland hat mit einem derartigen Leerstand zu kämpfen, erzählt Andreas Exler. Er ist Mitte 40, Mitglied der Bürgerinitiative Arbeitskreis Altstadt, Stadtrat der Freien Wähler. Doch von einer Geisterstadt mag er nicht sprechen.
"Die generelle Entwicklung der Stadt ist … war ein Trauerspiel. Ich schwanke da noch ein bisschen, weil sich die Dinge ein wenig zum Guten wenden. Ich sage immer: Ich wohne schon 44 Jahre in der Stadt, da war es vor fünf Jahren schlimmer als jetzt."
Heute hat Zeitz knapp 30.000 Einwohner, vor 30 Jahren waren es noch mehr als 50.000. Zeitz wirkt für Außenstehende teilweise so, als ob die Menschen die Stadt fluchtartig verlassen hätten.
"Ja, das muss man leider so sagen. Richtig. Das ist die richtige Beschreibung."
Abriss statt Sanierung
Ganze Straßenzüge sind fast komplett verwaist. Aus Dachfirsten wachsen Birken, Häuser fallen in sich zusammen, die stuckverzierten Fassaden bröckeln. Selbst eine mächtige neogotische protestantische Kirche mitten im Zentrum von Zeitz modert vor sich hin. Seit 1990 wurden mehr als 90 Millionen Euro in die Sanierung der Stadt gesteckt, dennoch gibt es einen unübersehbaren Leerstand.
"Zeitz war eine blühende Industriestadt. Viele Arbeitsplätze sind nach 1990 weggebrochen. Aber in der Stadtentwicklung kam noch ein weiteres Problem hinzu. Man hat gesagt: Zeitz-Ost wird sich entwickeln, das ist dieses Plattenbaugebiet. Und hat die Sanierung vorangetrieben. Die Platte ist attraktiv geworden."
Während man aber die Gründerzeit-Bauten einfach verfallen ließ. Ein städtebauliches Debakel nennt es Andreas Exler von der Bürgerinitiative Arbeitskreis Altstadt. Mehr noch: In Zeitz habe man über das Jahr 1990 hinweg die Fehler des DDR-Städtebaus schlicht fortgeführt. Selbst Barockhäuser wurden noch nach dem Mauerfall in der Innenstadt abgerissen. Exler blutet das Herz.
"Glücklicherweise haben das die Fördermittelgeber, das Land Sachsen-Anhalt und auch die verschiedenen Bundesministerien erkannt. Man kann – zumindest in Ostdeutschland – nicht flächendeckend Abriss fördern. Das war lange Zeit so: Es gab Fördermittel, wenn das Haus weg war. Mittlerweile hat man erkannt: Wenn ich den Abriss fördere, muss ich im gleichen Maße den Erhalt von Denkmälern fördern. Das ist passiert."
44 Prozent der Wohnungen stehen leer
In einer aktuellen Studie ist die Rede von knapp 5000 leerstehenden Wohnungen in Zeitz. Das entspricht einer stadtweiten Quote von 23 Prozent. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille, denn in der Altstadt – der Kernstadt von Zeitz – ist fast jede zweite Wohnung verwaist, exakt sind 44 Prozent der Wohnungen unbewohnt.
In Zeitz gibt es die billigsten Mieten Deutschlands, ähnlich sieht es mit den Kaufpreisen aus. Während man beispielsweise für eine 100-Quadratmeter-Eigentumswohnung in der Berliner oder Hamburger Innenstadt eine halbe Million oder mehr zahlen muss, bekommt man in Zeitz für denselben Preis …
"… da muss ich kurz überlegen: Für eine halbe Million bekommen sie hier fünf Häuser mit jeweils acht Wohnungen. Um das mal klar zu sagen, sie zahlen für eine Eigentumswohnung 20 bis 25.000 Euro."
Am Zeitzer Altmarkt steht das herrschaftliche, schlossähnliche Rathaus von Zeitz. Hier residiert Oberbürgermeister Christian Thieme. Er ist 46 Jahre alt, CDU-Mitglied. Ein akkurat gekleideter hanseatischer Mann mit grüner Barbour-Jacke.
Wachsendes Interesse an Zeitz
Seit 2016 ist der gebürtige Hamburger der Oberbürgermeister von Zeitz. Seine Familie stammt ursprünglich aus der Stadt und besaß dort eine Seifenfabrik. Nach dem Krieg wurde sie enteignet, floh in den Westen. Jetzt ist die Familie zurück. Das "Hamburger Abendblatt" schrieb, das Thieme gekommen sei, um das marode Zeitz zu retten.
Eine Geisterstadt, nein, das sei Zeitz nicht. Und Thieme zeigt bei einem Rundgang, was in den letzten Jahren alles passiert sei.
"Wichtig ist als erster Schritt, dass man auf sich aufmerksam macht. Dass die Leute interessiert sind an der Stadt Zeitz. Und das gelingt uns zunehmend mehr. Wir haben in der Nähe Leipzig, wir bauen auf den sogenannten Überschwappeffekt. Von den steigenden Einwohnerzahlen von Leipzig werden wir hier etliche abbekommen. Das ist auch Fakt."
Thieme hofft auf Kohlemillionen aus dem Braunkohleausstieg. Denn Zeitz liegt im mitteldeutschen Kohlerevier. Jetzt setzt man auf ein mitteldeutsches S-Bahn-Netz. Es ist die Rede von 30 Minuten Fahrzeit nach Leipzig bzw. Gera oder Jena.
