Chinas akademisches Proletariat
Jahr für Jahr müssen rund sieben Millionen Hochschulabgänger in den chinesischen Arbeitsmarkt integriert werden. Keine leichte Aufgabe – denn die Jobs für Hochschulabsolventen werden rar. Trotzdem strömen weiter Millionen junger Chinesen an die Unis.
Ein Vorort weit im Norden Pekings. Abseits der neuen Hochhaus-Anlagen reihen sich mehrstöckige, heruntergekommene Wohnblocks aneinander. Von den Luxusgeschäften und großen Einkaufszentren des Zentrums ist hier draußen nichts zu sehen. Das Viertel heißt im Volksmund Xueshengcun – das Dorf der Studenten. Denn in den grauen Häusern leben nicht nur viele Wanderarbeiter aus den Provinzen, sondern vor allem viele Hochschulabgänger. Auf der Suche nach Glück und Wohlstand in der Hauptstadt.
In Xueshengcun sind sie davon noch sehr weit entfernt. Die Gassen sind eng, Straßenhändler verkaufen gebratene Nudeln oder gefüllte Pfannkuchen. Es riecht nach Müll und beengten Wohnverhältnissen. In den Wohnblocks gehen von langen dunklen Fluren winzige Zimmer ab. Manchmal teilen sich drei oder vier Leute einen Raum, andere wohnen alleine.
"Ich habe nie gedacht, dass ich mal so ein Zimmer mieten würde. Peking ist ein Ort des Drucks und der Konkurrenz. Aber man muss einfach weitermachen. Nur weiß ich eigentlich gar nicht mehr, was ich will."
Die erste in der Familie, die studiert hat
Sun Xiu ist 24 Jahre alt. Die junge Frau mit dem offenen, freundlichen Gesicht, lebt in einem fensterlosen Zimmer hinter einer mehrfach gesicherten Tür aus Holz und Draht. Ein Bett, ein kleiner Tisch, ein bisschen Wäsche auf einer Leine. Und eine Menge geplatzter Träume im Kopf. Denn Sun hatte sich das Leben in Peking anders vorgestellt. Sie ist die erste in ihrer Familie, die studiert hat. Ihre Eltern sind Bauern und Fabrikarbeiter in Pekings Nachbarprovinz Hebei. Doch ihr Bachelor-Abschluss in Bau-Buchhaltung ist nichts Wert. Jetzt arbeitet Sun an der Rezeption eines Fortbildungszentrums – für umgerechnet 300 Euro im Monat. In Peking reicht das kaum zum Überleben. Selbst ungelernte Wanderarbeiter verdienen auf den Großbaustellen der Stadt deutlich mehr.
"Natürlich ist es enttäuschend. Ich habe schließlich studiert – und nichts davon kann man gebrauchen. Mit meinem Abschluss einen Job zu finden ist schwierig. Man arbeitet damit in der Baubranche – aber dort wollen sie keine Frauen."
Und keine Hochschulabgänger von drittklassigen Provinz-Universitäten ohne Berufserfahrung. Denn das, was Sun Xiu derzeit in Peking erfährt, erleben Millionen andere junge Chinesen auch. Jahrelang haben sie sich durch Chinas hartes Schulsystem gepaukt, schließlich einen Studienplatz ergattert und vier Jahre lang weiter gelernt – nur um jetzt mit leeren Händen da zustehen.
Chinas Hochschulen wurden in den letzten Jahren massiv ausgebaut. Kurz vor der Jahrtausendwende begannen jedes Jahr rund zwei Millionen junge Chinesen ein Studium. Heute sind es mehr als dreimal so viele. Gleichzeitig blieben die Inhalte häufig auf der Strecke: In der Planwirtschaft planten die Hochschulen an der Realität vorbei.
"Die Hochschulen haben wie blind Studiengänge in Wirtschaft, Management, Handel, Jura und so weiter eingerichtet. Sie haben nicht richtig geplant und nicht vorhergesehen, was eigentlich gebraucht wird und danach die Studiengänge eingerichtet."
Mehr noch: Die Wissensvermittlung bleibt häufig sehr theoretisch – und hat mit der Arbeitswelt so gut wie nichts zu tun.
Er findet einfach keinen Job
Eine Erfahrung, die auch Wang Zhenyu machen musste. Der 25-Jährige hat einen Abschluss in Computertechnologie. Eigentlich eine von Chinas Zukunftsbranchen. Einen Job kann Wang dennoch nicht finden.
Auch Wang Zhenyu lebt in Xueshengcun – in dem Dorf für Hochschulabgänger. Für sein fensterloses 12-Quadratmeter-Zimmer zahlt er jeden Monat 70 Euro. Hunderte von Bewerbungen hat er bereits verschickt:
"Ich habe meinen Lebenslauf und meine Bewerbung über online-Job-Seiten verschickt. Ich habe alle diese Webseiten ausprobiert, ich war bei unzähligen Jobbörsen. Aber als Hochschulabgänger ohne Erfahrung ist es derzeit total schwer, Arbeit zu finden."
