Ausstellung in Magdeburg

Der "Struwwelpeter" als Politikum

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Das in der DDR erschienene Kinder- und Jugendbuch "So ein Struwwelpeter" von Hansgeorg Stengel.
Das in der DDR erschienene Kinder- und Jugendbuch "So ein Struwwelpeter" von Hansgeorg Stengel ist ein Ausstellungsstück im Kulturhistorischen Museum Magdeburg. © picture alliance / dpa / akg-images
Von Niklas Ottersbach · 27.10.2022
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In Magdeburg zeigt eine "Struwwelpeter"-Ausstellung, wie sich die Auffassung von Erziehung im Laufe der Zeit verändert hat. Wie blicken wir heute auf schwarze Pädagogik? Wie ist der Kinderbuch-Klassiker von Heinrich Hoffmann neu interpretiert worden?
Udo-Frank Kürschner steht vor einer Glasvitrine voller "Struwwelpeter"-Sammelstücke. Eine Krawatte. Ein Schweizer Kaffeesahne-Becher mit "Struwwelpeter"-Motiv. Eine Figur aus Meißner Porzellan mit Struwwelpeter-Haaren und Fingernägeln. Alles Exponate aus seinem privaten Fundus, die im Kulturhistorischen Museum Magdeburg ausgestellt werden. Der 82-jährige Ostfriese sammelt seit mehr als 50 Jahren "Struwwelpeter"-Bücher, -Figuren, -Illustrationen.
Er zeigt auf eine Flasche. "Die ist besonders interessant, die habe ich mir auf dem Jangtse malen lassen, auf einem Dampfer. Die ist von innen gemalt und nicht von außen. Das ist die zweite Ausgabe des 'Struwwelpeters', die Heinrich Hoffmann gemalt hat, die bis zum Boden gehen.“
Heinrich Hoffmann, Frankfurter Arzt und Schöpfer des "Struwwelpeters". 1844 hat er für seinen dreijährigen Sohn ein Weihnachtsgeschenk gesucht und ist selbst kreativ geworden, heraus kam ein Kinderbuchklassiker. „Er ist in vielen Vereinigungen gewesen", erzählt Kürschner, "und dabei hat er einen Verleger getroffen, Rütten und Löning. Und diese beiden Herren, die haben gesagt: Das müssen wir veröffentlichen. Er wollte das am Anfang gar nicht.“
Schon im 19. Jahrhundert hat sich der "Struwwelpeter" international verbreitet. Erst in Dänemark, dann in England, in Brasilien.

Schwarze Pädagogik beim "Daumenlutscher"

Neben den Leihgaben des Sammlers haben zwölf Künstler "Struwwelpeter"-Adaptionen zur Ausstellung beigetragen. Zum Beispiel der Hans-Guck-in-die-Luft, in Magdeburg als Graphic Novel dargestellt, als "Hans-Guck-ins-I-phone". Zu sehen in der Comic-Zeichnung: ein Großstadt-Hipster, der nur Augen für sein Handy hat, erst in Hundekot tritt und dann ins Loch fällt.
Ebenfalls abgewandelt: "Der Daumenlutscher" als Foto-Story, bei dem am Ende die Mutter ihrem Konrad die Daumen abschneidet und es hinterher bereut. Schwarze Pädagogik.
"Es ging mir als Kind so, dass ich es nicht so schlimm fand", sagt die Magdeburger Kuratorin Karin Kanter. "Ich fand es eher befremdlich. Ich dachte: Daumenlutschen war nie mein Problem. Ich habe gedacht: Das ist ja eine komische Strafe."

Helikopter-Eltern und Medienmissbrauch

Der Stoff des "Struwwelpeters" sei immer noch erstaunlich aktuell, meint Kanter. Helikopter-Eltern, Überbetreuung, Lehrer, die sich nichts mehr trauen, und Schüler, die ausrasten: Vieles lasse sich am "Struwwelpeter" erzählen. Und auch im Rückblick erklären: zum Beispiel die unterschiedlichen Varianten in Ost- und Westdeutschland. Der 68-er "Anti-Struwwelpeter" von Friedrich-Karl Waechter etwa, bei dem nicht die Kinder, sondern die Eltern erzogen werden.
In der DDR war Karl Schrader einer der bekanntesten "Struwwelpeter"-Karikaturisten, der zum Beispiel den fernsehverrückten Frank erfunden hat. „Das ist das, was bei Schrader zum ersten Mal auftaucht, also Medienmissbrauch, dass die Kinder zu viel fernsehen. Da dachte ich: Ui, das ist ja bemerkenswert! 1970 nimmt er das als Thema auf. Das fand ich bemerkenswert. Das spielt nämlich bei Waechter keine Rolle.“
Richtig politisch wird der "Struwwelpeter" bei Manfred Bofinger, der lange für die Satirezeitschrift "Eulenspiegel" gearbeitet hat. Der Ost-Berliner Grafiker nahm den Rechtsruck in den 90-ern mit in seine Karikaturen auf. Der Daumenlutscher, der im Braunhemd den Hitlergruß macht. Und zur Strafe wird ihm der ganze Arm abgesägt.
„Bofinger ist natürlich ganz klar politisch", sagt Kuratorin Karin Kanter. "1994 hat er das gemacht, da ist schon die Titelfigur, die schon wie ein kleiner Nazi aussieht.“

Ist der "Struwwelpeter" rassistisch?

Das Erstaunliche am "Struwwelpeter" ist, dass er als Vorlage bis heute aktuell ist: als Mangafigur, in der Graphic Novel. Ja sogar das, man reibt sich die Augen, auch die CDU hat 1989 im Europawahlkampf mit einem "Struwwelpeter"-Motiv geworben. Zu sehen auf dem Wahlplakat ist das brennende Paulinchen und darüber der Spruch "Mit seiner Stimme spielt man nicht".
Neben der schwarzen Pädagogik spielt beim "Struwwelpeter" auch das Thema Rassismus eine Rolle. Die Geschichte vom schwarzen Buben, der von anderen Kindern ausgelacht wird, die dann wiederum ins Tintenfass gesteckt werden. Auch hier wieder die Bestrafung, in dem Fall für Intoleranz.
"Das sagt mir, dass es so in der Form wahrscheinlich nicht weiter gepflegt werden kann", meint Karin Kanter. "Dass man mit Strafe wahrscheinlich kein anderes Denken hervorbringt. Das muss man anders machen."

Workshops für Schülerinnen und Schüler

So ein bisschen Disziplin, das täte der Jugend von heute aber durchaus ganz gut, sagt "Struwwelpeter"-Sammler Udo-Frank Kürschner. "Und ich finde, manche Kinder sollten sich das mal zu Herzen nehmen. Sich ihren Eltern gegenüber mal zu benehmen. Ich merke das ja teilweise ringsherum bei mir in der Familie. Dass man Kindern mal was sagt, dies nicht zu machen, jenes nicht zu machen. Stillsitzen am Tisch gibt es ja heute nicht mehr."
Wie drakonisch soll Erziehung sein? Das Kulturhistorische Museum Magdeburg liefert künstlerische Zeitdokumente, die etwas über die Vergangenheit erzählen. Das Bedürfnis, Strafe als Erziehungsmaßnahme aufzuzeigen, scheint gerade unter Lehrern durchaus Gefallen zu finden. Die museumspädagogischen Workshops für Schülerinnen und Schüler sind im Museum nämlich schon fast ausgebucht.
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