Strukturwandel

Irland war einmal wie Griechenland

In der Innenstadt von Dublin
In Dublin herrscht wieder bessere Laune, seit Irlands Wirtschaft sich erholt. © picture-alliance / dpa / Frank Baumgart
Von Martin Alioth · 21.07.2015
Dass eine Wirtschaft zusammenbrechen – sich aber auch wieder erholen kann, haben die Iren gerade erlebt. Griechenland mit seinen aktuellen Problemen könnte daraus Mut schöpfen, meint der Journalist Martin Alioth. Die Südeuropäer müssten aber Verantwortung für ihre Fehler übernehmen.
Unter dem Titel "An Béal Bocht" veröffentlichte der irische Schriftsteller Myles na gCopaleen 1941 einen Roman, der sämtliche Jammer-Klischees über Irland und die Iren ins Absurd-Groteske verzerrte. Regen, Elend und Kartoffeln spielen tragende Rollen. Frank McCourt hieb 1996 mit "Angela’s Ashes", "Die Asche meiner Mutter", in dieselbe Kerbe, allerdings ohne satirische Absicht.
Natürlich waren die Klischees ursprünglich nicht ohne Grundlage. Irland muss in der Mitte des letzten Jahrhunderts wirklich ein etwas jämmerlicher Flecken gewesen sein: agrarisch, ärmlich, von ingrimmigem Groll gegen England beseelt und gefesselt an eine katholische Konformität, die jede Andersartigkeit brutal unterdrückte. Doch als "Angela’s Ashes" die Bestsellerlisten weltweit eroberte, waren diese Gemeinplätze nur noch ärgerlich.
Vom billigen Fertigungsplatz zum transatlantischen Scharnier
Irland war dabei, vom billigen Fertigungsplatz am Rande Europas zu einem transatlantischen Scharnier zu werden. Die amerikanischen Multis produzierten nicht mehr eintönige Videokassetten und Leibchen, sondern Computerchips und bald schon Viagra. Anstatt lebende Rinder nach England zu verschiffen, machen irische Molkereien inzwischen ein Vermögen mit proteinreichen Zusatzstoffen.
Diese Verwandlung in eine Wirtschaft, die Mehrwert schafft, wurde ermöglicht oder zum Mindesten begleitet von einem neuen Selbstbewusstsein, das am Busen der Europäischen Union gekeimt war. Irland wurde schrittweise vom Opfer zum Täter.
Die zweite Phase des "Keltischen Tigers", des Wirtschaftswunders, das von der Mitte der 90er-Jahre bis 2007 andauerte, verformte die irische Gesellschaft: die alte Sehnsucht nach Landbesitz und Immobilien konnte endlich erfüllt werden, aber es stellte sich keine Sättigung ein. Die Iren verkauften sich gegenseitig ihre Häuschen zu immer absurderen Preisen, angefeuert durch historisch tiefe Euro-Zinssätze. Immer schneller drehte sich die Spirale, bis die Musikkapelle verstummte.
Die Banken verwandelten sich in Kasinos
Etwas schuldbewusst kam das Land zum Stillstand. Ja, die Banken hatten sich in Kasinos verwandelt, ja, die Politiker hatten in einer toxischen Mischung aus Inkompetenz und Korruption Gelder ausgegeben, die sich als einmalige Spekulationsprofite entpuppten.
Aber die Grundstruktur der irischen Wirtschaft war auch 2008 noch strapazierfähig. Die "Irland AG" verdiente auch in den schlimmsten Jahren noch Geld, das Land erwirtschaftet den dritthöchsten Exportüberschuss der EU. Der Staat hatte zwar Fett angesetzt, aber im Vergleich zu den Vettern am Mittelmeer war er weder übergewichtig noch überschuldet.
Der Kollaps der Baubranche und der Banken erstickten die einheimische Wirtschaft und belasteten den Steuerzahler. Doch angesichts der Offenheit der irischen Wirtschaft, der Abhängigkeit vom Welthandel also, gab es für Irland wohl keine Alternative zur sogenannten Austerität.
Jetzt wächst die Wirtschaft wieder kräftig
Die berechtigte Wut der Bürger entlud sich in ungemein zivilisierten Bahnen: die Staatspartei, die die bittere Brühe gekocht hatte, wurde lustvoll an der Urne demoliert; an ihrer Stelle wurde eine ideologisch identische Mitte-Partei mit der Verabreichung der ebenso bitteren Medizin betraut.
Der irische Dichter William Butler Yeats schrieb im Gefolge des Ersten Weltkrieges, "the centre cannot hold", die Mitte ist nicht mehr tragfähig. In der jüngsten Krise indessen hat sich die Mitte als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen: Jetzt wächst die Wirtschaft wieder kräftig, erste Steuererleichterungen sind bereits wirksam.
Im Rückblick hätte sich bestimmt vieles besser machen lassen, die Gläubiger der irischen Banken hätten weit mehr Federn lassen sollen. Aber gesamthaft hat der strenge Sparkurs in Irland funktioniert, Kröten sind geschluckt worden, Verantwortung für früheren Leichtsinn wurde übernommen.
Martin Alioth, Jahrgang 1954, ist 1984 aus seinem Geburtsort Basel nach Irland ausgewandert. Dort arbeitet er seither als Korrespondent für Rundfunk und Zeitungen, berichtet auch über das Vereinigte Königreich – u.a. für das Schweizer Radio SRF und die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag.
Vor seiner Auswanderung promovierte er über die Geschichte Straßburgs im Spätmittelalter und beschäftigte sich mit der Basler Stadtgeschichte im Auftrag des Historischen Museums Basel. Er lebt mit seiner Partnerin auf dem Lande, zusammen mit zwei Hunden, zwei Eselinnen und einem Kater.
Martin Alioth
Martin Alioth© Annette Boutellier
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