Studentengemeinden in der DDR

Orte der Freiheit

Die überfüllte Ostberliner Gethsemane-Kirche: Hier trafen sich am 5. Februar 1988 zahlreiche Menschen nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers und DDR-Dissidenten Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst
Die überfüllte Ostberliner Gethsemane-Kirche: Hier trafen sich am 5. Februar 1988 zahlreiche Menschen nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers und DDR-Dissidenten Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst © picture alliance / dpa
Von Gunnar Lammert-Türk |
Die evangelischen und katholischen Studentengemeinden in der DDR waren Orte des offenen Diskurses, in denen abseits der offiziellen Ideologie um Wahrheit und Erkenntnis gerungen wurde. Eine Hommage an diese besonderen Räume.
"Ich hatte ja ein kleines Studentenzimmer in der Tucholskystraße und die Studentengemeinde, da war jeden Abend was los. Wir haben uns dort getroffen, haben gesprochen, haben Veranstaltungen geplant, haben zusammen gesungen, Gitarre gespielt, auf der Straße getanzt. Also ich hab da quasi gelebt in der ESG."
Für Sibylle Sterzik, die ab 1982 an der Humboldt-Universität in Berlin Theologie studierte, war die evangelische Studentengemeinde, kurz ESG, in der Invalidenstraße eine Art Heimat. Sie half der aus Cottbus gekommenen jungen Frau, in der Stadt Fuß zu fassen. Überall in der DDR, wo Studienstätten existierten, gab es Studentengemeinden, evangelische und katholische, nicht nur an den großen Standorten Berlin, Leipzig, Dresden, Rostock, auch an kleineren wie Ilmenau, Güstrow und Merseburg. Es waren gesellige Orte, aber auch solche der intellektuellen Auseinandersetzung. Und nicht nur mit seinesgleichen, wie der Religionsphilosoph Thomas Brose, Jahrgang 1962, in Erinnerung hat:
"In den Studentengemeinden gab es immer auch Leute, die nicht Christen waren, die zum Beispiel Philosophie studiert haben. In Berlin hatte ich einen Philosophiekreis so seit Mitte der 80er-Jahre. Und das war eine bunte Mischung von Glaubenden, Nichtglaubenden, evangelisch, katholisch, und da kam eigentlich auch alles auf den Tisch, was man anderswo nicht so frei diskutieren konnte."
Ringen um Wahrheit und Erkenntnis
In Thomas Broses Philosophiekreis in der katholischen Studentengemeinde in Ost-Berlin und in den anderen Studentengemeinden rangen Christen und Nichtchristen abseits der offiziellen Ideologie um Wahrheit und Erkenntnis. Sie lernten, dass Worte wie Recht und Frieden, Freiheit und Demokratie noch eine andere Bedeutung haben konnten als in der Propaganda der DDR. Und sie tauschten sich über ihre alltäglichen Nöte im Umgang mit dem Staat aus. Neben der gemeinsamen Lektüre und Diskussion von philosophischen und theologischen Texten und solcher vieler anderer Wissensgebiete luden sie sich Referenten ein, regimekritische Schriftsteller und Wissenschaftler aus der DDR und solche aus Westdeutschland, darunter einige Christen.
"Da gab es dann eben Physiker, die bekannt haben, dass sie eben Christen sind, und wo man gesagt hat, ja, das sind Menschen, zu denen hab ich Vertrauen und hier passiert auch etwas schöpferisch, also auch wenn wir eine Minderheit sind, dann steh ich gerne auf dieser Seite, bin ich gerne bei dieser Minderheit dabei und ich muss nicht bei denen sein, die sozusagen die Masse ausmachen. Da gab es eine Weitung des Horizonts und das hat einem geholfen, auch in diesem manchmal sehr engen Land dann auch zu leben und auch freier atmen zu können."
Die Begegnung mit gestandenen christlichen Intellektuellen entschädigte für manche Demütigung als abergläubischer Hinterwäldler und unwissenschaftlicher Reaktionär, wie Christen von manchen in der DDR gern genannt wurden. Durch diesen Austausch ermuntert, ließen sich die Studentengemeinden auch von Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit nicht einschüchtern. Mehr und mehr diskutierten sie politische Veränderungen und überlegten, welchen Beitrag die Christen dafür leisten könnten.
Christlicher Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft
Manche Besucher der Studentengemeinden gehörten Ende der 80er-Jahre zu denen, die den friedlichen Umsturz in der DDR mit vorantrieben. Sie übernahmen später auch politische Ämter. Wolfgang Thierse und Wolfgang Tiefensee gehörten dazu, auch Dietmar Woidtke, der Ministerpräsident des Landes Brandenburg.
"Ich hab mit ihm telefoniert, nachdem er Ministerpräsident wurde und er hat gesagt, Sibylle, Du weißt ganz genau, in der kirchlichen Jugendarbeit, vor allen Dingen auch in der Studentengemeinde bin ich auf diese Art, sich für die Demokratie, für die Freiheit, für die Menschenwürde aller Bürger einzusetzen und dafür auch einzustehen mit der Verantwortung eines Amtes, die Wurzeln sind in der Studentengemeinde gelegt worden."
Heute können die Studentengemeinden unbehindert an den Studienstätten des Landes auf sich aufmerksam machen, anders als zur DDR-Zeit, als sie 1953 unter dem konstruierten Vorwurf, sie seien Tarnorganisationen westlicher Geheimdienste, von dort vertrieben wurden. Nach wie vor geht es ihnen um den christlichen Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft.
Aktuell zeigt sich das an ihrem Engagement für schutzbedürftige Flüchtlinge. So hat die katholische Studentengemeinde von Berlin, in der Thomas Brose seinen Philosophiekreis unterhielt, bereits Flüchtlingen Kirchenasyl gewährt. Und die evangelische, in der Sibylle Sterzik ein und aus ging, hat über mehrere Wochen Flüchtlinge bei sich aufgenommen und organisiert weiterhin Sprachkurse für sie.
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