Leben im Studentenwohnheim

Das Gegenteil von Social Media

Flur in einem Wohnheim
Flurgemeinschaften im Wohnheim wünschen sich immer weniger Studierende. © imago images/Gudella
Ein Kommentar von Leon Igel · 23.03.2022
Eine Bleibe zu finden ist schwer, auch für Studierende. Eine günstige Möglichkeit sind Studentenwohnheime. Aber kaum jemand möchte noch in Gemeinschaft leben. Dabei sei das die beste Therapie gegen Vereinzelung und Filterblasen, meint der Student Leon Igel.
Zugegeben: Das Leben im Studentenwohnheim hat manchmal etwas von einem absurden Film. Ich erinnere mich an den Abend, als Obdachlose in der Gemeinschaftsküche saßen und ungefragt meinen Käse verspeisten. Oder den Studenten, der regelmäßig seine Fäkalien aus dem Fenster warf. Die ersten Tage im Studentenwohnheim waren schwer: Bafög-Empfänger und eine ranzige Zehner-WG im Wohnheim, ich fühlte mich wie einer von ganz unten. Trotzdem bin ich geblieben – fünf Jahre lang. Und das lag nicht am Mangel an Alternativen, sondern weil ich nicht mehr gehen wollte.

Flurgemeinschaft schult soziale Kompetenz

So eine zehnköpfige Flurgemeinschaft im Wohnheim ist unterm Strich eine große Bereicherung. Ich habe mich zum Problemlösungsmeister entwickelt. Sozialkompetenz, interkulturelle Fähigkeiten oder Verhandlungsgeschick: Wofür Manager teure Seminare buchen, das gibt es im Wohnheim in der Warmmiete inklusive. Studierende mit den unterschiedlichsten Hintergründen und aus allen Ecken der Welt kommen hier zusammen. Da knarzt es, bis sich die Balken biegen, aber man rauft sich zusammen. Muss man ja. Und der Kraftaufwand wird belohnt.
Ich kenne jetzt syrische Tänze, brasilianische Speisen oder moldawische Geschichten. Nebenbei habe ich das friedensstiftende Potenzial des gemeinsamen Küchentisches schätzen gelernt: Etwa, wenn der eine Mitbewohner linksextreme Positionen vertritt und der andere konservative. Wenn homophobes Gehabe den schwulen Mitbewohner provoziert oder wenn pro-chinesische Äußerungen die Mitbewohnerin aus Taiwan verängstigen.

Leben außerhalb von Filterblasen  

Ein Leben im Studentenwohnheim ist das Gegenteil von Social Media. Das gemeinsame Essen fördert den Dialog statt die Bildung von Filterblasen. Die Vereinzelung und Abspaltung in identifikatorische Meinungsgruppen sind der Kummer unserer Zeit, das Leben im Wohnheim ist für Studierende die beste Therapie dagegen.
Es gibt aber einen Haken: Auf die Flurgemeinschaft haben die meisten keine Lust mehr. Die Studierendenwerke bauen daher aktuell vor allem Einzelappartements und kleinere WGs. Stehen Renovierungen an, versuchen sie, die alten Flurgemeinschaften aufzulösen.

Gemeinsames Wohnen ein Auslaufmodell 

Schon jetzt ist in den Wohnheimen der Studierendenwerke jeder dritte Wohnplatz ein Einzelappartement. Bei einer Wohnumfrage des Studierendenwerks Mannheim gab jeder fünfte an, in einer Zweier-WG leben zu wollen, jeder zweite wünschte sich ein eigenes Appartement.
Statt studentischer Gemeinschaft der Rückzug ins Private: In einer Universitätslandschaft, die sich seit Bologna immer mehr verschult, ist das ein nachvollziehbarer Wunsch. Wer permanent pauken muss, hat weniger Lust, sich mit vielen Mitbewohnern auseinanderzusetzen. Alles soll effizient sein, der messbare Erfolg steht im Mittelpunkt, und ein ruhiger Schlaf wirkt sich ohne Frage positiv auf den Klausurerfolg aus. Die Gemeinschaftsküche bringt dem 1.0-Abschluss hingegen nichts.

Studieren dient auch der Persönlichkeitsentwicklung 

Studieren ist aber mehr, als nur gute Noten schreiben. Vielmehr geht es auch darum, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Die fortschreitende Ökonomisierung des Bildungsgedankens hat erst die Universitäten zunehmend verschult und jetzt wird auch das Gemeinschaftsleben in den Wohnheimen geopfert. Das sollte zum Nachdenken anregen.
Wenn Studierende büffeln, bis die Festplatte glüht, und sich dann im Einzelappartement zum Runterfahren einschließen, dann wird das Studium zwar so richtig effizient, es fördert aber die soziale und intellektuelle Isolierung. Solange es die Flurgemeinschaft im Studentenwohnheim noch gibt, wirkt sie dem entgegen: als Rezept gegen die soziale Vereinzelung und für einen vielseitigen Kopf. Nebenbei ist die Miete sogar unschlagbar günstig. Wie anachronistisch!

Leon Igel, Jahrgang 1995, stammt aus einem Dorf bei Fulda. Er studiert Germanistik und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und schreibt neben dem Studium als freiberuflicher Journalist, unter anderem für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

Porträtaufnahme von Leon Igel
© Anna Logue
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