Seit mehr als einem Jahr ist Wang bereits arbeitslos. Seine Mutter, die in einer Kleinstadt in der ostchinesischen Provinz Shandong lebt, unterstützt ihn finanziell, während er versucht, sich in Peking eine eigene Existenz aufzubauen. Umfragen zeigen: über ein Drittel aller Hochschulabgänger sind finanziell noch von den Eltern anhängig. Um seine Aussichten zu verbessern, hat Wang einen Kredit aufgenommen und lernt erst jetzt zu programmieren. Denn an seiner Uni in der Küstenstadt Yantei wurden die aktuellen Programmiersprachen gar nicht angeboten
"Einige der Fächer hätten nie eingerichtet werden dürfen, da die Unis gar nicht die richtigen Lehrer und die Ausrüstung haben. Man hat den Eindruck, es geht nur um das Business und das Geld. Die Schule richtet einfach ein paar Kurse ein, weil sie beliebt sind, aber ohne kompetente Lehrer einzustellen."
Die Qualität vieler Hochschulen – gerade in den Provinzen – lässt in der Tat zu wünschen übrig. Die Uni zu wechseln - oder gar das Studienfach - ist im rigiden chinesischen System schwer. Auch die Wahl des Studienfachs ist oft eher zufällig – sie hängt vor allem von der Punktzahl im zentralen Abitur ab, dem Gaokao.. Aber das sind nicht die einzigen Probleme. Viel schwerer wiegt, dass im modernen China heute jeder einen Büro- und Schreibtischjob will. Technische oder handwerkliche Arbeit, Arbeit im Freien oder gar in der Landwirtschaft ist verpönt. Professor Shi Wei macht dafür tief sitzende kulturelle Orientierungen verantwortlich:
"Konfuzius hat gesagt, die, die mit dem Kopf arbeiten, werden herrschen, und die, die mit den Händen arbeiten werden die Untertanen sein. Die meisten Eltern wünschen sich für ihr Kind eine erfolgreiche und leuchtende Zukunft. Nach dem Studium muss das Kind wenigstens einen Job als Angestellter finden – als Kopfarbeiter wie Konfuzius sagt. Handwerkliche Arbeit können viele nicht akzeptieren."
Das zeigt sich auch auf dieser Jobbörse am Arbeiterstadion im Pekinger Zentrum. Unternehmer und Arbeitsvermittler haben in den Hallen ihre Stände aufgebaut, in den Gängen drängen sich hunderte junge Leute und studieren die Angebote auf den Tafeln und Postern.
Für Uni-Absolventen ist nicht viel dabei. Jobs als Köche werden angeboten, als Kellner, als Verkäufer und Kundenberater oder als Wachmann. Chinesische Stellenausschreibungen sind sehr direkt – und wären in vielen anderen Ländern nicht erlaubt: Oft werden Mindestgrößen vorgegeben – wer als Kellnerin anfangen will muss mindestens 1 Meter 60 groß sein. Männer fünf Zentimeter größer. Eine große Immobilienverwaltungsfirma sucht dutzende von Leuten – vor allem Köche und Service-Personal. Doch an ihrem Stand ist Personalberaterin Wu Jing meist allein:
Graduierte landen an der Rezeption
"Wir brauchen mehr Leute, da wir demnächst ein neues Bürohaus eröffnen. Wir suchen Leute mit Erfahrung, das ist beim Anlernen einfacher. Graduierte können bei uns zunächst nur an der Rezeption arbeiten oder in der Kundenbetreuung. Jobs in Restaurants oder Hotels lehnen viele sowieso ab. Da gibt es viele Missverständnisse. Aus meiner Sicht gibt es keine Unterschiede, aber in China denken viele, solche Jobs wären minderwertig."
Dabei sind die Gehälter die Frau Wu jungen Köchen mit ein paar Jahren Erfahrung anbietet deutlich höher als die für junge Graduierte. Das Einstiegsgehalt für Hochschulabgänger liegt um die 2500 Yuan im Monat, umgerechnet 300 Euro. Davon könne man nicht leben, sagt der junge Ma Ling, der in diesem Sommer sein Studium abgeschlossen hat und auf der Börse am Arbeiterstadion einen Job sucht:
"Man braucht mindestens 600 Euro im Monat. In Peking musst du ja deine Miete zahlen, Essen, den Transport. Du musst ein bisschen Geld für den Notfall sparen können."
Ma hat in der Stadt Shijiazhuang in Hebei Außenhandel studiert und ist nach Peking gekommen, um Arbeit zu suchen. Er gehört zu jenen, die nicht allzu wählerisch sind. Dass er vermutlich nur einen Job als Verkäufer bekommen kann, stört ihn nicht. Er ist trotzdem voller Tatendrang.