Attraktiv für Menschen aus Leipzig
Der Großraum um Leipzig würde dann zusammenrücken, unterstreicht Oberbürgermeister Christian Thieme. Die steigenden Mietpreise könne sich so manche Familie in Leipzig bald nicht mehr leisten und da käme dann Zeitz ins Spiel, spekuliert der OB. Denn hier könne man für wenig Geld in Häusern leben, die wirklich alt seien und Geschichte atmen.
"Wir erwarten, dass ein Großteil der Gelder hier in der Region eingesetzt wird. Und wenn man das vernünftig tut, mit Industrieansiedlungen, mit vielleicht auch moderneren Dingen wie 5G, Smart-Region, was es da alles gibt."
Dann könne die Stadt Zeitz Teil einer prosperierenden Region werden. Für OB Thieme ist klar: Der Leerstand sei in Zukunft kein Manko mehr, sondern biete Potential.
"Ja, es keimt Hoffnung auf, dass es wieder für Belebung sorgt. Wenn man es denn will."
Thieme wohnt direkt an der romanischen, weiß glänzenden Michaeliskirche. Auf dem Kirchenvorplatz befindet sich eine unscheinbare Sandsteinsäule. Es soll ungefähr die Stelle markieren, an der sich 1976 der Pfarrer Oskar Brüsewitz mit Benzin übergossen und öffentlich verbrannt hat. Aus Protest gegen die Unterdrückung und Kriminalisierung von Christen in der DDR.
Bibliothek wiederbelebt
Ein Fanal, das einst Zeitz – weit über die Grenzen hinaus – bekannt gemacht hat. An dieser Stelle beginnt aber auch die – man kann schon sagen – berühmt-berüchtigte Rahne-Straße. Eigentlich ein Ensemble aus Gründerzeit- und Barockhäusern. Es gibt aber nur noch ein einziges intaktes Gebäude, ansonsten sind alle Fenster vernagelt, die Fassaden zerbröseln.
Fast wie in Ghost-City. Mitten drin: Die frühere Stadtbibliothek. Ein stolzer Jugendstilbau aus dem Jahr 1907, mit Stuckdecken, Bleikristallfenstern und Fischgrätenparkett. Seit Anfang der 1990er-Jahre steht das Haus leer. Drinnen riecht es feucht-muffig.
"Das ist klassischer Jugendstil. Man sieht es an den halbrunden Erkern, an den vielen abgerundeten Ecken, die Konsolen, Verzierungen. Wir stehen vor einem relativ imposantem Sandsteinportal. Ich kann mal die Tür aufschließen."
Wiederentdeckt und wiederbelebt hat es Philipp Baumgarten. Ein gebürtiger Zeitzer, Jahrgang 85. Nach dem Abitur verließ er seine Heimatstadt, studierte in Dresden und Karlsruhe Informatik und Kunstgeschichte. Und ist nun wieder zurück in Zeitz. Sein Credo: Mit Kunst gegen den Leerstand ankämpfen.
"Ja, hier drüben die ehemalige Phonothek, wie es noch dransteht. Hier konnte man Schallplatten ausleihen, Kassetten, Tonträger etc. Dient jetzt als Off-Space. Und das ist jetzt ein multi-funktionaler Raum für kleinere Kunstveranstaltungen, Vorträge, Lesungen. Die finden regelmäßig statt. Und jetzt sind wir soweit, dass wir jedes Wochenende regelmäßige Veranstaltungen haben."
Rückkehrer als Raumpioniere
Das ganze nennt sich Open Space Zeitz und wird mit gut 60.000 Euro von der Bundeskulturstiftung unterstützt.
Baumgarten ist einer der wenigen jungen Leute, die in den Straßen von Zeitz unterwegs sind. Für 2020 rechnen die Stadtväter mit etwa acht Prozent Jugendlichen, der große Rest sei dann älter als 60. Die Generation zwischen 25 und 45 gebe es so gut wie gar nicht. Ein ziemlich düsteres Bild, wenn es nicht die Rückkehrer, sogenannte Raumpioniere, gäbe.
"Das ist ein nettes Wort. Klingt ein bisschen exotisch. Wie ein Alien, der auf einem fremden Planeten landet. Aber klar, letztendlich geht es darum, Räume, die leer stehen, wieder in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Dass man sie neu entdecken kann."
Hippe Künstler und junge Leute haben Zeitz als Spielwiese für sich entdeckt. Eine von ihnen ist die Magdeburgerin Teresa Schulz, Studentin der Theatermalerei an der Dresdner Kunsthochschule. Zeitz sollte sich vielmehr als Künstlerstadt begreifen und mit diesem Label bundesweit werben, so die Anregung der Künstlerin.
Aus dem Koma auf die Intensivstation
"Ich glaube, das ist ein Generationenproblem. Da spalten sich die Generationen. Denn die meisten in meinem oder unserem Alter kennen es unter: Zeitz, habe ich schon mal gehört. Künstlerstadt. Genau. Die Älteren kennen es unter Geisterstadt. Und für eine Generation, die aus schon sehr gentrifizierten Städten kommt, ist Zeitz eine interessante Spielwiese. Hier muss man selber was machen, sonst passiert nichts."
Der Leerstand ist in Zeitz immer noch gravierend, aber es wird bunter in den Straßen. Wenn man es mit einem medizinischen Bild erklären will: Vorher befand sich Zeitz im Koma. Jetzt liegt die Stadt auf der Intensivstation, mit der kleinen Chance auf Besserung. Denn es entsteht was Neues. Zarte, kleine Pflänzchen wachsen, die der Stadt frisches Leben einhauchen, in einer Art Sauerstofftherapie.