Thomas Schmidt: "Macht und Struktur im Theater: Asymmetrien der Macht"
Springer VS, 2019
464 Seiten, 49,99 Euro
Ein System aus Unterdrückung und emotionaler Erstarrung
09:13 Minuten
Theater sind offenbar für viele als Arbeitsort die Hölle. Das geht aus einer neuen Studie hervor: Miese Bezahlung und psychischer Missbrauch führen zu hohem Leidensdruck. Die Grundstruktur des Theatersystem sei Schuld daran, sagt Dramatikerin Darja Stocker.
Es kommt selten vor, dass sich die Theaterwelt von einer wissenschaftlichen Studie aufrütteln lässt – aber diese hat es in sich. "Macht und Struktur im Theater" heißt sie, verfasst von dem Frankfurter Theatermanagement-Professor Thomas Schmidt. Darin befragt Schmidt erstmals fast 2000 Beschäftigte nach ihren Arbeitswirklichkeiten am Theater. Die Ergebnisse sind verheerend: 57 Prozent der Befragten geben an, nicht oder kaum von ihrer Arbeit am Theater leben zu können, 42 Prozent sagen, dass sie unter psychischem Missbrauch leiden und 9,4 Prozent behaupten, dass sie von sexuellen Übergriffen betroffen gewesen seien.
Unterdrückung behindert die Kreativität
Nicht überrascht von diesen Zahlen ist auch die Dramatikerin Darja Stocker. Sie hat vor zwei Jahren in einem kontrovers diskutierten Artikel Machtmissbrauchsfälle am Institut für Szenisches Schreiben der Berliner Universität der Künste (UdK) angeklagt – und damit auch an den Theatern eine Debatte ausgelöst. Über die Bedeutung der Studie sagt Stocker: "Auf jeden Fall ist so eine Studie extrem wichtig, um einfach immer wieder auf die Fakten zu verweisen. Diese Studie scheint mir schon eher in die Tiefe zu gehen, also da wurden ja Interviews geführt und es geht auch um psychischen Missbrauch – und der gehört ja dazu!" Denn es gehe ja nicht nur um den juristischen Grenzübertritt oder um die sexuelle Straftat, sondern auch um ein System – "und das System beinhaltet eben Mechanismen, die unterdrücken, die entwerten und die die Leute daher in ihrer Arbeit hindern, in ihrer Kreation".
Die Beschaffenheit des Theatersystems an sich ist für Stocker auch einer der Gründe, weshalb sich – wie die Zahlen der Studie nahelegen – trotz inzwischen jahrelanger Debatten um #MeToo und andere Missbrauchsfälle anscheinend kaum etwas geändert hat. "Traurigerweise ist es halt so, dass solche Systeme extrem starr sind. Man könnte sogar sagen, sie stagnieren. Weil nämlich über Jahre Leute darin bestehen konnten, die genau das gemacht haben: Die zum Beispiel körperlich oder seelisch oder emotional erstarrt sind, wenn es um Übergriffe ging. Das heißt im Grunde, dass das ein dysfunktionales System war - ein patriarchales, dysfunktionales System -, das von einer gewissen Masse von Leuten getragen wurde."
Neues Vokabular gebraucht
Besonders problematisch findet Stocker, dass die Mehrheit der am Theater Beschäftigten über solche Vorgänge noch immer schweige, ob aus Angst oder schlechtem Gewissen. Wichtig findet sie deshalb, dass eine Sprache gefunden wird, um diese Vorfälle beschreibbar zu machen: "Ich glaube, es braucht ein Vokabular, um Machtmissbrauch zu beschreiben: Was ist das genau? Was heißt das? Was ist verbale Gewalt? Was ist psychische Gewalt? Und das scheint mir noch nicht so weit ausgebildet."
Viele verwechselten zum Beispiel Sexismus und sexuelle Übergriffe. "Sexuelle Übergriffe finden natürlich in einem sexistischen System statt, ja, aber trotzdem ist Sexismus vom Begriff her etwas Anderes als ein sexueller Übergriff. Mir scheint da wirklich Handlungsbedarf, dass eine breite Masse weiß: Wovon reden wir? Welche Begriffe benutzen wir? Was ist mir da gerade passiert, oder was habe ich da gerade beobachtet?"
Rollenstereotypen auflösen
Darja Stockers eigenes neues Stück, "100 Jahre Weinen oder 100 Bomben werfen", das am 18. Oktober am Theater Basel Premiere hat, thematisiert ebenfalls ein rigides, auf starren Machtstrukturen basierendes System. Es geht um einen jungen Schweizer, der sich der Fremdenlegion anschließt und so in den Algerienkrieg gerät. Frage: Was kann man auch im kleinen Einflussbereich einer Autorin tun, um die Strukturen am Theater zu verändern? Stockers Antwort: "Man kann zum Beispiel versuchen, Rollen zu schreiben, die diesem System weniger entsprechen, indem sie, ich sage jetzt mal, queer sind im weiteren Begriff. Grenzen überschreiten, indem sie ihre Rollenstereotype verlassen und dadurch sich in einen Risikobereich begeben und zum Beispiel beschreiben, wie sie dann in diesem Risikobereich zurechtkommen. Das Zweite, was man machen kann: Man kann natürlich Machtmechanismen am Theater ausstellen."
Man könne zum Beispiel sagen: "Okay, man hat einerseits diese großen Sprachteppiche, die den Kapitalismus kritisieren. Aber man kann auch sagen: Nee, ich gucke nochmal ganz genau hin, weil ich anscheinend in einem Theatersystem bin, wo ganz viele kleine Sachen noch überhaupt nicht sichtbar geworden sind."